ZERSTÖRTES WIEN IM MAI 1945 - In der Josefstadt wurde schon Theater gespielt, in Mauthausen noch gemordet.

Das Ende des Zweiten Weltkrieges: Die Entdeckung Österreichs

Am 8. Mai 1945 hatte die deutsche Wehrmacht bedingungslos kapituliert. Eine Rekonstruktion der letzten Kriegswoche.

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Am 1. Mai melden die Radiosender im gesamten Deutschen Reich, der Führer Adolf Hitler sei im Kampf um Berlin gefallen. Der 29-jährige Soldat Christian Broda hört die Nachricht in Ried/Innkreis, wo seine Einheit stationiert ist. Er und ein aus dem Innviertel stammender Freund besorgen sich Zivilkleidung und verstecken sich in dessen Heimatgemeinde Pattigham. Als sich die US-Truppen am 3. April Pattigham nähern, eilen ihnen Broda und sein Quartiergeber mit rot-weiß-roten Armbinden entgegen und übergeben das kleine Dorf kampflos. Die Häuser wurden vorsorglich ebenfalls rot-weiß-rot beflaggt. Broda war zuvor wegen des Verdachts der Mitgliedschaft in einer kommunistischen Gruppe mehrere Monate in Gestapo-Haft gesessen. In den 1970er-Jahren wird Broda legendärer Justizminister der Ära Kreisky.

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Ein Stück weiter östlich, in Linz, verurteilt das Standgericht Oberdonau an diesem 1. Mai 1945 den 55-jährigen Mitarbeiter der Kartenstelle Anton Arnreiter aus St. Georgen im Attergau zum Tod durch Erschießen. Arnreiter habe sich schon lange als "Kritikaster und Meckerer" gezeigt und gegen das Erhängen von Ostarbeiterinnen protestiert, die Milch gestohlen hatten, heißt es in der Urteilsbegründung. Jetzt habe er in der Kartenstelle gegenüber Mitarbeitern geäußert, in den nächsten 24 Stunden werde es einen Waffenstillstand geben, und dann werde Karl Renner Bürgermeister von Linz. Dies, so das Standgericht, sei wehrkraftzersetzend und mit dem Tode zu ahnden. Als Arnreiter hingerichtet wird, stehen amerikanische Truppen 30 Kilometer vor Linz. Die drei Arbeitskollegen, die Arnreiter denunziert hatten, werden nach Kriegsende zu Haftstrafen von zwei Jahren verurteilt.

In Freistadt im Mühlviertel werden am 1. Mai acht Widerstandskämpfer erschossen, die seit Herbst 1944 inhaftiert waren. Bregenz wird nach kurzem Kampf von französischen Einheiten eingenommen, die von einem ortskundigen Führer zur Stadt gelotst wurden.

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Das Wiener Theater in der Josefstadt wird an diesem 1. Mai mit "Hofrat Geiger" wiedereröffnet. Die in die Volksoper übersiedelte Staatsoper beginnt die Saison mit Mozarts "Die Hochzeit des Figaro". Am Vormittag feiern in Wien die drei Gründungsparteien ÖVP, SPÖ und KPÖ in Bezirkskundgebungen den Tag der Arbeit. Auf den Bahnhöfen trifft die "Maispende" der Roten Armee ein. Jeder Wiener bekommt 200 Gramm Bohnen oder Erbsen, 50 Gramm Speiseöl, 150 Gramm Fleisch und 125 Gramm Zucker. Die Post wird ab 2. Mai wieder ausgetragen. Die Ankerbrot-Fabrik nimmt gelernte Bäcker auf.

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2. Mai: Am selben Tag, an dem die deutschen Verteidiger Berlins vor der Roten Armee kapitulieren, besetzen amerikanische Truppen Hitlers Geburtsstadt Braunau. Die Briten marschieren in Triest ein.

