Was hat Mitterlehner noch vor?
Reinhold Mitterlehner: Der Mann auf der Wartebank

Reinhold Mitterlehner: Der Mann auf der Wartebank

Reinhold Mitterlehner: Der Mann auf der Wartebank

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In jeder Runde, die sich zum Kartenspiel Tarock trifft, kristallisieren sich unterschiedliche Charaktere heraus: der ängstliche Staudenhocker, der nichts wagt, trotz bester Karten; der Quertreiber, der am liebsten Kontra auf Spiele anderer gibt. Reinhold Mitterlehner sagt schlicht: „Ich spiele am liebsten ein Spiel, das ich gewinnen kann, wenn ich es gut spiele. Ich mag die Herausforderung lieber als ein einfaches Spiel mit einem aufgelegten Valat.“

Doch in den vergangenen Monaten ist sein größtes Atout, der Durchmarsch in Meinungsumfragen, auch bekannt als „Django-Effekt“ (nach seinem Couleurnamen aus Studententagen), verblasst. Als Mitterlehner vor einem Jahr die ÖVP übernahm, waren die Parteigenossen euphorisiert von seinem Siegeswillen. Ja, Mitterlehner will – nur, was genau, bleibt diffus. Immerhin reicht es, um im APA-OGM-Vertrauensindex beständig vor Bundeskanzler Werner Faymann zu liegen.

Hier spricht der Chef und nur der Chef

Wenn Mitterlehner neben Faymann steht, etwa bei der Verkündigung des Regierungsplans zur Flüchtlingsfrage, lässt er Ungeduld spüren, während der Kanzler spricht – um dann leicht maliziös Zensuren zu verteilen: „Das ist korrekt erklärt.“ Wenn Mitterlehner mit seinem Star, Finanzminister Hans Jörg Schelling, eine Pressekonferenz gibt, beantwortet er lieber selbst alles, auch jene Fragen, die explizit an den Finanzminister gerichtet waren. Hier spricht der Chef und nur der Chef.

Mitterlehner ist einer der stärksten Parteichefs der ÖVP seit Langem“, konstatiert SPÖ-Wirtschaftssprecher Christoph Matznetter stellvertretend für viele. Und: „Sein selbstbewusster Umgang mit den Bünden erinnert beinahe an Wolfgang Schüssel.“ Wie viel Schüssel steckt in Mitterlehner? Ist dem Mann, der zu einem Zeitpunkt Parteichef wurde, als er die Hoffnung darauf schon aufgegeben hatte, zuzutrauen, nach den Landtagswahlen in Oberösterreich und Wien oder bei anderer Gelegenheit nach dem Kanzleramt zu greifen – und sei es um den Preis von Schwarz-Blau?

Heute wie damals ist er vor allem: Pragmatiker mit Faible für Spiele, die er gewinnt. Die Hetze der FPÖ gegen Flüchtlinge etwa ist ihm zuwider. Alles Weitere bleibt offen.

Mittlerlehner ist gewandt genug, um sich auf Floskeln zurückzuziehen: „Ich lege mich auf keine Koalitionsvariante fest“, sagt er (siehe Zitate am Ende). „Bei mir gibt es keine Äquidistanz zwischen SPÖ und FPÖ“, erklärte Mitterlehner im Jahr 1996, als die SPÖ/ÖVP-Koalition wegen des Verkaufs der CA auf der Kippe stand und Jörg Haider sich der ÖVP für einen fliegenden Koalitionswechsel andiente. Deutlicher wollte er seine Abneigung gegenüber dem Rechtspopulismus damals nicht formulieren. Nach der Nationalratswahl 1999 interpretierte er die Verluste von SPÖ und ÖVP als „klare Absage an die Große Koalition“, ätzte während der zähen Regierungsgespräche gegen die SPÖ („Die Leute fühlen sich von den Verhandlungen mit der SPÖ gepflanzt.“) und begrüßte die schwarz-blaue Koalition ausdrücklich: „Der Sparkurs ist ein Beitrag zur Sicherung des Wirtschaftsstandortes.“

Dennoch haftet Mitterlehner hartnäckig der Ruf eines überzeugten Großkoalitionärs und Sozialpartners an. Dieses Missverständnis wurzelt darin, dass Mitterlehner während der schwarz-blauen Jahre einer der wenigen ÖVP-Abgeordneten war, die wohldosiert Widerspruch wagten: gegen die Absetzung von Hans Sallmutter als Hauptverbands-Chef, gegen Karl-Heinz Grassers Homepage-Geschäfte, vor allem aber gegen die Neuauflage von Schwarz-Blau 2003. Mitterlehner war seinerzeit ein Fan von Schwarz-Grün. Heute wie damals ist er vor allem: Pragmatiker mit Faible für Spiele, die er gewinnt. Die Hetze der FPÖ gegen Flüchtlinge etwa ist ihm zuwider. Alles Weitere bleibt offen.

