Sand in den Kopf: Über die Dauerkrise als Normalzustand

Komfortzone: Über die Dauerkrise als Normalzustand

Rückblick 2014. Eva Linsinger über die Dauerkrise als Normalzustand

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Die Comicfigur „Captain America“ verfügte über ein geheimes Supersoldatenserum, ein Kostüm in den Farben der US-amerikanischen Flagge und kämpfte ab dem Jahr 1941 bevorzugt gegen Nazis und Saboteure. Der poppige Propagandafeldzug war damals, vor der Kulisse des Weltkrieges, ein Reißer; die späteren Einsätze des Superhelden gegen Kommunisten und andere Bösewichte konnten an diese Erfolge nicht anschließen – „Captain America“ musste abtreten. Mehr als ein halbes Jahrhundert später erlebt die Zeichentrickfigur eine Wiedergeburt: als „Captain Euro“, gewandet in die blaue EU-Flagge mit gelben Sternen. Eine Werbeagentur reaktivierte den alten Helden, der nun jedoch mit Angela Merkel und Barack Obama über Budgetdefizite fachsimpelt, gegen EU-Gegner wettert und den Binnenmarkt preist – stets in platten Sätzen und völlig pointenfrei. Auch Comic-Geschichte kann sich offenbar als Farce wiederholen.

Die Finanz- und Eurokrise ist nach sechs Jahren im Stadium des Kalauers angekommen, eines schlechten noch dazu. Zu mehr als müden Scherzchen vermag sich „Captain Euro“ nicht aufzuraffen – und er steht damit beileibe nicht allein: Nach gefühlten 100 Krisengipfeln und Fantastilliardenpaketen macht sich quer über den Kontinent Erschöpfung breit.

Rekordarbeitslosigkeit, kein Wirtschaftswachstum, keine Zinsen: Katastrophennachrichten sind vom Ausnahme- zum Normalzustand mutiert und lösen bestenfalls noch ein mattes Schulterzucken aus. Die Krise in der Endlosschleife ist kein Aufreger mehr. Wenn Griechenland, wie Anfang Dezember, wieder Milliarden braucht und auf Neuwahlen zusteuert, sorgt das nicht einmal mehr für künstlich erregte Schlagzeilen – geschweige denn für Sondersitzungen der Parlamente auf der einen oder Protestcamps auf der Gegenseite.

Diese Lethargie kann recht behaglich sein, vor allem für jene Politiker, die es längst aufgegeben haben, etwas gegen die Dauerkrise unternehmen zu wollen. Für sie hat sich Krise gewissermaßen zur Komfortzone entwickelt. Wie praktisch, dass sich auch das p. t. Wahlvolk inzwischen daran gewöhnt hat! Das große Gähnen erfordert keine Antworten, keine Rezepte – nicht einmal mehr Scheinaktivitäten. Statt den Kopf in den Sand steckt man einfach Sand in den Kopf.

Was wurde nicht alles feierlich versprochen in jenen hektischen Zeiten, als jeder, der etwas auf sich hielt, Begriffe wie „Triple A“, „Bankerboni“ oder „Zinsspreads“ in seinen aktiven Wortschatz aufnahm. Die Politik werde, so hieß es, die Finanzmärkte regulieren, die Macht der Banken und Ratingagenturen zurechtstutzen und den Euro zu einer echten Gemeinschaftswährung machen, mit gemeinsamer Wirtschaftspolitik und allem, was sonst noch dazugehört. Finanztransaktionssteuer! Trennbankensystem! Schuldenbremse! Aus für Steueroasen!

