Hereinspiziert: Arbeitsinspektor erzählt aus der Praxis

Arbeitsinspektoren sollen vor Gefahren und Ausbeutung schützen. Viele Betriebe aber fühlen sich sekkiert. Ein Kontrollor erzählt aus der Praxis.

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Auf Inspektor Zufall ist Verlass. Aus dem Wohnzimmerfenster sah Richard Mazohl auf dem Dach eines Nachbarhauses einige Männer herumturnen. Er holte seine Kamera und zoomte die Szene heran. Leitern waren zu erkennen; eine hing an einem Schneehaken, zwei standen am oberen Sims eines Fensters. Keiner der Arbeiter war angeseilt. Mazohl drückte auf den Auslöser. Mithilfe der Bilder forschte die Polizei den Arbeitgeber aus. Er kassierte eine ordentliche Strafe. Mazohl sagt, leichtsinnige Bauarbeiten gebe es jeden Tag irgendwo im Land, ohne dass Arbeitsinspektoren es mitbekämen. Manchmal fällt jemand von einem Dach; meistens haben die Arbeiter Glück und kommen heil wieder herunter.

Das Foto hat Mazohl auf seinem Computer gespeichert. Die dazugehörige Geschichte ist zehn Jahre alt. Er gibt sie in Kursen zum Besten, in denen sich angehende Arbeitsinspektoren auf die Dienstprüfung vorbereiten. Mazohl leitet das Arbeitsinspektorat in Wiener Neustadt. Nach dem Maschinenbaustudium war er 1989 in die Fußstapfen seines Vaters getreten. Auch dieser hatte über Jahrzehnte hinweg Betriebe inspiziert. Beamte waren damals Respektspersonen, nicht jene Ungustln, die Gewerbetreibende schikanieren, bis sie aufgeben, wie sie in einer seit Wochen schwelenden Debatte dargestellt werden.

Mängel in Wiener Waxing-Studio löste Debatte aus

Ausgelöst wurde die Debatte von Katia Wagner, der Betreiberin eines Schönheitssalons in Wien. Das Arbeitsinspektorat hatte in ihrer "Beauty Bar“ erhebliche Mängel protokolliert. Es fehlten Spinde für die Mitarbeiter, Aufzeichnungen von Arbeitszeiten, in den Waxing-Kabinen mangelte es an Platz, Licht und Luft. Die 29-jährige ehemalige Miss Earth Austria stilisierte sich daraufhin zum Opfer einer wild gewordenen Behörde.

Vizekanzler und ÖVP-Wirtschaftsminister Reinhold Mitterlehner sprang der Jungunternehmerin zur Seite. Medien berichteten ausführlich. Das Drama nahm seinen Lauf. Via Stadtzeitung "Falter“ verkündete Wagner: "Aus. Schluss. Das war’s.“ Die Auflagen des Arbeitsinspektorats seien "mit betriebswirtschaftlich vernünftigen Mitteln nicht umzusetzen“. Ihre 23 Mitarbeiterinnen seien ihre Jobs los und könnten künftig als Selbstständige in den Waxing-Kabinen weiterarbeiten.

Nun reicht es dem Chef der zuständigen Verkehrs- und Dienstleistungsgewerkschaft Vida, Roman Hebenstreit. Im profil-Gespräch macht er seiner Empörung Luft: "Wir haben rund 50 Waxing-Studios allein in Wien, die sich alle an die Gesetze halten müssen. Wie kommt der Wirtschaftsminister dazu, einer Einzelnen, die noch dazu gegen Regeln verstößt, einen Wettbewerbsvorteil samt PR-Show zu verschaffen? Für mich steht längst der Verdacht auf unerlaubte Beihilfe im Raum. Jetzt ist die Wettbewerbsbehörde gefragt.“ Auch den öffentlich geäußerten Plan der Schönheitsunternehmerin, einstige Angestellte in die Selbstständigkeit zu bugsieren, hält Hebenstreit für ungesetzlich: "Wenn sie das wirklich vorhat, schicke ich ihr hundertprozentig die Gebietskrankenkasse. Die Behörde, die im Unterschied zum Wirtschaftsminister im Sinne unserer Rechtsordnung funktioniert, wird feststellen, ob es hier um selbstständige Arbeit handelt oder nicht.”

