Sebastian Kurz nach seinem Wahlsieg 2017
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Mr. Bombasti: Der Sieger der Nationalratswahl 2017

Strebt Sebastian Kurz Schwarz-Blau an oder wagt er Neues? Wer den schwer fassbaren Wahlsieger von 2017 verstehen will, muss seine politischen Sozialisierungen studieren: Wodurch Kurz geprägt wurde - ein Porträt des vermutlich nächsten Bundeskanzlers.

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Dieser Text stammt aus dem profil Nr. 43 / 2017 vom 23.10.2017

Wirklich anstrengend wird es erst nach der Wahl, hatte Sebastian Kurz während des Wahlkampfs gesagt, damals noch mit Koketterie. Jetzt ist es so weit. Aus heutiger Sicht ist eine Koalition mit den Freiheitlichen am wahrscheinlichsten. Vom Bundespräsidenten Alexander Van der Bellen ist kein größerer Widerstand zu erwarten. Denkbar, dass er wie 2000 Thomas Klestil eine Präambel zum Koalitionsvertrag mit einem Bekenntnis zur EU einfordert.

Bei allen Gemeinsamkeiten liegen ÖVP und FPÖ in manchen Punkten aber auch auseinander: Im Gegensatz zur FPÖ will Kurz weder die Pflichtmitgliedschaft bei den Kammern abschaffen noch die Russland-Sanktionen rasch aufheben. Auch den radikalen Ausbau direktdemokratischer Mittel wie Volksabstimmungen sieht der ÖVP-Obmann skeptisch (siehe Interview).

In ihrem ersten informellen Gespräch soll FPÖ-Obmann Heinz-Christian Strache Kurz vorgeschlagen haben, jene Ressorts zu übernehmen, welche die ÖVP bisher hatte. Dies würde einen freiheitlichen Außenminister bedeuten, den Van der Bellen und Kurz eher ausschließen. Denkbar wäre auch, dass Kurz die EU-Agenden ins Kanzleramt zieht. Auf das Innenministerium würde er wohl verzichten.

Was Kurz vorhat, was seine Handlungen bestimmt, darüber darf gerätselt werden. Im Wahlkampf erzählte der ÖVP-Chef viel über sich, ohne etwas preiszugeben. Was wir über Kurz wissen: Er mag Hunde, Goethe, Zweig und Veränderungen aller Art. Was wir nicht wissen: Ist er konservativ oder liberal? Ist seine Veränderungsrhetorik pures Marketing oder steckt dahinter ein politischer Wille? Kann er Kanzler? Eine Annäherung.

 

Der Landmensch

Anfangs schien es, als sei mit Kurz ein politisches Ausnahmetalent vom Himmel gefallen. Erst mit der Zeit stellte sich heraus, dass seine Karriere eine längere Vorlaufzeit gehabt hatte. Strategische Überlegungen standen dahinter und Anstrengung. Ehe Kurz vom damaligen ÖVP-Obmann Michael Spindelegger 2011 als Staatssekretär in die Regierung geholt worden war, war er unermüdlich übers Land getourt, in die kleinsten Marktflecken, vor allem in Niederösterreich. Das Projekt hieß "next generation“ und hat sich, wie man sieht, gelohnt.

Kurz, dem Stadtmenschen, ist das Landleben nicht fremd. Es ist die Heimat seiner Kindheit. "Hier schaut man mehr aufeinander, und es gibt einen starken Zusammenhalt unter den Generationen“, sagt er. Auf dem Bauernhof seiner Großmutter in Zogelsdorf hat Kurz die Kindheitssommer verbracht, als Jugendlicher im nahegelegenen Burgschleinitz mit Tennisstunden sein Taschengeld aufgebessert. Die patente Cousine aus Zogelsdorf trat sogar in einem Wahlkampfvideo auf.

Etwas scheuer gibt sich die Verwandtschaft väterlicherseits in Großrußbach bei Korneuburg. Kurz’ Vater stammt aus Wetzleinsdorf, einem 216-Seelen-Dorf: ein paar neue Villen mit schmucken Gärten und landwirtschaftliche Betriebe; entlang der Hauptstraße einige auffallend schöne, alte Gebäude, die städtisch wirken mit ihren geometrischen Verzierungen an den Fassaden; im Zentrum des Orts der Raiffeisenturm, die Lagerhalle. Die Familie Kurz hat das Dorf schon immer geprägt. Kurz’ Großonkel war einst ins Priesterseminar nach Wien geschickt worden und später Rektor des Erzbischöflichen Gymnasiums in Hollabrunn geworden. Kurz’ Vater war noch ein halbes Kind, als er dorthin ins Internat kam, um höhere Bildung zu bekommen. Später ging er auf die Höhere Technische Lehranstalt nach Mödling. Die anderen blieben, heirateten, einer war Bürgermeister von Wetzleinsdorf. Der heutige Bürgermeister von Großrußbach, Josef Zimmermann, ist ein Cousin von Kurz. Die Neigung zum politischen Engagement scheint Kurz in diese Wiege gelegt worden zu sein.