Nichts davon ist auch nur in Ansätzen Realität geworden. Über die Finanztransaktionssteuer wird nach wie vor mit Hingabe gestritten, derzeit blockiert gerade Frankreich. Selbst Bundeskanzler Werner Faymann erhofft sich mittlerweile vom beherzten Einsatz gegen das Freihandelsabkommen TTIP mehr Popularitätsboni. Die viel gerühmte Bankenunion wird frühestens in zehn Jahren wirksam werden, bis dahin bleibt sie ein zahnloses Instrument. Die Ratingagenturen spielen noch immer lustiges Staatenversenken, derzeit ist, wieder einmal, Italien an der Reihe, das nur noch eine Stufe über Ramschstatus liegt. Die Top-Banker verdienen wieder so viel wie vor der Krise. Die Trennung der Banken in aggressive Zocker- und biedere Sparbuchinstitute blieb eine vollmundige Ankündigung auf Papier – in Form eines Berichts der EU-Kommission. Selbst die USA, die als Musterland des ungezügelten Kapitalismus gelten, agieren wesentlich forscher als ihre europäischen Kollegen; dort ist immerhin die sogenannte „Volcker Rule“ zur Regulierung des Wertpapierhandels bereits in Kraft.
Der Anspruch, die Politik müsse wieder das Primat über die Wirtschaft erlangen, hat sich in sein Gegenteil verkehrt. Die Krise wies die europäische Politik entschieden in ihre Schranken und raffte Regierungen gleich reihenweise hinweg. Von den 28 Staats- und Regierungschefs, die beim EU-Gipfel im Dezember 2008 fassungslos darüber diskutierten, mit welch unheimlicher Geschwindigkeit die Krise über den Atlantik schwappte, sind noch exakt zwei im Amt: Angela Merkel – und Werner Faymann.
Der österreichische Bundeskanzler hat es sich in der Komfortzone rechtschaffen gemütlich gemacht. „Die Krise“ dient Faymann seit Jahren als Lizenz zum Nichtstun, der Stehsatz „Österreich ist gut durch die Krise gekommen“ als selbsterklärender Arbeitsnachweis – völlig ungeachtet der Tatsache, dass Österreich geradewegs auf eine Rezession zusteuert und außerdem noch lange unter der tollpatschigen Hypo-„Rettung“ zu ächzen haben wird.

Die Krise ist vom Stammtischaufreger Nummer eins zur Geheimwissenschaft für Feinspitze geschrumpft. Griffige Gruselsätze wie jener der Investorenlegende Warren Buffett, wonach Finanzderivate „Massenvernichtungswaffen“ sind, werden zwar immer wieder gern zitiert, doch den großen Erklärwälzer, das kommentierte „Lexikon für Derivate“ mit fast 5000 Seiten, haben dann doch die wenigsten gelesen. Dieses nebulöse Paralleluniversum bringt für das handelnde Personal durchaus auch Vorteile mit sich. Nicht ohne Grund meinte der frühere US-Notenbankpräsident Alan Greenspan einmal unverblümt: „Wenn ich mich für Sie klar ausgedrückt habe, dann haben Sie etwas missverstanden.“

Folgerichtig sind seine Kollegen von der Europäischen Zentralbank die großen Krisengewinnler. Die Kapitulation der Politik zeitigt handfeste Konsequenzen: Während die Regierungschefs permanent zaudern, zögern und streiten, ist die EZB eiskalt in das dadurch geschaffene Machtvakuum vorgestoßen. Nie zuvor hatten die Währungshüter derart viel Einfluss; sie steuern Zinsen und Geldmengen, lenken Preise, beaufsichtigen Banken. Der EZB-Rat muss sich keiner Wahl stellen, sich vor keinem Parlament rechtfertigen – und ist dennoch zur europäischen Ersatzregierung aufgestiegen. Oft schon wurde das Demokratiedefizit innerhalb der EU beklagt, nie war es augenfälliger als in der Dauerkrise.

Im Grunde ist die Eurozone mittlerweile eine Zentralbankverwaltungswirtschaft, in der ein Augenbrauenheben von EZB-Chef Mario Draghi mehr Einfluss auf die geheimnisvollen Märkte hat als jedes noch so hochkarätig besetzte Gipfeltreffen von Politikern. Das mag, theoretisch betrachtet, ein faszinierendes staatspolitisches Experiment sein, de facto bedeutet es einen permanenten Rechtsbruch. „Um den Euro zu retten, brachen wir Recht“, gibt auch Christine Lagarde, Vorsitzende des Internationalen Währungsfonds, unumwunden zu.

