Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn
Interview

Jean Asselborn: "Das werde ich Kurz nie verzeihen"

Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn über Grenzzäune, gefährliche Untertöne in der Migrationsdebatte und den österreichischen Ex-Kanzler Sebastian Kurz.

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profil: Sind Sie zufrieden mit dem europäischen Engagement, gefährdete Gruppen aus Afghanistan herauszuholen?
Asselborn: Wir waren bisher nicht so schlecht. 22.000 Menschen aus Afghanistan wurden in Ländern der Europäischen Union aufgenommen. Der Wunsch des UN-Flüchtlingshilfswerks ist es, in den nächsten fünf Jahren 85.000 Flüchtlinge aus den Nachbarländern zu holen. Die Hälfte davon soll in die EU kommen.

profil: Fünf Jahre sind eine lange Zeit. Geht es nicht schneller?
Asselborn: Wenn man von 42.500 in diesem Jahr spräche, brauchte man gar nicht erst anzufangen. Alle wären dagegen.
profil: Richterinnen, Journalistinnen, Frauenaktivistinnen sind mit den Werten des Talibanregimes vollkommen unvereinbar. Sollte man diesen Gruppen Asyl gewähren?
Asselborn: Ich war fünf Mal in Afghanistan, und ich fand die Frauen im öffentlichen Bereich sehr überzeugend. Sie haben mir mehr imponiert als viele männliche Politiker. Ich habe überhaupt kein Verständnis dafür, Menschen im Stich zu lassen, die sich in Todesgefahr befinden oder lange Freiheitsstrafen fürchten müssen, weil sie das taten, wozu wir als Europäische Union sie motiviert haben-sich für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit einzusetzen. Die Debatte beim jüngsten informellen Außenministerrat fand ich deshalb erschreckend. An vorderster Stelle haben sich Österreich und Ungarn gegen die Aufnahme von "persons in need",ein Fachbegriff der UN, der Menschen bezeichnet, die unserer Hilfe bedürfen, ausgesprochen. Nicht einmal China oder Russland haben im UN-Sicherheitsrat zur Aufnahme von "persons in need" Nein gesagt, doch Österreich und Ungarn kündigten ein Veto an, sollte das beschlossen werden.

profil: Wie viele Richterinnen hat Luxemburg bisher aufgenommen?
Asselborn: Wir haben bis jetzt zwei Richterfamilien aufgenommen, insgesamt zwölf Leute.

An vorderster Stelle haben sich Österreich und Ungarn gegen die Aufnahme von 'person in need' ausgesprochen.

profil: Gibt es weitere Bereitschaft?
Asselborn: Bei Menschen in Not-selbstverständlich. Bei uns in Luxemburg sind die Dienstwege kurz. Ich bin sowohl Außen-, als auch Migrations-und Asylminister. Das macht es oft leichter. Das war auch bei der Richterfamilie so, deren Lage mir von Edith Zeller, der Präsidentin der Europäischen Verwaltungsrichter-Innen geschildert wurde. Bis jetzt haben wir 54 Menschen, die nach dem Fall von Kabul am 15. August kamen, internationalen Schutzstatus gegeben. Wir müssen uns aber auch um die kümmern, die schon im Land sind. Sie haben im ersten Jahr das Recht, ihre Verwandten ersten Grades nachzuholen. Familienzusammenführung ist europäisches Gesetz. Das zu schaffen, ist gar nicht einfach. Wir kümmern uns nicht nur um sogenannte prominente Fälle. Aber Richter und Richterinnen, das ist wahr, sind überhaupt erst wegen des internationalen Drucks aus Afghanistan herausgekommen.

profil: Sie haben die Richterin, die sich in einem Keller in Kabul versteckt hielt, gerettet, indem sie ein Visum-Versprechen abgaben. Haben Sie sich nicht gefragt, warum Luxemburg und warum nicht Österreich? Ein Bruder der Familie lebt immerhin in Salzburg.
Asselborn: Hätte ich mich das fragen sollen? Ich will nicht ungerecht sein: Österreich hat viele Menschen aus Afghanistan aufgenommen, das ehrt Österreich. Allerdings war das alles vor der Kanzlerschaft von Sebastian Kurz. Mit Kurz kam eine drastische Wende. In dieser Wende erkenne ich die Philosophie eines Politikers, der in seinem ganzen politischen Wirken eine Aversion gegen Migration hegt. Ich habe beobachtet, wie das wuchs und wuchs. Migration war für Kurz das Erfolgsthema schlechthin. Ich werde ihm nie verzeihen können, dass er 2018, als Österreich die EU-Präsidentschaft innehatte, den UN-Migrationspakt hintertrieben hat; dass er versucht hat, die Unschlüssigen in seine Richtung zu drängen; dass Europa damals in Marrakesch ein erschütterndes Bild abgab. Ich könnte kein Nein über die Lippen bekommen angesichts des Leids, das ich sehe-wie zum Beispiel bei der Richterin, bei diesen Frauen. Ich denke, die Leute um Kurz herum haben doch auch Eltern und Kinder. Sie können sich das Ausmaß dieses Elends und dieser Angst vorstellen. Und dann Nein zu sagen zur Aufnahme gefährdeter Menschen aus Afghanistan ist meines Erachtens nicht mit der moralischen Pflicht eines europäischen Demokraten zu vereinbaren. So ist das. Diese beiden Richterfamilien, die jetzt bei uns sind, hätten Österreich nicht überlastet. Es geht um das Prinzip, um die Herangehensweise. Das passt nicht zu Österreich, zu dem österreichischen Volk, wie ich es kenne.