 

Der Stadtmensch

Auf dick gepolsterten Bänken in einer Nische ist Sebastian Kurz als Schüler manchmal gesessen, mit Freunden oder mit seinen Eltern. Vielleicht auch später noch, wenn Party angesagt war, und er aus der legendären Wiener Disco U4, die kaum einen Katzensprung entfernt ist, ins Café "Raimann“ kam, um sich zu stärken. Heinz Schaffer, der Betreiber dieses einzigartigen Vorstadtcafés, hat Kurz in den vergangenen Jahren selten hier gesehen.

Das "Raimann“ wirkt wie aus der Zeit gefallen. Der Stoffbezug dieser zeitlosen Möbel ist so robust, dass er Generationen überdauern konnte, wie so vieles in Meidling. An gelbstichigen Wänden hängen Schwarzweiß-Fotografien aus der Nachkriegszeit und alte Stiche. Die Garderobenständer sind aus Holz und fein gearbeitet, braun, geschwungen. Die Spiegel vergrößern den Raum in alle Richtungen. Das nahe Schönbrunn erzeugte wohl immer schon eine gutsituierte Nachbarschaft und eine Anmutung von Historizität. Ein Kellner mit großen, aufmerksamen Augen in klassischer Hans-Moser-Uniform - weißes Oberhemd, schwarze Weste - stellt sich beflissen den Wünschen der Gäste. Weit hinten im dunklen Nebensaal ahnt man den großen alten Billardtisch, der vor 100 Jahren noch die Attraktion eines jeden guten Lokals war. Hier gibt es ihn noch, obwohl nur ein bis zwei Mal monatlich darauf gespielt wird. Es ist eine andere Welt als die der McDonald’s, Dönerbuden, Soft Drinks, Türkengangs, Asia Snacks und Ein-Euro-Shops. Es ist nicht das proletarische Meidling, sondern Obermeidling, in dem sich schon um die Jahrhundertwende aufstrebende Handwerker und Geschäftsleute ein bürgerliches Ambiente schufen - und eine Adresse in nächster Nähe zum Kaiserschloss.

In diesen Tagen redet man hier über Kurz an allen Tischen. Sieht man durchs Fenster nach draußen, gewahrt man alte Bäume und noch ältere, unsanierte Häuser aus der Gründerzeit. Kleine Geschäfte säumen die Straßen, eine Schneiderei, ein Koffergeschäft, ein Reparaturladen für Radios. Auf der Straße, die in eine Allee übergeht, Autos, energieeffiziente Busse, Fußgänger, kaum Radfahrer; Menschen, die von der Arbeit kommen oder einkaufen, Kinder mit Tretrollern, Pensionisten mit Hunden, Jogger; urbanes Leben; nirgendwo ein Gefühl von Gefahr, Konflikt, Brennpunkt, Zusammenprall der Kulturen, Feindschaft und Hass, Ideologie und Religion. Warum auch sollen Menschen, die im größten Wohlstand aller Zeiten leben, im reichsten Gebiet Europas, nicht Zufriedenheit ausstrahlen? In den 1990er-Jahren bezog die Familie Kurz eine Eigentumswohnung in einem großen Neubaublock um die Ecke. Verblüffend ist die mentale Ähnlichkeit dieser Heimat des erwachsenwerdenden Sebastian Kurz mit der bäuerlichen Heimat seiner Kindheit, dem kleinen Dorf seiner Großeltern in Niederösterreich. Auch dort erscheint sofort der Begriff von der "heilen Welt“ aus dem kollektiven Gedächtnis. Ein Bub, der die Sommerferien in einer Gegend verbringt, über die selbst "Heidi“ aus dem gleichnamigen Film begeistert wäre, und der später in Obermeidling heranwächst, könnte starke Triebkräfte entwickeln, eine chaotisch scheinende Welt wieder in Ordnung zu bringen.

