Analyse

Jung, männlich, Afghane

Der Konflikt war schon vor dem Verbrechen an Leonie da: Muss man sich mit kriminellen Flüchtlingen befassen oder soll man sie abschieben?

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Das unausgesprochene "leider" ist kaum zu überhören, wenn dieser Tage auf Menschenrechte verwiesen wird. Als zivilisierte Gesellschaft und EU-Mitglied haben wir es uns auferlegt, niemanden der Folter, unmenschlicher Behandlung oder der Todesstrafe auszuliefern. Afghanische Straftäter ruckzuck außer Landes schaffen? So einfach geht das nicht. Bevor wir jemanden ins Flugzeug nach Kabul setzen, müssen wir uns damit auseinandersetzen, was ihn dort erwartet. Leider?

Leonie fiel einem Verbrechen zum Opfer. Junge Afghanen sollen dem Mädchen in einer Wohnung in Wien Ecstasy eingeflößt haben, eine aufputschende Partydroge; danach sollen mindestens zwei Männer sie vergewaltigt haben. Bisherigen Erkenntnissen zufolge stand das Herz der 13-Jährigen irgendwann still. Dann schleppten ihre Peiniger sie auf die Straße, lehnten sie an einen Baum und machten sich davon, bis auf einen 16-Jährigen, der, als die Rettung eintraf, so tat, als hätte er mit der Toten nichts zu tun. Für Leonie kam jede Hilfe zu spät.

Am rechten Rand

Dass ihr gewaltsamer Tod instrumentalisiert wird, war zu erwarten. Doch der Konflikt, um den es geht, war lange vor dem Verbrechen da: Kann man Europa, kann man Österreich abschotten? Und wenn nicht, muss man sich auch mit straffällig gewordenen Asylwerbern befassen? Oder kann man sie abschieben? Die Wahrheit liegt nicht in der Mitte, sondern in den Extremen der Debatte, wovon aktuell freilich nur eines auflodert und das andere sich verschämt zurücknimmt. Denn die Gewalttat bestärkt jene, die afghanische Flüchtlinge vor allem als Sicherheits- und Gewaltproblem betrachten, während sich am entgegengesetzten Pol jene, die sonst auf das Potenzial dieser meist jungen, alleine eingewanderten Männer verweisen, ruhig sind. Nur nicht in Verdacht geraten, eine Gefahr herunterzuspielen. Man stünde im günstigen Fall wie eine naive Idiotin da, im schlimmsten Fall wie ein empathieloser Psychopath, der einem brutal aus dem Leben gerissenen Mädchen ins Grab nachspuckt. Beginnen wir am rechten Rand. Es stimmt, wie man hier nicht müde wird zu betonen, dass Afghanen überdurchschnittlich kriminell sind. Das gilt nicht für alle Straftaten, aber für Sexualdelikte. Es stimmt auch, was man auf linker Seite ungern zur Kenntnis nimmt, dass kulturelle Prägungen mitspielen. Zwar gibt es durchaus manifesten österreichisch-autochthonen Machismo. Unter prügelnden, vergewaltigenden, mordenden Männern finden sich bekanntlich Einheimische ebenso wie Täter mit Migrationshintergrund. Ein erheblicher Teil der jungen Afghanen aber wuchs heran, ohne - von Müttern und Schwestern abgesehen - je eine Frau gesehen zu haben. Kaum erwachsen, landen viele in einer - meist arrangierten - Ehe. Mit der Kränkung, dass ihnen eine Frau gefällt, die ihre Zuneigung nicht erwidert, müssen sie sich nicht abgeben. An Würde und Rechten gleichgestellte weibliche Menschen, die sexuell und ökonomisch selbstbestimmt handeln, sind völlig jenseits von Überlieferung, Erfahrung und Vorstellung. Das ist ein kultureller Unterschied.

Die linke Seite

Doch auch die andere - linke - Seite hat ein Stück der Wahrheit. Es stimmt, dass es gelingen muss, Menschen, die mit 14,16,20 Jahren nach Österreich kommen, nahezubringen, sich nicht auf ihr Messer zu verlassen, sondern dem Rechtsstaat und seinen Institutionen zu vertrauen. Den Respekt, den wir verlangen, müssen wir Einwanderern und Flüchtlingen freilich auch entgegenbringen. Sie auf Ämtern anzuherrschen - "Bei uns redet man Deutsch!" - und bei jeder Gelegenheit abzuwerten und auszugrenzen, fördert unentwegt ihre Radikalisierung und Entfremdung. Wie schaffen wir es, dass Männer wie der Kurde Muhammad Majid, der geholfen hat, zwei Tatverdächtige zu fassen, die österreichische Gesellschaft für ihre halten, die österreichische Polizei für ihre? Darüber will die Regierung nicht reden. Bei einer Pressekonferenz zu den Ermittlungen im Fall der getöteten 13-Jährigen fragte ein Journalist ÖVP-Innenminister Karl Nehammer, ob man sich ausreichend um afghanische Flüchtlinge kümmere, von denen viele aus Kriegsgebieten stammten und traumatisiert seien. Boulevard und rechte Medien wie "unzensuriert.at" überschlugen sich vor Erregung über die pietätlose Frage, bis der Journalist via Twitter kalmierte: Zeitpunkt und Formulierung seien "unangebracht" gewesen.