profil: Hätten Sie die Familien auch aufgenommen, wenn es ein Richter, ein Mann, gewesen wäre?
Asselborn: Bei Verfolgung kann man keinen Unterschied zwischen den Geschlechtern machen. Man muss jedoch wissen: 95 Prozent der Menschen aus Afghanistan, die bisher in Europa um Asyl angesucht haben, sind Männer. Ich glaube, Frauen haben im afghanischen Alltag-ich spreche jetzt nicht vom Krieg-mehr aufs Spiel gesetzt als Männer, mehr zum Guten verändert.

profil: Nach Aussagen des österreichischen Innenministers gelten Menschen aus Afghanistan als besondere schwierig zu integrierende Gruppe. Sind das auch Ihre Erfahrungen?
Asselborn: Das ist Unsinn. Das kann man so nicht sagen. Ob Integration gelingt, hängt vom guten Willen aller ab. Wir bieten viele Sprachkurse an, helfen, Wohnungen und Arbeit zu finden. Da ist nicht alles perfekt in Luxemburg. Die Mietpreise sind hoch, es gibt zu wenig Wohnraum. Die Neuankömmlinge müssen Französisch lernen, für einen Erwachsenen ist das eine große Herausforderung und nicht zu ändern. Wir Luxemburger wissen, was uns historisch die Öffnung der Grenzen gebracht hat. Mit geschlossenen Grenzen würden wir noch immer Kartoffeln anpflanzen.

profil: In den meisten europäischen Ländern sind derzeit Abschiebungen nach Afghanistan nur ausgesetzt. Wird wieder abgeschoben werden? 
Asselborn: Luxemburg hat seit 2015-außer einem radikalisierten Mann, der Anschlagspläne wälzte-niemanden nach Afghanistan abgeschoben. Auch nicht, wenn der Asylantrag negativ entschieden wurde. Im Lichte der jüngsten Ereignisse kann jeder, der abgelehnt wurde, einen neuen Antrag stellen. Das heißt selbstverständlich nicht, dass wir auch abgelehnte Asylwerber aus anderen Ländern nehmen werden. Das würden wir nicht schaffen.

profil: Seit Jahren ist ein europäisches Asylrecht in Vorbereitung. Wird es das jemals geben?
Asselborn: Ich glaube nicht. Die Kommission hat ihre Arbeit gemacht. In dem Paket, das vorliegt, wäre mit etwas gutem Willen für jeden etwas drin gewesen und man hätte hoffen können, dass es beschlossen wird. Dazu kam es nicht. Die Deutschen und Portugiesen haben sich während ihrer Präsidentschaft große Mühe gegeben und nichts erreicht. Im Asylrecht brauchen wir alle Länder. Es ist eine Kernfrage der Zukunft: Sind alle 27 EU-Mitgliedstaaten bereit, im Fall eines großen Migrationsdrucks gemeinsam zu helfen? Aus Österreich kamen mehrmals Aussagen wie: Man habe Flüchtlingsrouten geschlossen und es gäbe nun keine Flüchtlinge mehr, die über das Mittelmeer kommen. Der Unterton: Man braucht die Menschen nicht mehr zu retten, denn es gibt sie nicht mehr. Ich halte auch nichts von diesem Grenzschutzfetischismus. Klar müssen Grenzen kontrolliert werden. Aber zu glauben, man könnte die Grenzen schließen wie die Chinesen das mit der Chinesischen Mauer in grauer Vorzeit gemacht haben, ist irreführend. Migration wird es weiterhin geben. Sie wird mit den höchsten Zäunen nicht aufzuhalten sein. Wer das behauptet, macht sich der Irreführung schuldig. Und wir werden Migration dringend brauchen.

profil: Sie sind der dienstälteste EU-Außenminister, seit 17 Jahren im Amt. Der neue österreichische Kanzler Alexander Schallenberg ist für Sie kein Unbekannter. Erwarten Sie, dass die sehr restriktive Migrationspolitik etwas milder wird?
Asselborn: Erwarten tue ich nichts. Es kann nur besser werden.
Christa   Zöchling

Christa Zöchling