3. Mai: In Innsbruck nimmt eine Widerstandsgruppe unter dem späteren Außenminister Karl Gruber kampflos verschiedene Dienststellen und Kasernen ein und gibt Waffen an die Bevölkerung aus. Zeitgleich irren noch versprengte Gruppen von Wehrmachtssoldaten durch die Stadt. Als in der Abenddämmerung die US-Truppen in Innsbruck einmarschieren, bietet sich ihnen neben jubelndem Volk ein seltsames Bild. "Deutsche Soldaten standen, immer noch in Uniform, am Straßenrand; sie trugen ihre Waffen, aber auch Armbinden mit ,Freies Österreich' und riefen uns zu:,Heil den Amerikanern!'. Die Szene unterschied sich vollkommen von allem, was die Soldaten in deutschen Städten erlebt hatten", hält der offizielle Berichterstatter der 103. Infanteriedivision später fest.

Salzburg wird vom deutschen Kampfkommandanten Oberst Hans Lepperdinger entgegen den Befehlen seiner Vorgesetzten kampflos geräumt. 5. Mai: Linz wird von Bürgermeister Franz Langoth, 67, ebenfalls kampflos an die Amerikaner übergeben. Langoth war SS-Brigadeführer und verhängte als Richter des Volksgerichtshofs 41 Todesurteile. Nach Kriegsende wird der Linzer zwei Jahre lang in Glasenbach interniert. Zu einer Anklage kommt es nie. Langoth stirbt 1953 in Linz. Noch 1973 wird eine Straße nach ihm benannt, die man 1986 wieder in Kaiserstraße rückbenennt.

In Prag liefern am selben Tag tschechische Widerstandskämpfer den deutschen Besatzern schwere Gefechte. SS-Gruppenführer Graf von Pückler-Burghauss befiehlt, die Prager Altstadt dem Erdboden gleichzumachen, was an der verbissenen Gegenwehr der Widerstandskämpfer scheitert. Am 7. Mai sind die SS-Verbände zu einem Waffenstillstand bereit. Am nächsten Tag zieht die Rote Armee in Prag ein.

In Hermagor im Kärntner Gailtal werden drei Deserteure erschossen. Wenige Stunden später stehen die Briten vor der Stadt.

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Die seit zwei Wochen von den drei Gründungsparteien herausgegebene Tageszeitung "Neues Österreich" versucht in einem Leitartikel von Chefredakteur Ernst Fischer (KPÖ) den Leser deutsche Flausen auszutreiben: "Eine der stärksten Waffen des Hitlerismus in Österreich war die Herabsetzung des Österreichertums, die systematisch genährte Geschichtsfälschung, wir Österreicher seien nur Bestandteil der , großen' deutschen Nation preußischer Genealogie . Ebensowenig wie die deutsch sprechenden Schweizer sind auch wir deutsch sprechende Österreicher ein Teil der deutschen Nation. Wir haben eine geschichtliche Vergangenheit, derer wir uns nicht schämen müssen, und wir werden den grausam-gründlichen Unterricht über die Verschiedenheit des deutschen und des österreichischen Volkscharakters nicht mehr vergessen."

Mit der Partie Sportklub gegen Vienna treffen erstmals wieder zwei Mannschaften der höchsten Leistungsklasse aufeinander. Das Freundschaftsspiel endet mit einem 3:2-Sieg des Wiener Sportklubs.

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Am 8. Mai wird das Konzentrationslager Mauthausen von amerikanischen Truppen befreit. Um Stockerau, Hollabrunn und die Burg Kreuzenstein wird noch gekämpft. Klagenfurt wird am Vormittag von britischen Truppen besetzt, die sich mit jugoslawischen Partisanen einen Wettlauf geliefert hatten. Am Abend tritt der am Vortag vom Oberkommando der Wehrmacht in Reims vor den alliierten Streitkräften unterzeichnete bedingungslose Waffenstillstand in Kraft. Am 9. Mai wird die Zeremonie auf Betreiben der Sowjetunion in Berlin-Karlshorst wiederholt.

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Der Zweite Weltkrieg in Europa ist zu Ende. Er kostete 50 Millionen Menschen das Leben.