Dabei läge eine ernsthafte Replik des Innenministers im allgemeinen Interesse. Mit harten Ansagen macht man keinen kriminellen Afghanen zu einem besseren Menschen. Jugendarbeiter, Sozialpädagogen, Bewährungshelfer, Anti-Gewalttrainer wissen, wie steinig der Weg ist. Oft braucht es jahrelange Therapie, bis ein frauenverachtender, gewalttätiger Mann bereit ist, Verantwortung zu übernehmen und sich zu ändern. In Österreich muss jeder Migrant, jede Migrantin in einen Wertekurs. Nichts gegen diese Einrichtung. Für manche Menschen bietet sie gute Orientierung. Eine gezielte Auseinandersetzung mit toxischen Männlichkeitsbildern bieten diese Kurse aber nicht einmal ansatzweise. Salzburg zeigt vor, wie sie aussehen könnte: 2016 holte man "Heros" ins Land, eine Initiative, die sich dem Kampf gegen "Unterdrückung im Namen der Ehre" verschrieben hat und Community-Vorbilder ausbildet, die sich in Schulen und Jugendeinrichtungen - "Peer to Peer" - um auffällige, gewaltbereite Burschen kümmern. Doch Projekte wie "Heros" müssen ständig um Geld betteln.

Könnten wir uns sämtliche Anstrengungen sparen, wenn wir niemanden hereinlassen? An den Grenzen mit Kriegstechnik aufzufahren, führt in der Tat dazu, dass weniger Menschen durchkommen. Doch offenbar ist Naivität kein linkes Privileg. Die Annahme, man könnte Europa mit militärischer Kunst befestigen, ohne dafür im Inneren einen Preis zu bezahlen, ist ungefähr so plausibel wie die Vorstellung, in einer "Gated Community" ließe es sich so unbeschwert und frei leben wie in einer Gegend, wo man die Haustür offen und das Radl unversperrt lassen kann. Also alle rauswerfen, die sich nicht an Regeln halten? Das populistische Versprechen katapultiert uns in ein menschenrechtliches Dilemma: Zwar könnten wir es angesichts einer erschütternden Gewalttat mit den Standards einfach einmal nicht ganz so genau nehmen und um jeden Preis weiter nach Afghanistan abschieben. Doch so wie es derzeit aussieht, könnte das Land am Hindukusch in absehbarer Zukunft zu einem Talibanstaat werden. Und dann? Überweist die Europäische Union im Rahmen von Rückführungs-Deals Millionen von Euro an eine islamistische Terrorgruppe?

"Abschreckung funktioniert, aber völlig anders als gemeinhin angenommen"

Längst haben Herkunfts- und Transitländer begriffen, dass solche Abkommen ein Hebel sind, um an Geld zu kommen. Außerdem: Flüchtlinge sind keine Objekte, die man auf der Weltkarte hin und her schieben kann. Abschreckung funktioniert, aber völlig anders als gemeinhin angenommen. Wer vor Krieg und Hunger flüchten muss, sucht zunächst in der Region oder im Nachbarland Schutz. Von dort geht es irgendwann weiter. Flucht und Migration sind ein Investment, an das sich die Erwartung knüpft, dass es sich lohnt - wenn schon nicht für einen selbst, so wenigstens für die Kinder. Flüchtlinge und Migranten ziehen dorthin, wo sie sich den höchsten Gewinn versprechen. Glaubt man den wenigen Studien, die es dazu gibt, sind drei Faktoren maßgeblich: Demokratie, Arbeitschancen, Anbindung an eine Community. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass selbst berüchtigt schlechte Asylunterkünfte wie beispielsweise in Dänemark niemanden fernhalten. Das gelingt ausschließlich Ländern, in die ohnedies niemand will und aus denen viele wegwollen. Das eine geht mit dem anderen einher, wie ein Blick über die Grenzen zeigt: Nicht nur Flüchtlinge wollen nicht nach Ungarn, Rumänien oder Polen, diese Länder schaffen es auch nicht, die eigenen Fachkräfte im Land zu halten.

Wer hingegen das Glück hat, in demokratischen Verhältnissen und mit guten Jobaussichten zu leben, muss sich nolens volens mit Einwanderung arrangieren. Wird die Regierung irgendwann beginnen, sich mit allen im Land lebenden Menschen zu befassen, ihren Bedürfnissen, Einstellungen und auch ihrer Kriminalität? Das ist die einzige Chance, damit nicht bald wieder etwas Schreckliches passiert, damit nicht bald wieder ein Mädchen attackiert, vergewaltigt oder umgebracht wird. Viel mehr haben wir nicht. Aber diese kleine Chance sollten wir nützen.


EDITH MEINHART befasst sich seit vielen Jahren mit Einwanderung, Menschenrechten und sozialen Fragen. Dass der gewaltsame Tod eines Mädchens instrumentalisiert wird, war zu erwarten. Die profil-Redakteurin glaubt allerdings nicht, dass symbolische Politik aus einem kriminellen Afghanen einen besseren Menschen macht.

Edith   Meinhart

Edith Meinhart

ist seit 1998 in der profil Innenpolitik. Schreibt über soziale Bewegungen, Migration, Bildung, Menschenrechte und sonst auch noch einiges