 

Der Superpraktikant

Im Mai 2009 stellte sich der designierte Chef der Jungen Volkspartei artig bei seinem Bundesparteiobmann vor. Der hieß Josef Pröll, war mit 40 Jahren vergleichsweise jung und galt als ernstzunehmende schwarze Kanzlerhoffnung. Als Kurz Prölls Büro betrat, hatte dieser die Füße auf dem Schreibtisch, eine Wurstsemmel in der einen, einen Softdrink in der anderen Hand: "Aha, du bist der neue JVP-Chef. Gratuliere. Hast’ überhaupt schon Matura?“ Nie war die Gaudi größer in der ÖVP als unter dem lebenslustigen Josef Pröll. Kurz und Pröll gingen gemeinsam auf Sommertour und starteten die politische Castingshow "Bist Du Österreichs Superpraktikant?“, dessen Gewinner eine Woche an Prölls Seite verbringen durfte. Kurz fehlt Prölls Leichtigkeit, dafür verfügt er über mehr Disziplin.

Als Mitglied im Parteivorstand konnte Kurz aus unmittelbarer Nähe erleben, wie Josef Pröll 2011 zerrieben wurde. Am Wahlabend sechs Jahre später steht Pröll im Wiener Kursalon Hübner bei der ÖVP-Wahlparty und strahlt: "Man kann sich wirklich freuen und Sebastian Kurz nur gratulieren.“ Auch bei der Demontage von Prölls Nachfolger Michael Spindelegger war Kurz Beobachter. Bei Reinhold Mitterlehners Abgang im Mai war er selbst einer der Demonteure. In Mitterlehners Mühlviertler Heimatgemeinde Helfenberg verlor die ÖVP bei der Wahl 7,5 Prozentpunkte.

Die Übernahme der ÖVP klappte so reibungslos, weil Kurz seine Junge Volkspartei zur Kraftkammer entwickelt hatte und als Ausgangsbasis nutzte. Im neu gewählten Nationalrat finden sich zahlreiche Vertreter aus Kurz’ türkisem Jungdamen- und Jungherrenkomitee. Auch international hat Kurz Vorarbeiten geleistet. In der Jugendorganisation der Europäischen Volkspartei (YEPP) sind Österreichs Konservative seit Jahren prominent vertreten. Jim Lefebre, Pressesprecher von Justizminister Wolfgang Brandstetter, wurde im April zum Ersten Vizepräsidenten der YEPP gewählt. Wiens VP-Landesparteiobmann Gernot Blümel saß von 2009 bis 2011 im Vorstand der Organisation. Deren Präsident, der Rumäne Andrianos Giannou, war vergangene Woche einer der Ehrengäste auf der ÖVP-Wahlparty. Kurz ist das Role Model der konservativen Nachwuchspolitiker in Europa. Gut möglich, dass sich da einer bereits seine künftigen EU-Ratskollegen heranzüchtet.

 

Der Außenpolitiker

Lang bevor Kurz der jüngste Außenminister Europas wurde, was die britische "Sun“ übrigens zur Schlagzeile "It’s a boy“ inspirierte, konnte man im sozialdemokratischen Kanzleramt das Spottwort von der "Hinternationalisierung“ hören. Seit 30 Jahren befindet sich das Außenamt nun schon in konservativen Händen. Lange vorbei sind die Zeiten Bruno Kreiskys, als Österreich ein bisschen Weltpolitik betrieb, indem es als Vermittler zwischen den Blöcken auftrat.

Bei Amtsantritt war Kurz 27 Jahre alt, halb so alt wie seine europäischen Kollegen und ohne abgeschlossenes Studium. Dennoch erweckte er den Anschein, als mischte Österreich wieder mit. Als Gastgeber des Atomabkommens mit dem Iran empfing er die Player der Weltpolitik in Wien. Als Vorsitzender der OSZE gelang es ihm, nach langem Hin und Her einen Generalsekretär zu installieren und die Organisation wieder handlungsfähig zu machen. Der russische Außenminister Sergei Lawrow soll Kurz damals im Schlosspark Mauerbach beiseite genommen und sinngemäß gesagt haben: Der Mann, den du vorschlägst, ist nicht unser Wunsch, aber ich will dir keine Steine in den Weg legen. Da befand sich Kurz bereits mitten im Wahlkampf.

Das Diplomatische Korps machte sich Kurz gleich zu Beginn gewogen. Er lud alle pensionierten Diplomaten ein und bat sie, von ihrer Erfahrung zehren zu dürfen. Er versammelte alle weiblichen Mitarbeiter des Hauses und fragte, wo er ansetzen müsse, um ihre Karrieren zu fördern. Und er stoppte bekanntlich den Zug der Flüchtlinge über die Balkanroute. War das wirklich sein Verdienst?

