Konflikt in der Pfarre Heiligenstadt: „Unser Herr Michael“

Die Augustiner Chorherren in Klosterneuburg betreuen die altehrwürdige Pfarre Heiligenstadt, das Herz des katholischen Wiener Bürgertums. Seit dem seltsamen Abgang eines Seelsorgers klafft hier aber eine offene Wunde.

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Plötzlich nicht mehr da. Ohne Ankündigung. Ohne Erklärung. Elisabeth Dostal sagt, ihr sei „die Luft weggeblieben“, als sie eines Sonntags in die Kirche kam und jemand anderer die Messe hielt. Dostal ist Ärztin, ihr gehört das gleichnamige medizinisch-diagnostische Labor. Mit der Entfernung des Pfarrers von Wien-Heiligenstadt will sie sich nicht abfinden. Deshalb macht sie bei einem Komitee mit, das für seine Rückkehr kämpft.

Es war ein Schock, als sich Michael Hofians - „unser Herr Michael“, wie er von seiner gläubigen Schar vertraulich genannt wird -, im Mai des Vorjahres ins Auto setzte und nach Italien verschwand, wo er ein Haus besitzt. Für Dostal und ihre Mitstreiter verlor das Pfarrleben danach an Glanz. Das „kulturelle, soziale, historische und spirituelle Herz von Heiligenstadt“ sei seit seinem plötzlichen Abgang „irgendwie leer“, formuliert es der diplomierte Sozialberater Michael Zoratti.

Die Pfarre wird von den Augustiner Chorherren in Klosterneuburg betreut. Das Stift im nahen Niederösterreich entsandte den Ordensmann Michael Hofians vor 17 Jahren nach Heiligenstadt und zog ihn im Mai 2020 von einem Tag auf den anderen ab. Als profil bald danach mit dem 68-jährigen telefonierte, klang er bitter und wütend: Er sei in der Lagune von Venedig „im Exil“. Die Worte des Stiftsdechants, der ihn gedrängt habe, „mich zu schleichen, aber schnell, bevor die Journalisten kommen“, hallten noch nach. Der Kapitelrat seines Klosters hatte ihn „mit sofortiger Wirkung“ als Pfarrer „entpflichtet“.

Warum dieser schmachvolle Abgang? Im Pfarrkindergarten, der Hofians unterstand, waren Missbrauchsvorwürfe laut geworden. Eine Mutter bezichtigte einen Mitarbeiter, ihre Töchter sexuell belästigt zu haben. Dieses Mal wollte das Stift Klosterneuburg es richtig machen: Nicht wegschauen. Nicht mauern. Viel zu oft hatte man in der Vergangenheit Täter davonkommen lassen. Schlägt das Pendel nun in die andere Richtung aus? Nicht wenige in Heiligenstadt empfinden es so. Der davongejagte Pfarrer war nie beschuldigt, soll aber den Verdachtsfall nicht gemeldet haben. Das Stift belegt dies auf profil-Anfrage mit einer Chronologie. Derzufolge habe Hofians einer Mitarbeiterin der Kinder- und Jugendhilfe, die ihn auf die Anzeigenpflicht aufmerksam gemacht habe, geantwortet, er habe „keinen Verdacht gesehen“ und nicht gewusst, „was er melden hätte sollen“. 

Hofians hingegen vermutet einen Racheakt. Er habe den Stiftsdechant sehr wohl unterrichtet –telefonisch, wofür es eine Zeugin gäbe. Außerdem habe er sämtliche Aufträge umgesetzt: Das Jugendamt – durch die Anzeige der Eltern alarmiert - habe verlangt, dafür zu sorgen, dass der verdächtige Pädagoge nie alleine mit Kindern ist. Darauf habe er geachtet. Als der Mann tags darauf zu suspendieren war, habe er das unverzüglich in die Wege geleitet. Die Vorwürfe selbst sind mittlerweile ad acta gelegt. Keines der vermeintlichen Opfer habe eine nachvollziehbare, geordnete Darstellung der Vorfälle geben können, befand eine Sachverständige. Die Ermittlungen wurden daraufhin eingestellt; die Eltern verzichteten auf einen Fortsetzungsantrag. Der Kindergärtner klagte das Stift auf Wiedereinstellung, das sich schließlich mit ihm verglich. Der Kindergärtner wollte sich auf profil-Anfrage zur Causa nicht äußern. 

