Reportage

Mehr Freiheiten trotz Corona: Sehnsuchtsort Vorarlberg

In Vorarlberg darf man all das, was im Osten Österreichs verboten ist. Wie lange noch?

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Es ist eine andere Welt. Selige Pensionisten bei vollen Weingläsern vor einer Bar in der Frühlingssonne; Wind frischt auf, die Frisuren geraten in Unordnung, Prosecco-Flöten werden gehoben. Man ist glücklich, schön angezogen - und getestet. Anders geht gar nichts. Selbst die Generation 60 plus, die mit dem Internet noch fremdelt, die bei der digitalen Testprozedur noch Hilfe brauchte, hat es geschafft. Vorarlberg ist ein Versuchslabor- für eine bessere Zukunft.

Glückliche Gäste in luftig leeren Räumen vor kunstvoll angerichteten Speisen, dass einem beim Hinsehen das Wasser im Mund zusammenläuft, doch ihre Blicke hängen nicht am Teller, sondern wandern staunend umher, als wären diese Menschen das erste Mal in ihrem Leben in einem Restaurant.

"Wie eine kleine verlorene Liebe"

„Es ist eben mehr als Essen und Trinken, es geht um Geselligkeit; die Gäste sind dankbar, wieder da sein zu dürfen. Und ich bin es auch. Am ersten Tag bin ich mit Tränen in den Augen da gestanden. So eine Herzlichkeit hab’ ich noch nie erlebt. Wie eine kleine verlorene Liebe“. Es spricht der Wirt des Bräugasthofs Rössle-Park in Feldkirch.

Die Berge werfen schon ihre Schatten, bald wird er schließen, Sperrstunde ist für alle um 20 Uhr. Markus Nagele neigt nicht zum Überschwang, doch die vergangenen Monate haben ihn dünnhäutig werden lassen. Seit 22 Jahren führt er das Restaurant mit 200 Sitzplätzen drinnen und noch einmal so vielen draußen, und noch nie mussten er und seine Kellner, Koch- und Schankkräfte so lange pausieren. „Ich will nie wieder zusperren“, sagt  Nagele. Ob die Pandemie das zulässt? Die Infektionen gehen auch in Vorarlberg wieder in die Höhe und das viel infektiösere britische Virus, das den Osten Österreichs schon erobert hat, ist auch hier im Vormarsch.

Vereine und Verbände haben ihre Arbeit mit Kindern und Jugendlichen wieder aufgenommen.  Es darf draußen und drinnen, zahlenmäßig limitiert und getestet, gespielt, trainiert und umhergetobt werden. Andreas Kopf, Sportdirektor des Vorarlberger Fußballverbands, ein „Fußballverrückter“ wie er sich nennt, macht dennoch einen tiefen Seufzer: Wie soll man Volksschulkindern klarmachen, dass sie beim Fußballspielen nicht übereinanderkugeln, sich nicht um den Hals fallen, nicht rempeln, nicht raufen sollen? Verordnet ist ein zwei Meter-Abstand, der „kurzzeitig“ unterschritten werden darf. Lebensfremd. Wegen solcher Vorschriften scheuen sich die Vereine, mit den Jüngsten das Fußballspielen wieder aufzunehmen. Viele Kinder haben im vergangenen Jahr den Ball in eine Ecke gerollt und nie wieder angeschaut. Da halfen auch keine Videos für zu Hause, kein Hinterhertelefonieren. Es macht keine Freude, allein in einem Hinterhof oder Garten zu üben. „Da ist ein Schaden entstanden bei Kindern und Jugendlichen, den wir noch gar nicht begreifen“ warnt Andreas Kopf. Die Regierung hätte mehr zulassen müssen. Sie habe die Bedeutung des Sports für Seele und Geist nicht verstanden.

Normalerweise ist Kopf draußen, am Platz, jetzt erstellt er Leitfäden für die 70 Vereine, die er betreut. Draußen vor seinem Büro in Hohenems mit den Vitrinen mit den vielen Pokalen geht es hoch her – der letzte Schultag vor Ostern. Die Kleineren rennen, springen, jagen einander, die Größeren stehen in Gruppen, einige mit Masken. Was ihnen das vergangene Jahr abverlangt hat, ist nicht auf den ersten Blick sichtbar.