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Wie sieht einer die Welt, der aus dem hintersten Graben im Mühlviertel stammt, aus einem 500-Seelen-Dorf namens Ahorn, „dead end“ zu Zeiten des Ostblocks, und immer schon tiefschwarz war? Sonntags sitzt Mitterlehner heute noch oft im Gasthaus, das seinem Schwager gehört, tarockiert, führt Schmäh und ist angeblich so gelöst und heiter, wie man ihn in Wien niemals erlebt. Ob ein gefestigtes Weltbild hinter seiner Liberalität in gesellschaftspolitischen Fragen und seiner Sozialpartnerseele steht, wissen auch engere Parteifreunde nicht. Wie stellt sich Mitterlehner die europäischen Gesellschaften der Zukunft vor, mit ihrer Überalterung, dem sich auflösenden Mittelstand und den Migrationsströmen? Die Werte des „ehrbaren Kaufmanns“, auf die das noch druckfrische, neue Grundsatzprogramm der ÖVP verweist, geben darauf keine Antwort.

Sie waren sechs Kinder zu Hause, der Vater der oberste Dorfgendarm, die Mutter arbeitete in der Tischlerei ihres Bruders, einem uralten Familienunternehmen, mit. Die Eltern legten Wert auf Bildung und Aufstieg, und die Kreisky-Zeit, in denen Gymnasien auf dem Land eröffnet wurden und ein Stipendienwesen geschaffen wurde, half ihnen dabei. „Es gab Chancen nicht nur für die Elite, sondern auch für alle anderen“, sagt Mitterlehner über seine Studienzeit. Und in diese Richtung denke er heute auch in der Bildungsdebatte.

Eitelkeit und Ironie

Mitterlehner war der Älteste, der Erste, der in die Landeshauptstadt Linz zog und sich ein Zweierzimmer in einem Studentenheim organisierte. Das war 1974. Er wurde Mitglied in der katholischen Burschenschaft „Austro Danubia Linz“, weil einige aus seinem Stockwerk auch dabei waren und er sich dort „aufgehoben“ fühlte. Bunte Kappen und Bänder, Bierrituale und traditionelle Frauenfeindlichkeit zeichnen diese Burschen heute noch aus. Derzeit feiern sie die Auflösung des autonomen ÖH-Frauenreferats an der Uni Linz. Dass Mitterlehner sich damals den Verbindungsnamen „Django“ zulegte, war wohl ein kleiner Ausreißer, seiner Eitelkeit wie seinem Hang zur Ironie geschuldet.

Mitterlehner wollte eigentlich Anwalt werden, hatte Bundesheer und Gerichtsjahr hinter sich, als er von der oberösterreichischen Handelskammer für den Bereich Marketing engagiert wurde. Die Welt der Kammern und der Interessensvertretung hat Mitterlehner von da an nicht mehr verlassen. Er wurde allseits gelobt als blendender Verkäufer. 1992 sollte er das vorgestrige Image der Bundeswirtschaftskammer aufpolieren. Er zog mit seiner Familie nach Wien. Das Wiener Parkett war auch damals schon rutschig, doch nicht dort zu sein, wäre noch ungünstiger gewesen. In diesen Jahren formulierte Mitterlehner vor allem die Wünsche seiner Klientel: Senkung der Lohnnebenkosten, unbezahlte Krankenstandstage, Abbau der Bürokratie, Kritik an Privilegien der Verstaatlichten und anderer Großkonzerne. Mitterlehner lernte aber auch das sozialpartnerschaftliche Geben und Nehmen, den politischen Tauschhandel.

Mitte der 1990er-Jahre meldete er sich kritisch zur politischen Strategie seiner Partei zu Wort. Er vertrat die Ansicht, die soziale Orientierung (etwa das zweite Karenzjahr) habe der ÖVP nichts gebracht. Sie habe dadurch an Wirtschaftskompetenz eingebüßt, doch an Sozialkompetenz nichts gewonnen. Er forderte ein Ende der Pragmatisierung von Beamten, doch als in der Wendestimmung des Jahres 1999 recht forsch der Liberalisierung das Wort geredet wurde, war Mitterlehner unter den Bremsern: „Man muss auf das Tempo achten.“

Unter Wolfgang Schüssel durfte er wegen Unberechenbarkeit zeitweise nicht ans Rednerpult im Parlament.

Seit er Parteiobmann ist, wirkt Mitterlehner oft wie eine Redemaschine, langweilig und eintönig – mit dem Effekt, dass man sich am Ende kaum daran erinnert, was er gesagt hat. Es fehlt ihm jegliches Pathos. In der Migrations-und Flüchtlingsfrage ist das anders. Er war der Erste in seiner Partei, der Österreich (im Jahr 2007) als Zuwanderungsland definierte, und der jetzt davon spricht, dass „das Problem ins eigene Land komme“ und keiner mehr zusehen dürfe.

