Der japanische Ministerpräsident Shinzo Abe (l-r), Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), der russische Präsident Wladimir Putin, der ehemalige britische Ministerpräsident David Cameron und US-Präsident Barack Obama.

Führungskrisen: Denn sie wissen nicht, was sie tun sollen

2016 war kein gutes Jahr für einige Stars der internationalen Politik: Reihenweise mussten einst gefeierte Regierungschefs abtreten oder zumindest schmerzhafte Niederlagen einstecken. Individuelle Fehler waren dabei sicher mitverantwortlich - aber was, wenn man diesen Job gar nicht mehr richtig machen kann? Rosemarie Schwaiger über das Dilemma von Leadership.

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Bilder dieser Art gibt es zu Hunderten: Wenn hochrangige Politiker einander zum Gedankenaustausch treffen, steht mindestens eine Familienaufstellung vor Fotografen auf dem Programm. Wichtige Menschen in biederer Garderobe stellen sich adrett frisiert nebeneinander und lächeln in die Kameras. Für gewöhnlich sind das langweilige Bilder. Zeitungen veröffentlichen solches Material meist nur als Notlösung.

Dennoch hat eines dieser Motive Karriere gemacht. Es stammt von einem G5-Treffen im April 2016 und zeigt Barack Obama, Angela Merkel, François Hollande, David Cameron und Matteo Renzi. Vor einer Woche tauchte das Gruppenbild plötzlich überall auf, in den sozialen Medien, in internationalen Tageszeitungen, sogar auf dem Cover des Wiener Gratisblatts "heute". Das Foto macht auf einen Blick deutlich, wie sehr sich die politische Landschaft in wenigen Monaten verändert hat. Angela Merkel sei "the last leader standing", schrieb der britische "Guardian". Die vier Herren sind allesamt weg vom Fenster -und für jeden dieser einstigen Hoffnungsträger endete die politische Karriere mit blutigen Schrammen: Der britische Premierminister David Cameron trat nach dem Brexit-Votum zurück, sein italienischer Kollege Matteo Renzi nach dem Scheitern des Verfassungsreferendums. François Hollande ist nach vier Jahren Regentschaft bei den Franzosen derart verhasst, dass er bei den Präsidentschaftswahlen 2017 nicht mehr antritt. Barack Obama wird nach zwei Amtsperioden zwar ganz regulär ausscheiden, ist aber mit vielen seiner Vorhaben krachend gescheitert. Und dass sein Nachfolger Donald Trump heißt, kann der Noch-US-Präsident nur als Demütigung empfinden.

Abseits der großen Weltbühne, in Österreich, war 2016 ebenfalls ein schwieriges Jahr für Politiker. Im Mai trat Werner Faymann zurück. Sein Nachfolger Christian Kern startete mit viel Vorschusssympathie -und hat seither schon deutlich abgebaut. In der bisher jüngsten Kanzlerfrage, die das Meinungsforschungsinstitut Unique research für profil durchführte, waren nur noch 30 Prozent der Österreicher von ihm überzeugt, fünf Prozentpunkte weniger als bei der Umfrage einen Monat zuvor. Vizekanzler Reinhold Mitterlehner halten gar nur mehr acht Prozent für kanzlertauglich. Er ist seit zwei Jahren im Amt; das reicht offenbar, um die Bürger zu Tode zu langweilen. Beide Herren kommen kaum noch dazu, ihre Pläne für das Land zu skizzieren, weil sie fast täglich die Frage beantworten müssen, wie lange sie es wohl noch miteinander aushalten werden.

In der Politik herrschen seit jeher raue Sitten. Aber allem Anschein nach werden die Bedingungen immer unwirtlicher. Der Verschleiß an Zukunftshoffnungen war zuletzt alarmierend hoch. Kann es sein, dass sich dieser Job gar nicht mehr vernünftig erledigen lässt? Und wissen die Wähler überhaupt noch, was sie wollen und warum?

Jeder ist eine Minderheit

Alexander Van der Bellen kann es gar nicht oft genug sagen. "Ich werde ein Bundespräsident für alle Österreicher sein", versprach er zuletzt gleich mehrfach. Sicher meint er das ernst, und angesichts der (bescheidenen) operativen Kompetenzen seines Amts lässt sich seine Zusage vermutlich auch einhalten. Ein Hierarchielevel darunter, auf Regierungsebene, fällt die Umarmung der Massen schon deutlich schwerer. Kanzler und Vizekanzler können nicht zu allen Österreichern exakt gleich nett sein. Es wird auch ein paar Menschen geben, denen sie etwas wegnehmen müssen. Und das wird immer schwieriger.