"Im Frühjahr 2016 nimmt der österreichische Außenminister der deutschen Kanzlerin die Macht in Europa einfach aus den Händen. Damit untergräbt er Merkels Autorität als heimliche Herrscherin des Kontinents. Doch so paradox es auch erscheinen mag: Zugleich rettet er Merkels Kanzlerschaft. Denn in der Folge sinkt die Zahl der Flüchtlinge beträchtlich.“ Das schreibt der Journalist Robin Alexander, Hauptstadtkorrespondent der deutschen Zeitung "Die Welt“ in seinem Buch "Die Getriebenen“. Seine Kritik an Merkels planloser Flüchtlingspolitik, in der sich Kurz an die Spitze der europäischen Anti-Merkel-Bewegung setzte, war monatelang auf der "Spiegel“-Bestsellerliste. Die "Presse“-Redakteure Christian Ultsch, Thomas Prior und Rainer Nowak kommen in ihrem Buch über das Jahr 2015, "Flucht“, zu dem Ergebnis, dass zuerst die Slowenen die Initiative für die Grenzschließung ergriffen, dann aber Kurz die Westbalkanländer organisierte. Kurz’ Karriere sei damals an einem seidenen Faden gehangen. Nicht einmal sein engster Beraterkreis, zu dem anfangs auch Alfred Gusenbauer gehört hatte, glaubte, die Schließung der Grenze in Mazedonien werde länger als ein paar Tage halten. Die deutsche Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen und Innenminister Thomas de Maizière hätten Kurz geholfen, indem sie der mazedonischen Regierung bei der Grenzschließung den Rücken stärkten.

Kurz war jedenfalls ein hohes Risiko eingegangen. Darüber sind sich die Autoren einig. Ein totes Flüchtlingskind am Grenzzaun, und Kurz wäre heute wohl nicht mehr in der Politik.

Als Kurz am Wahlabend bei der Hofburg in seinen Tour-Bus stieg, war Angela Merkel am Telefon. Sieben, acht Minuten habe das Gespräch gedauert und Kurz’ Ohren hätten vor Aufregung geglüht, erzählen Beobachter.

Der Regierungsschwänzer

Der Ministerrat, das wöchentliche Treffen der SPÖ-ÖVP-Koalition, war nie die Bühne von Sebastian Kurz. Er meldete sich dort, so berichten Teilnehmer übereinstimmend, selten zu Wort - und wenn, artikulierte er Allgemeinplätze zur Weltpolitik. Falls er überhaupt zur Regierungssitzung erschien: Bis zum Rücktritt von Reinhold Mitterlehner im Mai fanden 42 Ministerratssitzungen unter Kanzler Christian Kern statt. Mit 18 Abwesenheitsmeldungen fehlte kein Minister so oft wie Kurz, und dies nicht nur wegen Auslandsterminen, sondern auch wegen Diskussionen mit Schülern oder Veranstaltungen, die er für wichtiger erachtete. War er da, saß er nur durch Reinhold Mitterlehner von Kern getrennt und damit im Blickfeld des Kanzlers. Manches Regierungsmitglied glaubt, dass es Kurz war und nicht Innenminister Wolfgang Sobotka, der damals die viel zitierten und von Kern ausgeplauderten SMS an Landeshauptmann Erwin Pröll schrieb, um nachzufragen, ob man der Ganztagsschule zustimmen dürfe. Die SPÖ hatte Kurz stets unter Verdacht, jeden Erfolg der Regierung sabotieren zu wollen - oder von seinem Scharfmacher Sobotka durch gezielte Störmanöver sabotieren zu lassen. Ein Verdacht, der auch vom abmontierten Obmann Mitterlehner verklausuliert geäußert wurde.

Gewiss ging Kurz zur Großen Koalition stets auf größtmögliche Distanz, was sich im Wahlkampf als zweckdienlich erwies: Nur so konnte er quasi als Außenstehender für ein "neues“ System werben. In den vergangenen Jahren agierte der Minister eher als Chefkommentator denn als Mitglied der Regierung und versuchte selbst bei Petitessen, nicht am Koalitionsalltag anzustreifen. So wünschte sich Kurz bei den Verhandlungen zum erneuerten Regierungsprogramm im Jänner für sein Ressort den spätestmöglichen Termin, am liebsten 23 Uhr, um möglichst wenig Bilder von sich beim Verhandeln von Kompromissen zu liefern. Das wird jedenfalls vermutet.