"Alles, was für Jugendliche mit einem gewissen Risiko machbar ist, sollte man in ganz Österreich öffnen"

Der Kinder- und Jugendanwalt des Landes Vorarlberg, Michael Rauch, spricht von Verheerungen, die die Pandemie bei manchen Kindern und Jugendlichen angerichtet hat. Der erste Lockdown sei „ein Schock“, die Maßnahmen „überzogen“, die Strafen zu hart gewesen - in Einzelfällen mussten Jugendliche wegen Verstößen gegen die Maßnahmen bis zu 3000 Euro bezahlen; Kinder, deren Vater oder Mutter jenseits der Grenze lebt - etwa aus beruflichen Gründen - konnten diese teils monatelang nicht sehen. Im Jänner 2021 sei die Stimmung gekippt, die jugend-psychiatrische Versorgung nicht mehr für alle möglich gewesen. Rauch entwirft ein düsteres Bild:  ganze Tage am Computer, keine Bewegung, explosionsartiger Anstieg von Adipositas, Angststörungen, Suchtverhalten beim Online-Gaming, Sprachlosigkeit und Depression, sexualisierte Gewalt im Internet. Pubertierende Jugendliche, für die die Peergroup das Wichtigste ist, „saßen wie in einem Gefängnis daheim“ sagt Rauch. Die Öffnung jetzt sei eine Chance, doch müsse sie begleitet werden von viel mehr Sozialarbeitern an den Schulen, Ferienprogrammen und Zeltlagern im Sommer (mit Ausfallshaftungen der öffentlichen Hand, falls sie doch wieder abgesagt werden). „Kinder werden die Folgen der Pandemie am längsten spüren. Landeshauptmann Markus Wallner hat in einem Gespräch eingestanden: Wir hatten so viele Bälle in der Luft, diesen einen Ball hatten wir nicht im Blick. Alles, was für Jugendliche mit einem gewissen Risiko machbar ist, sollte man in ganz Österreich öffnen“, fordert Rauch.

Ist Vorarlberg eine kleine Welt, in der Österreich seine Probe hält? Lokale Politiker - egal welcher Partei - wünschen es sich sehr, sind jedoch vorsichtig. Strenge Grenzschließungen zu Liechtenstein, Schweiz und Deutschland, die Abschottung von Tirol haben Vorarlberg eine Zeit lang praktisch eingeschlossen. Auch darum setzt sich die besonders ansteckende britische Virusmutante hier langsamer durch. Doch die Lage verschlechtert sich.

Andrea Kaufmann, 52, ist seit acht Jahren ÖVP-Bürgermeisterin in Dornbirn, die erste Frau in diesem Amt. Schon einmal ging ein Schock durch die Gemeinde - das war, als ein Asylwerber den Leiter des Sozialamts erstach. Wie konnte das in ihrer Stadt passieren, fragten sich die Dornbirner, die so stolz sind auf ihre Stadt, auf ihr Miteinander. Eine emotionale Berg- und Talfahrt hat ihnen auch das Virus abverlangt.

Inzwischen geht der Bürgermeisterin das technokratische Corona-Deutsch wie allen Politkern wie selbstverständlich über die Lippen. Im Dezember hatte sie Inzidenzen von mehr als 900. Eine Kontakt-Nachverfolgung war bis auf engste Angehörige nicht möglich. Der nachfolgende Lockdown aber wirkte.

Jetzt setzt sie auf Teststraßen, die auch am Wochenende besetzt sind, digital überprüfbare Selbsttests, verbunden mit Schritten in ein normales Leben: Gasthaus, Theater, Kino, Musik und Sport. Warum Vorarlberg „so viel besser dastehe als andere Länder, könne niemand exakt erklären“, sagt Kaufmann.

Die Bürgermeisterin denkt viel nach über politisches Handeln in dieser Pandemie. Sollen Politiker den Ratschlägen von Experten folgen?  "Experten müssen gehört werden, haben aber unterschiedliche Zugänge und Meinungen. Man muss sich ein breites Bild machen – und dann entscheiden“, sagt Kaufmann. Schnelles Handeln sei jedenfalls zu empfehlen. Es könne sein, dass man falsch liegt, das erst Wochen später besser weiß, aber das Schlimmste sei, nicht zu entscheiden. Auch Politiker machten Fehler, lernten dazu, die Kunst liege darin, „ein gutes Maß an Sicherheit auszustrahlen und trotzdem zuzugeben, dass uns auch nicht alles klar ist.“

Kaufmann gehört einer neuen, sehr praktisch denkenden und vor allem weiblichen Generation von Politikern an.

