Lotte und Hugo Brainin: Am liebsten spricht er über ihren Widerstand gegen den Nationalsozialismus

Lotte Brainin (1920-2020): Eine stille Heldin

Ein zerbrechlicher Mensch ist im November 100 Jahre alt geworden und vergangene Woche verstorben: Lotte Brainin, Widerstandskämpferin und Auschwitz-Überlebende, die immer Angst hatte - aber immer mutig war, wenn ein Unrecht geschah.

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Was ist wahrer Heldenmut? Wahrscheinlich das: keinen Unterschied zwischen den Menschen machen; gegen Unrecht aufstehen, auch wenn es einem selbst schadet; ein rettendes Stück Brot der noch Schwächeren zu geben, wenn es darauf ankommt. Für Lotte Brainin kam es in Auschwitz darauf an.


Als es ihr gesundheitlich noch besser ging, war sie als Zeitzeugin in Schulen unterwegs. "Aber es ist immer eine halbe Sache, die du schilderst. Gewisse Dinge kann man nicht erzählen", sagte sie in einem ausführlichen Video-Interview, das sie den Forscherinnen Helga Amesberger und Brigitte Halbmayr Ende der 1990er-Jahre gab. profil hat sie noch 2015 besucht in ihrer Wohnung im 3. Wiener Gemeindebezirk, in der sie mit ihrem Mann lebt. Hugo ist ihre große Liebe. Und sie seine. Die beiden sind seit 73 Jahren verheiratet.

Vor einiger Zeit hat sich Lotte Brainin zurückgezogen von der Welt, aber bei sich geblieben ist sie immer. Sie hat eine Idee von Gerechtigkeit, die sich nicht auf die eigene Gesinnungsgemeinschaft oder Weltanschauung beschränkt. Ihr 100. Geburtstag wurde mit Töchtern, Schwiegersöhnen, Enkeln, Urenkeln und Freunden im virtuellen Raum begangen. Es gab eine Ehrung von Bundespräsident Alexander Van der Bellen, der Schriftsteller Doron Rabinovici sagte kluge Worte. Und in einem ihrer seltenen Video-Auftritte sprach Elfriede Jelinek einen Text zu Lotte Brainin. Die Nobelpreisträgerin ist - wie man so sagt - weitschichtig verwandt, doch in Wirklichkeit ist sie den Brainins ganz nah. Eine Wahlverwandtschaft. Das Leben von Lotte Brainin ist eine wenig bekannte Geschichte des Widerstandes, verschwiegen und verdrängt, weil sie nicht von klassischen Helden handelt, sondern von einer jüdischen Kommunistin, die im Wien der Zwischenkriegszeit in bitterer Armut und Judenhass aufwuchs.


Lotte Brainin, geborene Sontag, kam am 12.11.1920 als jüngstes von fünf Kindern in der Brigittenau zur Welt. Die Eltern waren 1914 vor Pogromen aus der Ukraine geflüchtet. In Wien zog die Familie von Notwohnung zu Notwohnung. Die Mutter, Sozialdemokratin, schneiderte in Heimarbeit; der Vater, arbeitslos und darüber verzweifelt, schlug schnell zu. Auch die Zeiten waren gewalttätig. Im Februar 1934 wurden Gemeindebauten beschossen, auf den Straßen marschierten Nazi-Prügeltrupps...