 

Der Parteifreund

Sebastian Kurz ist ein Meister darin, wohlgesetzte Worte abzusondern und dennoch unverbindlich zu bleiben. Das erweist sich als überaus praktisch, weil jeder die Leerstellen nach eigenem Gusto interpretieren kann. Ursula Stenzel, die ehemalige ÖVP-Bezirksvorsteherin der Inneren Stadt, mittlerweile zur FPÖ übergelaufen, kennt Kurz seit seinen politischen Anfängen - und ist überzeugt, dass dahinter System steckt: "Die inhaltliche Linie war nie Sebastians Stärke. Er tritt stets aalglatt, freundlich und unverbindlich auf und ist ein Marketinggenie.“ Stenzel kann sich noch gut an ihre erste Begegnung mit Jungspund Kurz erinnern. Sie hatte damals, vor fast einem Jahrzehnt, gegen das "Komatrinken“ in der Innenstadt gewettert - und Kurz, Obmann der Jungen ÖVP Wien, sorgte sich lautstark um die "Zerschlagung der Partykultur“. Stenzel lud Kurz zum Gespräch, zu dem der 23-Jährige, sehr zu Stenzels Verblüffung, bereits mit einer eigenen Pressesprecherin erschien: "Ich war sehr beeindruckt“, muss Stenzel noch heute kichern.

Im Grunde erwies sich der Themenkomplex "Zuwanderung-Flüchtlinge“ als der einzige, zu dem Kurz konkret wurde - sehr zum Missfallen mancher Parteigranden. "Wenn die ÖVP eine christlich-soziale Partei sein soll, dann definiert sie das neuerdings anders als früher“, formulierte etwa Ferdinand Maier, die rechte Hand von Flüchtlingskoordinator und Ex-Raiffeisen-Generalanwalt Christian Konrad. 2016 hintertrieb Kurz ein von Konrad und Sozialpartnern organisiertes Projekt, Asylberechtigte schneller in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Maier engagierte sich in diesem Wahlkampf für die NEOS, der frühere ÖVP-Minister Heinrich Neisser ebenso.

 

Der Muslim-Versteher

2012: In einer türkischen Shisha-Bar in Wien. Der junge Integrations-Staatssekretär sitzt umringt von jungen Menschen mit Migrationshintergrund auf der Eckbank und lauscht, mit einem Cocktail in der Hand. Auch Mädchen - mit und ohne Kopftuch - ziehen lässig an den Pfeifen. Es ist schon spät. Kurz scheint die Gesellschaft zu genießen.

2017: Auf der ÖVP-Siegesparty feiern auch Migranten den Wahlsieg von Kurz, doch eine Frau mit Kopftuch ist nicht dabei. Die Distanz zu konservativeren Muslimen ist offensichtlich. "Integration durch Leistung, egal wo du herkommst.“ Mit diesem Mantra durchbrach Kurz einst das Schwarz-Weiß-Bild in der Migrationspolitik und wollte Zuwanderer in die Mitte der Gesellschaft holen, Kopftuch-Muslimas. In diesem Wahlkampf war das anders. "Das hat natürlich Effekte auf die Communities“, sagt der Chefredakteur des Migranten-Magazins "biber“, Simon Kravagna, der den Aufstieg des Integrationsstaatssekretärs aus der Nähe verfolgte. Sein Fazit: "Kurz hat das Gespür gehabt, auch die problematischen Facetten der Zuwanderung, die Flüchtlingswelle und den Islam rechtzeitig anzusprechen, da waren die Linken viel zu nachlässig.“ Er sieht den 31-Jährigen jetzt an einer Wegscheide: "Wird er sich mit einer Rolle als türkiser Hardliner begnügen oder will er als rot-weiß-roter Kanzler drauf schauen, dass auch Migranten sich wieder willkommen fühlen?“

Welchen Weg auch immer Kurz jetzt einschlägt - laut Wikipedia ist er bereits Kanzler. In der englischen Version steht: "Austria’s chancellor since October 20th“.

Gernot   Bauer

Gernot Bauer

ist Innenpolitik-Redakteur.

Eva   Linsinger

Eva Linsinger

Innenpolitik-Ressortleitung, stellvertretende Chefredakteurin

Clemens   Neuhold

Clemens Neuhold

Seit 2015 Allrounder in der profil-Innenpolitik. Davor Wiener Zeitung, Migrantenmagazin biber, Kurier-Wirtschaft. Leidenschaftliches Interesse am Einwanderungsland Österreich.

Christa   Zöchling

Christa Zöchling