Natürlich gab es zu allen Zeiten Wirbel, wenn sich eine größere Gruppe benachteiligt fühlte. Doch vor 20 Jahren mussten Empörte die Welt noch mittels Faxgerät und Telefon über ihre Wut in Kenntnis setzen. Mithilfe des Internets geht das heute viel einfacher. Über soziale Netzwerke lassen sich mit etwas Geschick flugs Mitstreiter auftreiben, die jedem Einwand den Anschein einer Massenbewegung verleihen. Noch dazu steht Empörung hoch im Kurs. Laute Beschwerde sichert Aufmerksamkeit und erhöht die eigene Bedeutung. Als etwa im Zuge der Steuerreform die Registrierkassenpflicht beschlossen wurde, bestand Österreich gefühlt nur noch aus Gastwirten am Rande des Existenzminimums. Dabei kämpften die Damen und Herren nicht etwa um ein hehres gesellschaftliches Ziel, sondern, bei allem Respekt, hauptsächlich um ihr Recht auf Schwarzgeld.

International läuft das nicht anders. Frankreichs Präsident Hollande beispielsweise hatte im Wahlkampf sehr viel versprochen -und scheiterte im Amt auf der ganzen Linie. Praktisch jede seiner Ideen führte zu Massenprotesten, sowohl die Steuererhöhungen für Reiche als auch die Reform des Arbeitsmarkts oder die Einführung der Homo-Ehe. "Die Erfahrung im Elysée-Palast hat mir Bescheidenheit beigebracht", sagte Hollande, als er jüngst ankündigte, als erster Präsident in Frankreichs Geschichte kein zweites Mal zur Wahl anzutreten.

Es sind nicht nur Kammern, Gewerkschaften und andere professionelle Lobbyisten, die den Politikern das Leben schwer machen. Mit ein wenig Fantasie kann sich heute praktisch jeder als Teil einer schützenswerten Minderheit fühlen. Junge Eltern, Alleinerziehende, Schwule, Studenten, Hilfsarbeiter, Pensionisten, Pendler, Ausländer, Arbeitslose, Bauern, Vegetarier: Alle sind irgendwie benachteiligt und erwarten liebevolle Zuwendung. Selbst die beste Regierung müsste vor diesen Ansprüchen kapitulieren. Komfortabel lebt es sich nur noch in der Brachial-Opposition. Populisten wie Marine Le Pen, Beppe Grillo und Heinz-Christian Strache sammeln ungestört Dienstjahre.

Perfektion tötet Charisma

Bruno Kreisky unterhielt über viele Jahre hinweg eine außereheliche Beziehung. Er war in seinen letzten Amtsjahren schwer krank und zog es vor, diesen Umstand weitgehend für sich zu behalten. Er hatte mit Rücktritt gedroht, sollte die Volksabstimmung über das Atomkraftwerk Zwentendorf mit Nein ausgehen - und blieb dann doch im Amt. Der Kanzler konnte sehr charmant sein, aber wehe, man legte sich mit ihm an. Hannes Androsch sprach viele Jahre später von "alttestamentarischem Hass", den der Regierungschef gegen ihn, den Finanzminister, gehegt habe.

Bruno Kreisky war ein genialer Politiker. Nebenbei war er selbstherrlich, launenhaft, nachtragend, kurz: ein Mensch. Vor 40 Jahren ging das noch durch.

Die Unfähigkeit der Regierenden ist dieser Tage ein Smalltalk-Thema wie die Klage über schlechtes Wetter. Man kann damit praktisch nicht falsch liegen, egal, in welcher Gesprächsrunde. Gerne wird bei solchen Gelegenheiten an die großen Altvorderen erinnert, an Churchill, Kennedy, Thatcher, Gorbatschow und natürlich Kreisky. Was waren das für starke Typen! Warum gibt es solche Kaliber nicht mehr?

Vielleicht weil weder Kennedy noch Kreisky unentwegt die eigene Makellosigkeit beweisen mussten. Von ihren aktuellen Nachfolgern wird nicht weniger als Perfektion erwartet -und zwar nach Möglichkeit in allen Lebensbereichen. Klug und gebildet sollen sie sein, aber nicht besserwisserisch, sympathisch im Umgang, aber nicht anbiedernd, firm in allen Details, aber keine Streber, stets diplomatisch, aber bitte nicht blass. Wenn der Politiker etwas sagt, soll es spontan und authentisch klingen und zugleich gut durchdacht sein und niemanden kränken. Vor flapsigen Bemerkungen in launiger Stimmung kann nur gewarnt werden: Jahre später wird irgendein Journalist oder ein politischer Rivale das Scherzchen vielleicht im Archiv finden -und schon naht das Karriereende. Der deutsche FDP-Mann Rainer Brüderle etwa erholte sich nie von dem schlüpfrigen Kompliment, das er im Jahr 2012 einer Reporterin des "Stern" gemacht hatte. Der Satz lautete: "Sie könnten ein Dirndl auch ausfüllen."

