Grundsätzlich gibt es in Österreich zwei Statistiken, an denen sich Kriminalität zumindest in Teilen messen lässt: Die Kriminalstatistik der Polizei zählt angezeigte Delikte, die Verurteilungsstatistik der Justiz gefällte Schuldsprüche. Doch: „Die Statistiken haben große Schwachstellen und beleuchten immer nur einen Ausschnitt“, sagt Veronika Hofinger, Kriminalsoziologin an der Universität Innsbruck: Die Verurteilungsstatistik zeigt naturgemäß nicht alle Verbrechen – nicht einmal alles, was der Staat als Rechtsbruch erkannt hat. Denn mit Diversionen können Staatsanwaltschaften und auch Gerichte bei Schuldeinsicht seit dem Jahr 2000 Auflagen erteilen, ohne dass es zu einem Schuldspruch kommt. Jede Erleichterung der Diversion führt daher zu einem starken Rückgang der Verurteilungen. Gerade im Suchtmittelbereich kommt die Diversion oft zum Einsatz. Bei schweren Gewaltverbrechen ist diese außergerichtliche Einigung aber keine Option.
Die polizeiliche Kriminalstatistik ist indes eine reine Anzeigenstatistik. Was nicht angezeigt wird, fehlt hier gänzlich – das ist etwa bei Gewalt im so genannten „sozialen Nahraum“ oder auch zwischen Kriminellen oft der Fall, wenn beide Parteien kein Interesse haben, die Polizei zu rufen. Andererseits steckt nicht hinter jeder Anzeige eine Straftat – das klären erst die Staatsanwaltschaft und danach das Gericht. Taucht die als gestohlen gemeldete Geldbörse doch in der Übergangsjacke auf, bleibt der Diebstahl als Anzeige in der Kriminalstatistik.
Dazu habe auch die Anzeigenbereitschaft einen großen Einfluss auf die Statistik, sagt Hofinger. Einen stärkeren Anstieg gab es laut Kriminalstatistik 2024 etwa im Bereich der Jugendkriminalität. Das lag aber nicht unbedingt daran, dass die Jugend nach Corona so viel krimineller wäre als zuvor. Mehr als ein Viertel aller Anzeigen gegen Minderjährige ging auf das Konto von drei Burschen – profil berichtete ausführlich. Und: Das Innenministerium führte mit März 2024 eine eigene Einsatzgruppe zur Bekämpfung der Jugendkriminalität ein. „Dies führt zwangsläufig zu einem Anstieg der erfassten Jugenddelikte, bedeutet jedoch nicht zwangsläufig, dass tatsächlich mehr Straftaten begangen werden“, betont das Innenministerium.
Virtuelle Gewalt
Jugendkriminalität sei in der Regel episodisch und wachse sich aus, sagt Kriminalsoziologin Hofinger. Dunkelfallstudien würden zeigen, dass 90 Prozent der jungen Männer zumindest einmal etwas strafrechtlich Verbotenes getan hätten. Laut dem deutschen Sicherheitsbericht treten bei jungen Menschen insbesondere „gelegentliche und bagatellhafte Eigentumsdelikte, aber auch einfache Körperverletzungen“ gehäuft auf. Ändert sich hier die Anzeigenbereitschaft – oder polizeiliche Kontrolle – auch nur leicht, kommt es folglich zu einem starken Anstieg in der Kriminalstatistik.
Umso mehr, wenn die vermeintlichen Täter nicht als heimisch wahrgenommen werden: „Schülerbefragungen zeigen, dass die Anzeigenbereitschaft gegenüber als fremd wahrgenommene Personen bei Gewaltkriminalität doppelt so hoch ist“, sagt Hofinger. Dabei spielen auch die mediale Berichterstattung und das politische Klima eine Rolle, sagt Kriminologin Beclin: „Wenn man ständig hetzt und der Bevölkerung einredet, dass alle Ausländer gefährlich und kriminell sind, steigt natürlich die Anzeigebereitschaft gegenüber dieser Bevölkerungsgruppe.“
Gestiegen sind Anzeigen im Vergleich zu den Vor-Corona-Jahren bei der Internetkriminalität und den Gewaltdelikten. Wobei das mitunter zusammenhängt: Wie beim Rest der Kriminalität verlagert sich auch Gewalt in den digitalen Raum. „Gefährliche Drohungen oder Erpressungen, die früher physisch begangen worden sind, finden jetzt online statt“, erklärte der Direktor des Bundeskriminalamts (BK) Andreas Holzer bei der Präsentation der Kriminalitätsstatistik für das Jahr 2023. Beide Delikte zählen als Gewaltverbrechen und scheinen auch dann in der Statistik auf, wenn sie im virtuellen Raum begangen wurden.
In der Statistik auffällig ist der häufigere Griff zum Messer: Stichwaffen werden seit 2014 deutlich öfter bei Gewalttaten verwendet, angedroht oder mitgeführt. Doch der Rückgang bei Hieb- und Schusswaffen war so markant, dass die Gesamtzahl der Waffengewaltfälle stabil blieb.
Dass der Anstieg der Anzeigen wegen Gewaltverbrechen keinen exorbitanten Anstieg der Gewalt im Land als Ursache haben dürfte, zeigt die Verurteilungsstatistik: Pro Kopf wurden 2024 sogar weniger Menschen aufgrund von Gewaltdelikten verurteilt als etwa noch 2019.
Eingestellt statt angeklagt
Um Kriminelle abzuschrecken, sei weniger die Strafhöhe entscheidend, sondern ob es überhaupt zu einer Verurteilung kommt, sagt Kriminologin Beclin: „Besonders in Bereichen, wo Kriminalität wiederholt passiert – etwa häuslicher Gewalt – sieht es hier schlecht aus.“ Denn während die Polizei teils personell aufgestockt wurde, würden die Ressourcen bei Staatsanwaltschaften und Gerichten fehlen, sagt die Kriminologin, vor allem in Wien gäbe es schlicht zu wenig Staatsanwältinnen und Staatsanwälte.
Seit der Reform der Strafprozessordnung im Jahr 2008 habe die Staatsanwaltschaft zudem nicht mehr den Untersuchungsrichter als unterstützende zweite Instanz: „Es wundert mich nicht, dass die Zahl der Einstellungen seitdem gestiegen ist“, sagt Beclin: „Nach wie vor wird viel eingestellt, das man mit mehr Personal und Ermittlungsaufwand vermutlich zum Teil anklagen könnte. Daher und aufgrund der gestiegenen Zahl der Diversionen seit der Reform 2016 klaffen die Zahlen der Anzeigen und Verurteilungen stark auseinander.“ Wer Österreich wirklich sicherer machen will, müsse jedenfalls die Justiz personell aufstocken.
Die gute Nachricht: Der überwiegende Teil der Menschen in Österreich fühlt sich sicher. Am eigenen Wohnort fühlen sich sogar neun von zehn Personen sicher, zeigt eine Befragung im Auftrag des Innenministeriums aus dem Winter 2024. Die Bevölkerung am Land traut ihrer direkten Umgebung demnach noch etwas mehr als jene in der Stadt.
Kein Wunder: Als größtes Sicherheitsproblem im Alltag werden nicht Straßenkriminalität oder Einbrüche wahrgenommen, sondern gefährliche Situationen im Straßenverkehr. Denen ist man in der Stadt jedenfalls öfter ausgeliefert.