Glücklich war Lotte Sontag nur in ihrer sozialdemokratischen, später illegalen kommunistischen Jugendgruppe. Sie wanderten durch den Wienerwald , sangen revolutionäre Lieder. Der Proviant, den jeder von daheim mitbekommen hatte, wurde auf einen großen Haufen gelegt und gerecht geteilt. 1936 kam Lotte wegen verbotener Flugblätter in Arrest. Da war sie 16. Als zwei Jahre später die Nationalsozialisten in Österreich die Macht übernahmen, war das jüdische Mädchen in Lebensgefahr. Sie musste weg. Um die Bahnkarten zu bezahlen, die sie und eine Freundin außer Landes brachten, verkaufte ein Freund sein Fahrrad, ein anderer seine Bücher. Mithilfe von Schleppern schafften sie es nach Belgien. Lottes Brüder waren schon in Brüssel, die Mutter kam nach. Lotte putzte in fremden Haushalten. Als die Deutschen Belgien überfielen, ging sie in den Untergrund. Ihre Widerstandstätigkeit nannten die Obergenossen "Mädelarbeit",ein verharmlosendes Wort für die große Gefahr, der sich die Jungkommunistinnen aussetzten. Die Aufgabe bestand darin, mit Wehrmachtssoldaten anzubandeln, ihnen ins Gewissen zu reden, ihnen Anti-Nazi-Flugzettel zuzustecken. "Wir stellten ziemlich primitives Agitationsmaterial her, von dem wir uns einbildeten, es könne die deutschen Soldaten vom grausamen Wahnwitz Hitlers und seines Krieges überzeugen",stellte später der Philosoph Jean Améry, der zu Lottes Gruppe gehörte, in "Jenseits von Schuld und Sühne" bitter fest.


Lottes Freund Benno Senzer wurde als einer der Ersten bei einer Flugzettel-Streuaktion festgenommen und in die berüchtigte Festung Breendonk eingeliefert. Jean Améry, später ebenfalls dort inhaftiert, schilderte die Torturen durch die SS, wie er an Füßen und Händen aufgehängt wurde und kopfüber baumelte: den Verlust des Weltvertrauens durch Folter. 1943 vertraute Lotte einem Soldaten zu sehr, wurde verraten und festgenommen. In einem Keller verband man ihr die Augen. "Komplizen! Adressen! Treffpunkte!" Sie hörte das Klicken der Pistole an ihrer Schläfe. Sollen sie halt, dachte sie.

Es kam schlimmer. In den Monaten der Gestapohaft wurde sie gefoltert und misshandelt. An dieser Stelle im Interview versagt ihre Stimme. Wenn sie blutüberströmt in ihre Zelle zurückgeschleift wurde, gab ihr ein Mithäftling einen Keks, aus der Nachbarzelle tönte ein Wiener Lied. Ein freundliches Wort, Zuwendung statt Aggression, das half ihr, zu überleben. Mehr als alles andere. Das habe sie später in Auschwitz begriffen. Sie verriet niemanden. Doch irgendwann wusste die Gestapo genau, wer sie war-eine Jüdin aus Wien. Und das bedeutete: Auschwitz. Vom Fenster ihrer Zelle aus sah sie zufällig ihre Mutter im Gefängnishof. Ein letztes Mal.


In einem Viehwaggon, ohne Wasser, ohne Brot, drei Tage ging der Transport nach Auschwitz. Sie dachten an Flucht, hofften, dass Partisanen den Zug aufhalten würden. "Du verlierst den Verstand in so einer Situation. Dann wirst ausgeladen. Musst dich nackert ausziehen. Dann kommt so ein mieser Hund, ein SSler, rasiert dir überall die Haar weg. Am nächsten Tag hat man uns Nummern eintätowiert und geschert",erzählte sie im Interview. Sie war auf Böses gefasst. Sie kannte die Gerüchte. Sie sah die Schornsteine flackern. Und sie roch, was da brannte. Sie sah die ungarischen Juden ahnungslos vor den Anlagen Schlange stehen. Sie hörte Geschrei und Weinen und wie die Frommen ihre Lieder sangen.