Wirtschaft will Reformen, kleine Betriebe klagen über Bürokratie

Der Streit zeigt einen Machtkampf, der hinter den Kulissen tobt: Die Wirtschaft will Reformen beim Arbeitnehmerschutz und meint damit weniger Vorschriften und lästige Kontrollen. Vor allem kleine Betriebe fühlen sich oft getriezt und klagen über exzessive Bürokratie. Die Gewerkschaft wiederum verweist auf rabiate Preiskämpfe quer durch die Branchen, von Bau über Handel bis zum Frächtergewerbe, die auf dem Rücken der Mitarbeiter ausgetragen werden und zulasten von Gesundheit und Sicherheit gehen. Sie pocht auf gesetzlichen Schutz.

Vergangenen Freitag trommelte der Wirtschaftsminister eine Gipfelrunde zum Arbeitnehmerschutz zusammen. Sozialminister Alois Stöger und ÖGB-Präsident Erich Foglar kamen. Als Mitterlehners Expertin aus der Praxis saß ausgerechnet die Salon-Inhaberin mit am Tisch.

"Natürlich kommen nie alle Betriebe dran. Wir setzen Schwerpunkte, etwa in der mobilen Pflege, bei Tischlern oder in Tourismusgebieten." Alexandra Marx, Sozialministerium.

Dabei steht bei dem Thema einiges auf dem Spiel. Es geht um österreichweit 250.000 Betriebe und 3,2 Millionen Beschäftigte. 300 dem Sozialministerium unterstehende Arbeitsinspektoren sollen darüber wachen, dass diese unter ordentlichen Bedingungen arbeiten. Rund 68.000 Kontrollen schafften sie im Vorjahr. "Natürlich kommen nie alle Betriebe dran. Wir setzen Schwerpunkte, etwa in der mobilen Pflege, bei Tischlern oder in Tourismusgebieten“, sagt Alexandra Marx, Leiterin der Legistikabteilung im Sozialministerium.

115.000 Mal hatten die Inspektoren etwas zu beanstanden. Die meisten Causen werden außergerichtlich geregelt. Nur 1568 Mal kam es zu einer Anzeige bei Bezirksstrafbehörden. Die Keule des Strafrechts schlägt bei groben Mängeln zu, etwa wenn Arbeiter sich ungeschützt auf einem Dach bewegen oder Lkw-Fahrer 16 Stunden ohne Pause durchfahren, aber auch bei notorischer Missachtung von Bestimmungen. Schwarze Schafe gibt es laut Marx in jeder Branche. Meist werden sie mit Geldbußen zwischen 166 und 16.000 Euro zur Räson gebracht.

Seit 1995 das ArbeiternehmerInnenschutzgesetz in Kraft trat, gingen Arbeitsunfälle stetig zurück, seit 2000 um fast ein Fünftel (18 Prozent). Über 70 Menschen kamen im Vorjahr in ganz Österreich bei der Arbeit ums Leben. Laut der Allgemeinen Unfallversicherungsanstalt AUVA erspart jeder für Prävention investierte Euro das Doppelte an Kosten für Unfallfolgen. 2,2 Milliarden ersparten sich heimische Unternehmen in Summe (1995 bis 2011); der allgemeine Nutzen durch die Entlastung des Sozialsystems beträgt ein Mehrfaches.