ÖVP-Gesundheitslandesrätin Martina Rüscher, eine gelernte Projektmanagerin, repräsentiert diese Art von Politik in der Landesregierung: internet-affin, umtriebig, unerschrocken. Rüscher schwört auf das digitalisierte Test- und Impfsystem, kombiniert mit Abwasserscreening. Man wisse noch immer zu wenig, wo Ansteckungen wirklich passieren. Gewiss sei nur: Jeder Kontakt ist ein Risiko. Zur Nachverfolgung einer Ansteckung müsse sich die Haltung – „Es ist der Virus und nicht der Mensch“ in den Köpfen der Bevölkerung verankern, sagt Rüscher.

Man habe mittlerweile auch das Contact Tracing digitalisiert. Wer ein positives Testergebnis auf seinem Smartphone erhalte, bekomme in derselben Minute die Anweisung, was zu tun sei: Sich zur nächsten PCR-Teststation begeben, wo man von Mitarbeitern des Infektionsteams befragt wird, wo man sich in den vergangenen Tagen aufgehalten, wen man getroffen habe. Das persönliche Gespräch habe sich sehr bewährt, sagt Rüscher. Man erinnere sich leichter, halte weniger zurück, sobald einem klar werde, dass man niemanden schützt, wenn man Kontakte verheimlicht.

„Die Compliance ist in Vorarlberg relativ hoch. Wenn es uns hilft und wir den Nutzen erkennen, tun wir es. Ich hoffe, wir können andere Bundesländer ermutigen.“, sagt Rüscher.

Zusammenhalt in der Krise, weniger Punkte machen im politischen Wettbewerb, befolgt auch die Opposition. „Wir Vorarlberger sind sehr pragmatisch. Ich bin keiner, der herumzickt, sondern handelt, wenn es gefragt ist. Nur rausgehen und sagen, was alles falsch läuft, hat mir nie gefallen“ sagt Martin Staudinger, Bürgermeister von Hard - und SPÖ-Landeschef. Vor wenigen Monaten erst ist er mit überwältigender Zustimmung Ortschef von Hard geworden, einer kleine Gemeinde am Bodensee, nicht weit weit von der Schweizer Grenze.

„Wir in Vorarlberg schauen jetzt, ob die Kombination mehr Freiheiten, mehr Tests, etwas bringt. Wir sind das Versuchslabor“, sagt Staudinger mit einer gewissen Portion Stolz in der Stimme.

Fast ein bisschen wehmütig denkt der grüne Landesrat Johannes Rauch an die erste Welle zurück, „ein Lercherl, aber das wussten wir damals noch nicht.“ Im Sommer habe man rückblickend „fahrlässig“ gehandelt, die zweite Welle sei mächtiger gewesen als erwartet. Und jetzt die Chance, einen Weg vorzuzeigen mit 100.000 Tests pro Woche, zentral überprüfbar. „Entweder du machst es digital oder du scheiterst. Mit Zettel geht es nicht. Und wenn es nicht schaffst, den Bürgern eine Service-Qualität zu bieten, hast du verloren. Sie machen dann nicht mit“ sagt Rauch. Auch er denkt viel darüber nach, was die Politik, seine grüne Freunde in der Regierung in Wien hätten  besser machen können. Ein Fehler der Anfangszeit sei gewesen: „Wir können nicht alles verordnen, wir können nicht alles kontrollieren. Wir wollen es auch nicht. Ich bin auf das Mitmachen der Leute angewiesen. Das Wichtigste, das wir gelernt haben.“ Und: „Die Dimension haben wir nicht zur Gänze erkannt. Was macht diese Pandemie mit uns als Gesellschaft?“

Man müsse schon nachdenken darüber, ob sich die Koordinaten des Wirtschaftens und Miteinanderlebens nicht verschieben.

Am Ende stand bei all diesen Gesprächen auch die Mentalität der Vorarlberger zur Erwägung. Die Bürgermeisterin von Dornbirn nennt es „Gemeinschaftssinn“ und der Bürgermeister von Hard „Pragmatismus“, die Gesundheitslandesrätin das „alemannische System“.

An der See-Promenade tagsüber sieht man trotz schönstem Frühlingswetter keine Menschenansammlungen; abends nach der Sperrstunde ist es in den Straßen still; die Gäste strecken beim Eintritt in ein Lokal stolz und unaufgefordert ihr negatives Testergebnis dem Kellner entgegen. Möge das Experiment gelingen.

 

Christa   Zöchling

Christa Zöchling