Kann Leonore Gewessler die Grünen aus ihrem Tief holen?
Von Iris Bonavida und Max Miller
Schriftgröße
Montag, kurz nach 12 Uhr, grüner Parlamentsklub in der Wiener Löwelstraße, noch sechs Tage bis zur vielleicht wichtigsten Rede in Leonore Gewesslers Karriere. „Der Text ist noch nicht fertig, falls Sie das fragen wollten!“, sagt sie zu profil. Bis Mitte der Woche, hat sie sich vorgenommen, soll das Skriptum stehen. Gewessler schreibt es nicht allein, das ist in der Politik durchaus üblich, sondern holt mehrere Einschätzungen ein. „Kritisches Feedback macht es ja im Normalfall besser.“ Immerhin spricht die 47-Jährige nicht als Ministerin bei einer Pressekonferenz, auch nicht als Abgeordnete im Parlament, sondern als Grünen-Chefin in spe vor ihren Parteimitgliedern. 265 Delegierte stimmen am Sonntag in der Messe Wien über ihre neue Spitze ab. „Völlig klar, diese Rede ist ein anderes Kaliber. Das wird sicher ein spezieller Moment.“
Sicher ist, eine typische Werner-Kogler-Rede wird es nicht: immer zu lange, großteils spontan, meistens mit einigen Lachern dazwischen. Bisher weiß aber noch niemand so recht, was eine typische Gewessler-Rede sein könnte. Die breite Öffentlichkeit kennt sie als überlegte Klimaschutzministerin in der türkis-grünen Regierung, die Parteibasis feierte sie bisher wegen ihrer Gesetzesbeschlüsse, nicht aufgrund mitreißender Auftritte.
Leonore Gewessler ist nicht unnahbar, auch nicht prätentiös. Sie ist vorsichtig, überlegt. Eine Eva Glawischnig wuchs in die Rolle der kontrollierten Parteichefin hinein, Werner Kogler tat es nie, die Öffentlichkeit gesteht vermutlich einem Mann auch mehr Ecken und Kanten zu. Leonore Gewessler ist nicht nur von ihrer Persönlichkeit her eine Anti-Kogler. Hier der Bauchmensch, der sich in seinen Reden in Schachtelsätzen verliert und es dann doch irgendwie schafft, das Publikum bei Laune zu halten. Der Ideologe, der im Hintergrund Kompromisse ausverhandelt. Da die abwägende Kommunikatorin, die sich im Zweifel lieber an vorbereitete Botschaften hält. Die Sachpolitikerin, die ohne Rücksicht auf Verluste ihre politischen Entscheidungen durchzieht.
Die Bedingungen sind schwierig: Die Grünen sitzen nur noch im Burgenland in der Landesregierung. Im Bund verhandelte die ÖVP lieber mit FPÖ-Chef Herbert Kickl, als es noch einmal mit den Grünen in einer Dreierkoalition zu versuchen. Ausgerechnet mit Leonore Gewessler wollte die Volkspartei nicht mehr regieren. Bei Wahlen schwächelten die Grünen selbst bei Frauen und Jungen, die eigentlich zur Zielgruppe gehören. Nicht einmal in Hochwasser-gebieten konnte die selbst ernannte Klimaschutzpartei bei der Nationalratswahl punkten.
Kann Leonore Gewessler die Grünen aus dem Tief in eine Regierung führen?
Bei der SPÖ hinterließ der Wechsel an der Spitze Risse, die ÖVP musste überhastet einen neuen Bundesparteiobmann finden. Werner Koglers Rückzug war lange vorangekündigt und vollzog sich Schritt für Schritt – für manche in der Partei sogar etwas zu langsam. So blieb Gewessler aber immerhin genug Zeit für ihre Entscheidung und Vorbereitung.
Wann genau Gewessler beschloss, für die Parteispitze kandidieren zu wollen, kann sie gar nicht genau benennen. Ein Zeichen dafür, dass die ersten Gedankenspiele schon lange her sind. Immerhin war es im vergangenen Oktober, als Kogler seinen Abschied erstmals öffentlich ansprach.
Gesprächstour
Entscheidend für ihre Zusage war wohl ein Gespräch mit Ex-Justizministerin Alma Zadić: wie Gewessler in der türkis-grünen Regierung, wie Gewessler eine Option für die Parteispitze. Die beiden trafen sich zu einem Spaziergang, irgendwo zwischen Mariahilfer Straße und 1. Bezirk sicherte Zadić ihrer Kollegin volle Solidarität und Unterstützung zu.