Diese Rechnung überzeugt Praktiker jedoch nicht. Es kursieren Geschichten, wonach Fliesen einerseits gerippt sein müssen, damit Mitarbeiter darauf nicht ausrutschen, und andererseits glatt, damit man sie gut reinigen kann. Peter Dobcak kennt die Erzählungen zur Genüge. Bevor der ÖVP-Funktionär aus Wien-Josefstadt in der Wiener Wirtschaftskammer für 6000 Gastronomiebetriebe und 2400 Kaffeesieder zuständig wurde, führte er selbst ein Studentenlokal.

Dobcak erzählt von Arbeitsinspektoren, die Umbauten verlangen, weil bei einem Durchgang ein paar Zentimeter fehlen, und von Kontrollorganen, die darauf pochen, dass Teilzeitkräfte sich in einem eigenen Raum ausruhen können, den Vorschlag des Wirts, dafür die Balustrade zu nützen, aber mit dem Einwand quittieren, "dass einem Arbeitnehmer nach acht Stunden Arbeit nicht zugemutet werden kann, eine Wendeltreppe hinaufzusteigen“.

In Italien würden Blumentöpfe und Wäscheständer auf den Gehsteig geschoben; in Amerika genüge in Lokalen ein Schild: "Employees must wash their hands after using the restrooms.“ In Österreich hingegen brauche es für das Personal ein eigenes WC, Duschen und Hunderte Vorschriften. Alles werde "totkontrolliert“, behördliche Auflagen widersprächen einander, sagt Dobcak: "In der Mitte sitzt der Unternehmer und kassiert eine Strafe nach der anderen.“

ÖVP-Abgeordnete: 17 Fälle von "lebensfremden, bürokratischen und sogar schikanösen“ Arbeitsinspektionen

Vor einem Jahr listeten die ÖVP-Abgeordneten Kathrin Nachbaur und Peter Haubner 17 Fälle von "lebensfremden, bürokratischen und sogar schikanösen“ Arbeitsinspektionen auf. Einige davon schafften es in die Puls4-Sendung "Vorschrift ist Vorschrift“. Im Sozialministerium heißt es, das Gros habe man nie nachprüfen können, weil konkrete Angaben fehlten. Trotzdem geistern die kuriosen Episoden seither durch die einschlägigen Debatten, etwa jene vom Obstkorb für die Mitarbeiter, der mangels befugter Person, die ihn regelmäßig auf verdorbene Ware untersuchte, entfernt wurde.

Die Berichte klingen nach Kabarett, können aber so wahr sein wie die Erlebnisse des Politikberaters Rudi Fußi, der mit seinem Satire-Programm "Jetzt rede ich!“ derzeit auf diversen Bühnen gastiert. Eine Episode heißt "Der Arbeitsinspektor“. Fußi schwört, er habe sie aus dem Leben gegriffen. Er sei angehalten worden, seine Angestellten zu unterweisen, wie man ein Postpaket hebt, in einem Raum mit nur einer Tür ein Fluchtschild anzubringen und sich von seiner 50-jährigen Putzfrau schriftlich erklären zu lassen, dass sie nicht vorhabe, die Reinigungsmittel zu trinken. Fußi: "Jetzt habe ich einen Erste-Hilfe-Kasten um mehrere Hundert Euro, Papierhandtücher, die niemand benützt, und Datenblätter, die auszufüllen einen Mitarbeiter ganze 60 Stunden beschäftigt hat.“

Julia Vazny-König, Arbeitsrechtsexpertin in der Arbeiterkammer Wien, wiederum sieht fast nur die hässliche Fratze der Arbeitswelt: hippe Studentenlokale, in denen Behinderte in der Küche bis zum Umfallen arbeiten; Mitarbeiter, die drei Pullover überziehen, weil der Firmenchef im Winter ein kaputtes Fenster wochenlang nicht reparieren lässt; vorenthaltene Überstunden, Mobbing und jede Menge Zusteller und Chauffeure, "die als Scheinselbstständige überhaupt keinen Schutz mehr haben“. Aus ihrer Sicht braucht es "nicht weniger Arbeitsinspektoren und Kontrollen, sondern mehr denn je“.