Im Lager herrschte die Logik der Vernichtung und Selektion. Die Frauen mussten Steinblöcke von einem Platz zum anderen tragen und wieder zurück. Sie färbten sich die Wangen mit rotem Ziegelstaub, um gesünder auszusehen. Mithilfe der kommunistischen Lagerorganisation konnte man in ein Arbeitskommando kommen, nur so hatten jüdische Kommunistinnen wie Lotte Sontag überhaupt eine kleine Chance zu überleben. Sie arbeitete für eine Munitionsfabrik nahe dem Stammlager. Im Jänner 1945, wenige Tage vor der Befreiung des Lagers durch die Rote Armee, musste sie mitansehen, wie vier jüdische Frauen vor aller Augen auf dem Appellplatz hingerichtet wurden. Über Monate hindurch hatten sie Sprengpulver in winzigen Säckchen ins Lager hineingeschmuggelt und damit die Sprengung des Krematoriums IV ermöglicht, um das Töten zu beenden. Die vier Frauen wussten, es würde sie das Leben kosten-aber das anderer retten.

Die verbliebenen Lagerinsassen wurden im Jänner 1945 westwärts getrieben. Die NS-Herrschaft stand vor dem Ende, doch die Mordmaschinerie arbeitete weiter. Im Konzentrationslager Ravensbrück herrschten Hunger, Chaos, Exzesse. Unmenschliche Experimente wurden an den inhaftierten Frauen unternommen. Neuankömmling Lotte Sontag wurde von einer Wiener Genossin geschützt. Doch es gab andere, die von der Partei fallen gelassen wurden, die Abweichler, die nicht ganz Linientreuen. Lotte fand das abscheulich und sagte das auch. Daraufhin fand sie sich auf der Liste für ein weiteres Vernichtungslager in der Uckermark.


1945 zurück in Wien. Abgemagert, die Seele wund, allein. Ihre Mutter und ihr Freund in Auschwitz umgekommen, ihr Vater in Buchenwald. Wenigstens ihre Geschwister konnten nach Großbritannien und in die USA flüchten. Als Lotte in Wien ihre frühere Wohnung aufsuchte, wird sie von der Mutter ihrer besten Schulfreundin gefragt: "Du bist zurück? Wieso?"

Ihr Vertrauen in die Menschheit war erschüttert, ihre Nächte ein Alptraum. Hugo Brainin, einen Wiener Juden, der als Waise in England überlebt hatte, lernte sie bei einem Vortrag der KPÖ im Dezember 1946 kennen. Der junge Mann fiel ihr auf, weil er eingeschlafen war und schnarchte. Aus der KPÖ traten beide in den 1960er-Jahren aus.

"Nicht weiser und tiefer, wohl aber klüger haben wir Auschwitz verlassen", resümierte Jean Améry, der 20 Jahre nach Auschwitz in den Freitod ging. Lotte Brainin litt lange an den Spätfolgen der Lager. Hugo und ihre Töchter wurden ihr Glück. Sie arbeitete als Sekretärin, traf einmal in der Woche die "Ravensbrückerinnen". Es gab weltumspannende Familientreffen, Feste, Geburten. Ihr Fazit: "Entweder du bist wirklich solidarisch, oder du machst Unterschiede."

Lotte Brainin ist am 16. Dezember verstorben. Die Feier ihres 100. Geburtstags war ein stiller Triumph. Sie bekommt ein Ehrengrab von der Gemeinde Wien.

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Erschienen in profil 47/2020 vom 15.11.2020


Aus Elfriede Jelineks Rede über Lotte Brainin


"Was soll man zu diesem Leben sagen? Dieses Leben ist zu groß für mich. Man muss es wissen. Lotte hat dafür gesorgt, dass man es weiß.()Sie hat mir Dinge aus dem Konzentrationslager erzählt, die ich nicht über die Lippen bringen würde. Aufschreiben geht auch nicht.( )Kann man von einer solchen Frau durch die Darstellung des Erfahrenen das Eigene lernen oder lernen, dass das Eigene nie ganz das Eigene ist, weil es durch unzählige Opfer buchstäblich enteignet worden ist. Für alle. Für immer. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich Lotte ganz besonders fest an mich drücke und zum Geburtstag gratuliere, den sie daheim feiern wird, wo sie hingehört."

 

Christa   Zöchling

Christa Zöchling