Für die fromme Gemeinde steht nun die Rehabilitierung des Pfarrers an. Vergangene Woche traf sich eine Runde beim „Mayer am Pfarrplatz“. Der Heurige grenzt ans Pfarrhaus und den riesigen Garten mit den alten Bäumen, wo sich seit jeher ein Teil des christlichen Lebens unter freiem Himmel abspielt: Erntedankfeste, Weihnachtsbasare, Flohmärkte, Lesungen. Bei einem Glas Wein und einer Brettljause bemühen sich die Ärztin Dostal, der Sozialberater Zoratti, die Pädagogin Karoline Gruber und der Exportunternehmer Kurt Eder jene Lücke zu beschreiben, die nach dem Verschwinden des Pfarrers zurückblieb.

Karoline Gruber sah in 30 Jahren Pfarrmitgliedschaft einige Priester kommen und gehen. Als ihre Kinder ins Erstkommunionsalter kamen, begann die gelernte Pädagogin, sich für den Nachwuchs zu engagieren: Jungschar, Firmunterricht, Jugendgruppen, Kindermetten. Pfarrer Michael sei von Beginn an „ungewöhnlich“ gewesen. In seinem früheren Leben besaß der Goldschmied ein gutgehendes Geschäft. Er hatte jung geheiratet und nach dem Zerbrechen der Ehe die gemeinsamen Kinder großgezogen. Er war mit Gott und der Welt vernetzt, hatte Niki Laudas Zwillinge getauft und beim Begräbnis der Rennfahrer-Legende im Stephansdom zelebriert. Vor allem habe er sich nie ein Blatt vor den Mund genommen.

Sowohl in Heiligenstadt als auch im Stift hätten sich manche über seine „unbotmäßige“ Art alteriert. Viele andere schätzten ihn genau dafür. Die St. Jakobskirche am Heiligenstädter Pfarrplatz füllte sich. Den Kindern richtete der Pfarrer eine eigene Ecke ein. Er sei stets mit einem „warmen Herzen“ aus der Kirche herausgekommen, schildert der Unternehmer Eder. „Unser Herr Michael“ habe den Katholiken in Heiligenstadt eine Heimat gegeben, sagt Zoratti. Wo Not war, habe er umstandslos geholfen, erzählt die Pädagogin Gruber.

1300 Unterschriften sammelte das „Unterstützungskomitee der Pfarre Heiligenstadt“. Sie alle wollen, dass der „stante pede abgesetzte Pfarre ebenso stante pede wieder eingesetzt wird“ (Dostal). Mehrmals pilgerte man ins Stift, um das Anliegen an höchster Stelle zu deponieren. An eine erste Audienz erinnert man sich mit Schaudern. Der Anwalt des Stiftes sei nicht müde geworden, ihren Pfarrer in ein schlechtes Licht zu setzen. Bei einem neuerlichen Gespräch, das versöhnlicher verlaufen sei, habe man erfahren, dass der Pfarrer bis zum April 2022 in Italien ausharren müsse. Eine Rückkehr nach Heiligenstadt wollte man nicht zusichern.