In Wiener Neustadt kümmern sich zehn Arbeitsinspektoren um mehr als 11.000 Betriebe im Bezirk, von der winzigen Schlosserei bis zum Spital. Mazohl, der Leiter der Dienststelle, lacht über den Fußi-Sketch, der auf YouTube abrufbar ist. "Karikieren kann man alles“, sagt er und holt seinen "Inspektionsziegel“. Paragraf 64 befasst sich mit dem Heben von Lasten. Der Gesetzgeber dachte bei freilich nicht primär an eine Wiener Kommunikationsagentur, sondern an Fabrikarbeiter, die im Laufe einer Schicht Hunderte Kilo vom Fließband heben.

"Viele Betriebe lassen bloß Belehrungen über sich ergehen, statt unser Wissen im Vorfeld zu nützen. Hinterher etwas zu reparieren, ist immer unangenehm und meistens auch teurer.“ Richard Mazohl, Arbeitsinspektor

Als Mazohl in jungen Jahren anfing, Betriebe zu besichtigen, war sein "Inspektionsziegel“ halb so dick. "Aushangpflichtige Gesetze“ steht darauf. In den vergangenen zwei, drei Jahrzehnten sei vieles besser geworden. Maschinen wurden sicherer. Nur auf Baustellen werde immer noch geschludert. 3000 Unfälle ereignen sich in Mazohls Distrikt im Jahr; der Schnitt mit dem Stanleymesser ist in der Zahl ebenso enthalten wie der grässliche Unfall bei Wartungsarbeiten an einer versehentlich eingeschalteten Presse im Edelstahlwerk. Es wurmt den Arbeitsinspektor, dass viele Betriebe "bloß Belehrungen über sich ergehen lassen, statt unser Wissen im Vorfeld zu nützen. Hinterher etwas zu reparieren, ist immer unangenehm und meistens auch teurer.“ 30.000 Beratungen leisteten Mazohl und seine Kollegen in ganz Österreich im Vorjahr.

Bereits im Vorjahr starteten Gespräche zwischen Wirtschaftskammer, Industriellenvereinigung, Arbeiterkammer und Gewerkschaft. Das Ziel: Entrümpelung von Gesetzen und Verordnungen zum Arbeitnehmerschutz. Gelingt die Übung, könnte Mazohls "Inspektionsziegel“ wieder schlanker werden. Reibereien wird es auch künftig geben. Arbeitsinspektoren dürfen jederzeit buchstäblich in jeden Betrieb hineinspazieren. Bei Gefahr im Verzug können sie Produktionen sperren und ganze Baustellen stilllegen. "Mit diesen enormen Befugnissen muss man vorsichtig umgehen“, sagt Mazohl.

In seiner idealen Inspektorenwelt greifen die Kollegen nach dem Möglichen, schützen Beschäftigte und lassen ihre Arbeitgeber leben. Angehenden Arbeitsinspektoren erklärt er nicht nur die Regeln, sondern auch Ausnahmen im Sinne des Gesetzgebers: "Wenn in einem Arbeitsraum von den Lichtverhältnissen bis zur Belüftung alles passt, und die Decke ist zwei Zentimeter zu niedrig, soll es darauf nicht ankommen. Wenn aber gar nichts passt, zählen diese zwei Zentimeter auch.“

Vielleicht sollte er angehenden Kollegen nicht nur die Bilder von leichtsinnigen Dacharbeitern zeigen, sondern auch Fussis YouTube-Video vorspielen. Ein bisschen Augenmaß kann nie schaden.

Dieser Artikel stammt aus dem profil Nr. 13 vom 27.3.2017. Das aktuelle profil können Sie im Handel oder als E-Paper erwerben.

Edith   Meinhart

Edith Meinhart

ist seit 1998 in der profil Innenpolitik. Schreibt über soziale Bewegungen, Migration, Bildung, Menschenrechte und sonst auch noch einiges