Politiker müssen, so heißt es, flexibel reagieren und aus Erfahrungen lernen. Tut einer genau das, steht in der Zeitung, er sei leider ein Wendehals. Bürgernähe ist super, solange der Politiker dafür nicht im Wirtshaus sitzt und mit den Falschen säuft. François Hollande wollte bei seinem Amtsantritt erst gar nicht ins Detail gehen und versprach schlicht, alles richtig zu machen: "Ich, der Präsident, werde darüber wachen, dass mein Verhalten in jedem Moment exemplarisch ist." Das konnte nur schiefgehen.

Viele Wähler sind von dieser Art des Schaulaufens offenbar mächtig genervt; ein Rüpel wie Donald Trump hätte sonst keine Chance gehabt. "Ich könnte jemanden erschießen und würde trotzdem keine Wähler verlieren", hielt der designierte US-Präsident im Wahlkampf einmal zutreffend fest. In deutschen Zeitungen wiederum wird gerade ernsthaft diskutiert, ob Martin Schulz SPD-Kanzlerkandidat werden darf, obwohl er früher Alkoholiker war und kein Abitur hat.

Der Bauch ist das neue Hirn

Es gehört zu den Standardvorwürfen in Richtung Brüssel, dass in der EU zu wenig Transparenz herrsche. Oft genug stimmt das auch. Doch beim Handelsabkommen CETA setzt Brüssel auf totale Offenheit. Der Vertrag zwischen der EU und Kanada ist in voller Länge im Internet abrufbar - und zwar unter anderem auf Deutsch. Wer sich die Mühe macht, kann also beispielsweise Artikel 2.3.2 lesen: "Inländerbehandlung nach Absatz 1 bedeutet in Bezug auf eine Regierung unterhalb der Bundesebene in Kanada oder in Bezug auf die Regierung eines oder innerhalb eines Mitgliedstaats der Europäischen Union eine Behandlung, die nicht weniger günstig ist als die Behandlung, welche die betreffende Regierung gleichartigen, unmittelbar konkurrierenden oder zum gleichen Zweck geeigneten Waren Kanadas beziehungsweise des Mitgliedstaats gewährt." Im gleichen Stil geht es weiter, ungefähr 2000 Manuskriptseiten lang. Wie viele CETA-Kritiker und -Befürworter dieses Monstrum von einem Text wohl gelesen haben? Und selbst wenn einige es getan haben: Wie viele haben alle juristischen Spitzfindigkeiten und die kunstvoll aneinandergeklebten Nebensätze auch wirklich verstanden?

Vermutlich gibt es auf der ganzen Welt nicht mehr als ein paar Hundert Menschen, die den Vertrag gelesen und bis ins Detail kapiert haben. Über CETA diskutieren wollen aber Hunderttausende. Ist das ein Problem? Kein bisschen. Fehlendes Wissen lässt sich bekanntlich gut mit Emotionen kompensieren. Jede Religion basiert auf diesem Mechanismus. Deshalb bekriegen die Fans und Gegner von CETA einander auf der Ebene von Bauchgefühlen. Wer keine Ahnung hat, braucht wenigstens eine Meinung.

CETA ist nur ein Beispiel, die Flüchtlingskrise des Vorjahres ein weiteres. Ebenfalls im Angebot: die Globalisierung, die Digitalisierung, der Klimawandel. Moderne Politik befasst sich in einem sehr hohen Ausmaß mit Sachverhalten, die in ihrer Komplexität kaum noch zu überblicken sind -und zwar weder für die Politiker noch für die Wähler und auch nicht für die Journalisten. Vor Kurzem erklärten die Oxford Dictionaries den Ausdruck "post-truth" (postfaktisch) zum Wort des Jahres (siehe auch Seite 74). Das Adjektiv beschreibe Umstände, in denen die öffentliche Meinung weniger durch objektive Tatsachen als durch das Hervorrufen von Gefühlen und persönlichen Überzeugungen beeinflusst werde, heißt es. Diese Art von Meinungsbildung ist suboptimal, keine Frage. Aber was soll man tun, wenn die Fakten so verzwickt sind, dass sie zur Meinungsbildung nichts mehr beitragen?