Welche der beiden Frauen Kogler nachfolgen würde, hatte sich schon vor einem Jahr abgezeichnet. Im Juni 2024 stimmte Gewessler, damals noch Klimaministerin, auf EU-Ebene für das Renaturierungsgesetz – und damit gegen die ÖVP. Ihr „Ja“ stürzte Türkis-Grün in eine Regierungskrise, doch die eigenen Reihen jubelten über die lange geplante Überzeugungstat: Beim grünen Bundeskongress kurz nach der Abstimmung gebührte der lauteste und längste Applaus nicht Werner Kogler, den die Partei an diesem Tag als Spitzenkandidat für die Nationalratswahl bestätigte, sondern seiner Listenzweiten Gewessler.
Anfang April 2025, eine Woche bevor sie ihre Kandidatur als Parteichefin offiziell verkündet, steht Gewessler bei der Straßenbahnstation am Wiener Elterleinplatz. Sie plaudert mit den Hernalser Bezirksgrünen, lobt das Team im Grünen-Klub, bedankt sich für den Kaffee, der sie etwas aufwärmen soll, bietet den Passanten Flyer an. Gewessler wirbt für ihre Partei bei der Wien-Wahl und indirekt auch schon für ihre Person bei der Grünen-Vorsitz-Wahl. In den Wochen darauf wird sie ihre Tour offiziell beginnen: „Auf ein Bier mit Leonore“. Medien sind zu den Gesprächen im Wirtshaus nicht zugelassen, Interessierte sollen fernab der Öffentlichkeit plaudern können.
Eigentlich hätte das Mitte Juni auch im „neunerhaus Café“ so sein sollen. Gewessler ist hier nicht, um Werbung zu machen, sondern sucht nach Inhalten für sich und ihre Partei. Im engen Zeitplan der künftigen Grünen-Chefin war dies aber einer der wenigen Termine, bei denen profil dabei sein konnte. In Zeiten der Opposition hat Gewessler, vor ihrer Zeit in der Politik Geschäftsführerin von Global 2000, die Freiwilligen-Agenden in ihrer Partei übernommen. Und dazu zählen neben Klima-NGOs eben auch Wohnungslosen-Initiativen wie das „neunerhaus“.
Anders als ihr Vorgänger Werner Kogler, der sich auch mal in der Schönheit seiner eigenen Gedanken verlieren konnte, scheint die künftige Grünen-Chefin auch im persönlichen Umgang stets auf der Suche nach dem Ziel zu sein. Kaum hat sie Platz genommen, beugt sie sich vor, stützt ihr Kinn auf ihre Hand und sucht den Augenkontakt mit neunerhaus-Café-Leiterin Laura Wahlhütter, die das hier gelebte Konzept detailliert erklärt: Montag bis Freitag von 10 bis 15 Uhr gibt es hier einen Ort der Begegnung für alle und einen Rückzugsort für wohnungslose Menschen. Gewessler hört zu, stellt einige organisatorische Nachfragen und findet viel Lob: „Es ist schön, wenn man jemanden trifft, der die innere Überzeugung so ausstrahlt.“
Und dann haben wir ein bisschen zu wenig zugehört, ob die Menschen noch auf unserer Seite sind.
Leonore Gewessler
Und dann stellt Gewessler eine Frage, die sie später auch den Freiwilligen in der Küche, den Baristas hinter dem Tresen und einem armutsbetroffenen Mann stellen wird: „Was braucht ihr von uns politisch?“
Fehlersuche
Die Antwort ist für Gewesslers Erfolg an der grünen Spitze essenziell. Sie muss die Erfolge der grünen Regierungszeit feiern, gleichzeitig aber Wahlniederlagen eingestehen und ihre Gründe benennen. „Wir haben in den letzten fünf Jahren alle gemeinsam hart daran gearbeitet, wichtige Themen voranzubringen, damit sie das Leben der Menschen ganz konkret verbessern“, sagt sie zu profil. „Umso fataler ist es, dass viele dieser Errungenschaften von der aktuellen Regierung wieder zurückgedreht werden. Aber klar: Wir haben auch Wahlen verloren. Das heißt, wir haben auch Fehler gemacht – und das nehmen wir ernst.“
Leonore Gewessler und ihre (künftigen) Vize im Klub
Alma Zadić ist Vize-Klubchefin, Werner Kogler soll ebenfalls für diese Funktion kandidieren. Leonore ist nicht nur als Partei-, sondern auch als Klubchefin vorgesehen.