Auch Demokratiebeugung kann zum Normalzustand werden. Anfang Dezember verkündete die EZB, den massenhaften Ankauf von Staatsanleihen in der Höhe von 1000 Milliarden Euro vorzubereiten. Klingt dröge – hat aber enorme politische Sprengkraft. „Das wirkt wie die Einführung von Eurobonds, für die Eurostaaten gemeinsam haften“, analysiert Clemens Fuest, der Präsident des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung. Eurobonds? Jene Vergemeinschaftung von Staatsschulden, über die Faymann, Merkel und Co. seit Jahren so erbittert wie ergebnislos diskutieren? Um 1000 Milliarden Euro? Es mag recht komfortabel sein, selbst derart weitreichende Beschlüsse nicht argumentieren zu müssen und sie einfach in die rechtsfreie Zone EZB auslagern zu können. Somit ist auch niemand dafür verantwortlich. Nur: Was hat das eigentlich noch mit Demokratie zu tun?
Wenig bis gar nichts, findet selbst der deutsche Philosoph und bekennende Europa-Anhänger Jürgen Habermas, der mittlerweile empört die „Entmündigung der Bürger“ beklagt. Dabei gehört der 85-Jährige eigentlich zur raren Spezies der unerschütterlichen Optimisten – und zur verschwindenden Minderheit von Intellektuellen, die sich zu der unerfreulichen Gemengelage in Europa überhaupt noch äußert. Selbst die Denker scheinen inzwischen resigniert zu haben.

Auch die Ökonomie hat kaum Erklärungsmuster für den neuen Krisenkapitalismus aus Mini-Wachstum, Mini-Inflation und Mini-Zinsen anzubieten. Die Bestandsaufnahme klappt noch routiniert, etwa wenn der Harvard-Ökonom Larry Katz lästert, die Post-Finanzcrash-Gesellschaft gleiche einem instabilem Hochhaus mit vollgestopften Untergeschoßen, leeren Mitteletagen und einem ausufernden Penthouse ganz oben – und einem Lift, der nicht mehr funktioniert. Doch der treffenden Zustandsbeschreibung folgen keine Rezepte. Woher auch? Die Krise falsifiziert alle gängigen ökonomischen Weisheiten.

Das Paradebeispiel dafür ist die Inflation. Seit den 1920er-Jahren, als in Deutschland und Österreich Hyperinflation die Preise grotesk nach oben trieb, ein Ei 320 Milliarden Reichsmark kostete, Arbeiter wegen der grassierenden Geldentwertung zweimal täglich bezahlt wurden und ihre Geldscheine in Scheibtruhen heimkarrten, gilt als eiserne wirtschaftliche Grundregel: Wenn Staaten ihre Notenpressen anwerfen und Geld drucken, dann ist Inflation die unausweichliche Folge. Dieses Einmaleins der Wirtschaftswissenschaft scheint jedoch außer Kraft gesetzt zu sein, die Mechanismen der Ökonomie werden in billionenteuren Live-Experimenten ständig neu formatiert. Die Europäische Zentralbank pumpt unablässig Geld in die Märkte – dennoch dümpelte die Inflation in der Eurozone zuletzt bei 0,3 Prozent, einer Rate, die der Deflation bedrohlich nahekommt. Der Ziel-Inflationswert der EZB liegt bei rund zwei Prozent.

Beinahe noch ungemütlicher mutet die Erkenntnis an, dass auch die Formel „Niedrige Zinsen = höheres Wachstum“ ihre Gültigkeit verloren hat. Die EZB senkt den Leitzins von einem Rekordtief zum nächsten; derzeit liegt er bei 0,05 Prozent. Viel Luft nach unten ist nicht mehr, doch das Wachstum will und will sich nicht einstellen, das billige Geld versickert. Immer wieder rufen Wirtschaftsforscher das Ende der Krise aus – um wenig später die Realität neuer, düsterer Wirtschaftsaussichten zur Kenntnis nehmen zu müssen. „Die Eurozone bleibt der Schwachpunkt und das Sorgenkind der Weltwirtschaft“, seufzte OECD-Generalsekretär Angel Gurria im November.
Viele Musterschüler gibt es nicht mehr. Auch Japan, die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt, ist gerade wieder einmal in die Rezession gerutscht. Dabei war die Wirtschaftspolitik von Ministerpräsident Shinzo Abe – viel Geld drucken zu lassen, milliardenschwere Konjunkturprogramme anzuschieben und die Bevölkerung mit teils skurrilen Methoden zum Konsum aufzufordern („Kaufen Sie jetzt ein Grab!“) – zwischen Washington und Brüssel als „Abenomics“ gefeiert worden. Doch die Massenaufrufe an die geneigten Verbraucher verhallten ungehört, die Wirtschaft schrumpft wieder. So wird die alte Streitfrage „Ist Austerität schädlich?“ mit einem entschiedenen Jein beantwortet, frei nach dem Motto: Keine Austerität ist auch keine Lösung.

Ein klarer Fall für „Captain Euro“!

Eva   Linsinger

Eva Linsinger

Innenpolitik-Ressortleitung, stellvertretende Chefredakteurin