Postfaktische Politik ist eine logische Konsequenz der globalen Unübersichtlichkeit. Weil die Welt voraussichtlich kompliziert bleibt, dürfte das Postfaktische ein Dauerzustand werden. Bis sich alle damit zurechtfinden, gehen wohl noch einige Karrieren den Bach hinunter. Denn mit Gefühlen muss man höllisch aufpassen, wie David Cameron und Matteo Renzi erfahren haben. Beide hatten versucht, schwere Brocken (den Brexit und das italienische Verfassungsreferendum) emotional aufzuladen, indem sie mit Rücktritt drohten. Das Ergebnis ist bekannt. Cameron und Renzi werden in nächster Zukunft eher nicht auf Gruppenbildern mit Angela Merkel zu sehen sein.

Pizzagate und andere Lügen

Die Geschichte ist so verrückt, dass man sie am liebsten für den Hoax halten würde, von dem sie handelt: Im US-Wahlkampf war das Gerücht aufgekommen, Hillary Clinton und einige ihrer engsten Mitarbeiter seien an einem Kinderpornoring beteiligt. Die (real existierende) Washingtoner Pizzeria "Comet Ping Pong" geriet unter Verdacht, eine Kommandozentrale dieser Untaten zu sein. Obwohl die absurde Story rasch als Fake entlarvt wurde, hielt sich das Gerücht im Internet frisch - und zwar über den Wahltermin hinaus. Am 4. Dezember stürmte ein 28 Jahre alter Mann besagte Pizzeria in Washington und bedrohte die Angestellten mit einer Waffe. Er habe den Berichten um den Pornoring selbst nachgehen wollen, erklärte der Angreifer, nachdem die Polizei ihn festgenommen hatte. Für seine Vorort-Recherche war der besorgte Bürger extra sechs Stunden mit dem Auto aus North Carolina angereist.

In seinen Anfangsjahren galt das Internet als die Krönung demokratischer Mitbestimmung. Mittlerweile muss man sich fragen, ob die Demokratie den Wahnsinn im Netz überleben wird. Auch im vergleichsweise harmlosen österreichischen Bundespräsidentschaftswahlkampf fanden die schlimmsten Untergriffe im Netz statt, allerlei Falschmeldungen und Lügen inklusive. Alexander Van der Bellen wurde als krebskrank und dement verunglimpft. Norbert Hofer musste sich wegen seiner Behinderung verspotten und als Nazi beschimpfen lassen. Vor dem nächsten Nationalratswahlkampf kann man sich unter diesen Bedingungen nur fürchten.

Fast genauso schlimm wie das Benehmen einiger User ist die konservierende Funktion des Internets. Eine missglückte Rede, ein entgleister Gesichtsausdruck, eine verrutschte Frisur bleiben für die Ewigkeit erhalten und jedem zugänglich, der sich darüber amüsieren will. Hillary Clintons Schwächeanfall am Rande eines Auftritts in New York wurde auf YouTube viele Millionen Mal angeklickt. "Das Ende von Hillary Clinton. Kollaps am Ground Zero", steht über einem dieser Clips. Vor zehn Jahren, als noch nicht jeder ein Smartphone mit eingebauter Kamera besaß, wäre ihr Aussetzer vermutlich unbemerkt geblieben.

Politiker sind nicht mehr Herr über ihr wichtigstes Kapital, die eigene Außenwirkung. Da können die Parteistrategen noch so lange an den Formulierungen für eine Rede feilen oder über die Wahl des richtigen Outfits beraten - am Ende kriegt vielleicht ein verwackeltes Amateurfilmchen die meisten Klicks, auf dem zu sehen ist, wie sich der Kandidat in einem vermeintlich unbeobachteten Moment ein Nasenhaar abzwickt.

Oder wie er am Wühltisch in einem Textilgeschäft steht und sich von der Gattin ein Poloshirt zurechtzupfen lässt. In dieser lächerlichen Pose landete Werner Faymann Anfang Juni in einigen Boulevardmedien. "Ein Leser erwischte den Ex-Politiker beim Shoppen mit Ehefrau Martina", freute sich die Zeitung "Österreich" über den Scoop. Faymann war zu diesem Zeitpunkt seit ein paar Wochen nicht mehr Kanzler -und vielleicht zum ersten Mal froh darüber.

Rosemarie Schwaiger