Genau benennen will Gewessler die grünen Fehler erst auf mehrfache Nachfrage: „Es ist uns nicht so gut gelungen, dass die günstigen Preise bei Erneuerbaren Energien tatsächlich auf der Rechnung der Menschen ankommen. Und manchmal waren wir vielleicht zu sehr darauf fokussiert, dass wir eh wissen, was g’scheit ist, und wir eh wissen, was getan werden muss. Und dann haben wir ein bisschen zu wenig zugehört, ob die Menschen noch auf unserer Seite sind.“
Also hört Gewessler im „neunerhaus Café“ weiter zu. Gabi war in der IT-Branche tätig, mittlerweile ist sie pensioniert und kocht als Freiwillige. Warum sie hier mithilft und was es bräuchte, damit sich mehr Menschen engagieren, will Gewessler wissen. „Ich bin da wegen dem Kochen“, antwortet Gabi und bringt damit die stets am Ziel orientierte künftige Grünen-Chefin kurz aus dem Konzept. Aber nur ganz kurz. Eine Frage hat Gabi dann auch an die Ex-Ministerin, die derzeit dem Rückbau ihrer grünen Leuchtturmprojekte zuschauen muss: „Was tut man, damit man nicht ständig enttäuscht ist?“ Das bringt Gewessler nicht aus dem Konzept. „Ich wusste immer, dass die Welt nur besser wird, wenn man anpackt“, sagt die designierte Grünen-Chefin. Natürlich habe sie auch viel Unterstützung, man dürfe aber auch „nicht auf die Dinge vergessen, die funktionieren“ – etwa das Klimaticket. Und: „Für Pessimismus ist es zu spät.“
Zu spät ist es auch, um ein Mittagessen im „Café neunerhaus“ zu genießen. Der nächste Termin ruft: Sitzung im grünen Klub, den Gewessler bald leiten wird. Übrigens mit Unterstützung: Werner Kogler verlässt die Parteispitze, aber nicht die Partei, ja nicht einmal das Parlament. „Ich wünsche mir, dass er in der Klubleitung bleibt“, sagt Gewessler. „Ich werde als Klubobfrau kandidieren, er als mein Stellvertreter.“
Fraglich ist, ob sie als Grünen-Chefin jemals wieder in die Nähe ihres alten Traumjobs in der Regierung kommen wird. Denn anders als Kogler verbindet Gewessler nicht über die Parteigrenzen, im Gegenteil: Auch in der SPÖ, vor allem in Wien, sind grüne Idealistinnen spätestens seit der früheren Stadtparteichefin Birgit Hebein verschrien. Entweder ÖVP oder SPÖ, wahrscheinlich aber eher beide Parteien, wird Gewessler überzeugen müssen, wenn sie in Zukunft noch einmal in die Regierung kommen will.
Ausgegrenzte Grüne
Derzeit sieht das mehr als schlecht aus: Die Schuld an der Budgetmisere geben ÖVP, SPÖ und Neos gerne der einstigen Klimaministerin und ihren großzügigen Förderungen. Dass es ein schwarzer Finanzminister war, der ihr das Geld dafür zur Verfügung stellte, lässt vor allem die Volkspartei gerne unter den Tisch fallen. Gewessler selbst reagiert auf den Rückbau ihrer Errungenschaften ohnehin nur mit einem Schulterzucken und einer Anekdote aus dem Parlament: Noch im Jänner habe sie gesagt: „Wenn Klima draufsteht, wird zusammengestrichen“, da schrie FPÖ-Generalsekretär Christian Hafenecker dazwischen: „Sie haben alles gut gekennzeichnet! Suchbegriffe waren Klima und Gewessler!“ Von der FPÖ habe sie nichts anderes erwartet, sagt Gewessler, auch von der ÖVP sei sie nicht überrascht: „Dass jetzt aber SPÖ und Neos eins zu eins das Programm der FPÖ umsetzen, ist eine Enttäuschung.“
Gewessler versucht, ihr Spezialgebiet, Klima, als Alleinstellungsmerkmal einzusetzen. Aber eine Obfrau muss eine Meinung zu vielen Themen haben, gerade sind geopolitische Antworten gefragt. „Die Grünen sind eine Friedenspartei und werden das auch bleiben. Aber was heißt das in dieser Weltlage?“, fragt Gewessler. „Das sind Themen, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen. Da werden wir teilweise neue Antworten finden müssen. Gemeinsam als Partei, das wird uns sicher länger als nur das nächste halbe Jahr beschäftigen.“
Zuerst muss Gewessler aber ihre Rede halten.

Iris Bonavida
ist seit September 2022 als Innenpolitik-Redakteurin bei profil. Davor war sie bei der Tageszeitung "Die Presse" tätig.

Max Miller
ist seit Mai 2023 Innenpolitik-Redakteur bei profil. Schaut aufs große Ganze, kritzelt gerne und mag Grafiken. War zuvor bei der „Kleinen Zeitung“.