Das Stift sagt auf profil-Anfrage, es geht nicht um Schuld oder Unschuld des Kindergärtners, entscheidend sei das Faktum, dass der Pfarrer „seiner Verantwortung nicht nachkam, den Verdachtsfall zu melden, um so eine Aufarbeitung zu ermöglichen.“ Weil Hofians in diesem Punkt auch keine Einsicht zeige, fehle es an Vertrauen: „Aus heutiger Sicht ist er nicht als eine verantwortlich handelnde Aufsichtsperson zu beschäftigen.“ Und: Der Kapitelrat des Stiftes und die Erzdiözese Wien hätten mit seiner Abberufung „korrekt und unmittelbar“ gehandelt.

Für Hofians brach mittlerweile das zweite Jahr in der Lagune von Venedig an. Die Anstrengungen ihn zurückzuholen rühren ihn: „Die Pfarre hofft, dass es gelingt, ich bin nicht so sicher“. Man habe ihm „x-mal bedeutet, dass ich mir keine Illusionen machen soll.“ Packte das Stift eine Gelegenheit beim Schopf, um einen Unbequemen zu entfernen? Hofians – und viele seiner Unterstützer – glauben das. Schließlich hatte sich der Pfarrer zwei Jahren per geharnischtem Anwaltsschreiben geweigert, seinen Kindergarten in die St. Nikolausstiftung der Erzdiözese Wien einzubringen. Dort bündeln sich 90 Kindergärten und Horte, neben Heiligenstadt blieben nur Hetzendorf und Hütteldorf draußen. Dass er das „hierarchische System“ der Augustiner Chorherren nicht gut vertrage, wie er einräumt, macht das Verhältnis zum Stift nicht leichter. 

Im Zuge der Recherchen tauchte das Gerücht auf, Hofians könnte einem Liegenschaftsgeschäft im Weg gestanden sein. In der Vergangenheit kursierten immer wieder Befürchtungen, der Pfarrgarten würde eines Tages mit Chalets zugepflastert. Tatsächlich wäre die Grünfläche zwischen der Hammerschmidtgasse und der Grinzingerstraße - in Summe ein Hektar – eine lukrativste Erschließung. Hofians sei allen einschlägigen Begehrlichkeiten mit einem vehementen „Nur über meine Leiche!“ entgegengetreten. Dank seiner guten Verbindungen zu Prominenten und Medienleuten war ihm die Mobilisierung von Widerstand jederzeit zuzutrauen. Nach seinem Abgang loderten die Gerüchte erneut auf.  Aus dem Stift kommt auf profil-Anfrage dazu ein klares Dementi: „Die Pfarrwiese bleibt Pfarrwiese.“ Ein Baurecht gebe es bloß für ein kleines, eingezäuntes Areal, das an einen Anrainer verpachtet sei. 

Anno 2021 verteilen sich sonntags einige Dutzend Gläubige in den Bankreihen. In besseren Zeiten waren es 200. Wie geht es weiter? Laut Rahmenordnung der katholischen Kirche seien die „nötigen Schritte“ einzuleiten, „um den guten Ruf des Verdächtigen wiederherzustellen“, wenn sich ein Verdacht in Luft aufgelöst hat. Hier setzt Rechtsanwalt Oktavian Eiselsberg an, der dem Unterstützungskomitee juristisch zur Seite steht: „Man hat einen ersten, massiven Rundumschlag gesetzt. Die nächsten Schritte scheint sich niemand überlegt zu haben.“ Die Pfarre sehne sich nach Ruhe, sagt Zoratti: „Jesus hat mit Liebe geheilt. Wir erleben derzeit laufend das Gegenteil“. Der vom Stift eingesetzte polnische Ersatzmann sei „nett und bemüht“, habe die Gemeinde jedoch „liturgisch ins vorvorige Jahrhundert zurückversetzt“. 

Nicht nur die Ärztin Dostal fährt zur Messe neuerdings lieber „in die Stadt hinein“. Auch viele andere haben sich nach einer neuen Kirche umgesehen. 

Edith   Meinhart

Edith Meinhart

ist seit 1998 in der profil Innenpolitik. Schreibt über soziale Bewegungen, Migration, Bildung, Menschenrechte und sonst auch noch einiges