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„Wenn ich da oder dort taktisch geschickter agiert hätte, hätte ich das eine oder andere früher erreicht – aber ich habe mir nie das Kreuz brechen lassen. Und das werde ich mir bis zum Schluss behalten“, resümiert Mitterlehner über die vergangenen Jahrzehnte. Auch eine Variante, eine zähe Karriere zu beschreiben, die beinahe in der Sackgasse der ewigen Zukunftshoffnung geendet hätte. Seit Ende der 1990er-Jahre war der smarte Generalsekretär des Wirtschaftsbundes jedes Mal im Gespräch, wenn es Funktionen zu besetzen galt (Klubchef, Parteimanager, Minister) – und kam dennoch nie zum Zug. Selbst auf ein Nationalratsmandat musste er warten, bis er 45 Jahre alt war, um dann immer wieder in Ungnade zu fallen. Unter Wolfgang Schüssel durfte er wegen Unberechenbarkeit zeitweise nicht ans Rednerpult im Parlament; um seinen Platz auf der Nationalratsliste zitterte er immer wieder. Josef Pröll beendete dieses politische Leben auf der Wartebank und berief Mitterlehner zum Minister – wenn auch nicht ganz freiwillig: Pröll hatte das Amt schon dem Manager und steirischen Ex-Landesrat Herbert Paierl zugesagt, erst durch das Veto der Oberösterreicher kam Mitterlehner zum Zug. Er scheiterte erneut, als er nach Prölls Abgang 2011 nach der Parteispitze griff, doch Niederösterreichs Landeshauptmann Erwin Pröll hatte schon alles für Michael Spindelegger in die Wege geleitet.

2014 klappte es dann doch, auch zu seiner eigenen Überraschung: „Ich hatte eigentlich aufgehört, mich damit auseinanderzusetzen.“ Mit 58 Jahren bei Amtsantritt war Mitterlehner der älteste ÖVP-Chef der jüngeren Parteigeschichte – und als Vizekanzler, wieder einmal, auf der undankbaren Wartebank. Josef Pröll hielt dort zweieinhalb Jahre durch, Michael Spindelegger dreieinhalb Jahre. Vizekanzler unter der SPÖ haben eine kurze Verfallfrist. Wenn sie nicht den Absprung wagen.

„Ich kann grantig werden.“

ÖVP-Vizekanzler Reinhold Mitterlehner über …

… den Wechsel von Ursula Stenzel: Ursula Stenzel ist sich nicht zu schade, ihre Einstellung, aber auch ihre Herkunft von einem Tag auf den anderen wegzuwerfen – nur um Rache oder Beleidigtheit wegen der Listenerstellung im 1. Bezirk Genüge zu tun. Ich sehe das als Charakterfrage.

… bürgerliche Werte: Das Bürgertum gibt es nach wie vor. Möglicherweise sind aber die Werte des Bürgertums, also Eigenverantwortung, Leistungsorientierung, Freiheitsdenken, Solidarität bis zu einem bestimmten Grad da und dort verschüttet.

… den eigenen Aufstieg: Meine Familie war materiell nicht begütert. Da hat die Bildungsoffensive von Kreisky mitgeholfen, dass wir fast alle studiert haben. Es gab Chancen nicht nur für die Elite, sondern auch für alle anderen.

… seine Heimat im CV: Ich bin dazugegangen, weil zufällig im selben Stock meines Studentenheims in Linz Mitglieder der „Austro Danubia“ gewohnt haben. Ich kam vom Land, habe ihre Prinzipien und ihre Einstellungen gut gefunden und mich aufgehoben gefühlt.

… linke Vorbilder: Der Wirtschaftswissenschafter Kurt Rothschild, der an der Linzer Uni lehrte, war großartig. Einige seiner Thesen hab ich mir zu eigen gemacht: „Es ist besser, eine wichtige Frage zu stellen als eine unwichtige zu beantworten.“ – „Es ist besser, eine Frage ungefähr richtig als präzise falsch zu beantworten.“ – „Es ist gut, bei Unsicherheit nicht alle Eier in einen Korb zu legen.“

… den ungarischen Premier Viktor Orbán: Orbán ist Mitglied der Europäischen Volkspartei, und ich halte nichts von Zurufen, ihn aus der EVP-Familie auszuschließen – auch wenn ich den Bau eines Stacheldrahtzauns entlang der serbischen Grenze für wirklich problematisch halte. Einst hat Ungarn dafür gesorgt, dass niemand hinaus konnte, jetzt sichern sie, dass niemand hinein kann. Das ist für Europa schon sehr denkwürdig.

… Faymann-Freund Michael Landau: Wenn Sie darauf anspielen, dass Caritas-Präsident Michael Landau bei den ORF-„Sommergesprächen“ als Berater von Kanzler Werner Faymann vorgestellt wurde, muss ich schon fragen: Haben Sie das nicht als aufgesetzt empfunden? Ich möchte dem Bundeskanzler nicht nahetreten, hatte aber schon den Eindruck, dass sich Faymanns „Berater“ etwas distanziert haben von der ihnen zugewiesenen Rolle.

… Flüchtlingskoordinator Christian Konrad: Ich habe Konrad angerufen und gefragt. Mich amüsieren die Gerüchte, dass Konrad schon als Bundespräsident gehandelt wird. Das haben aber wir als ÖVP nicht vor, und er hat es auch nicht vor. Wir werden aber sicher einen attraktiven Kandidaten anbieten.

Österreich als Einwanderungsland: Ich habe schon vor einem Jahrzehnt Österreich als Einwanderungsland bezeichnet – zu einer Zeit, als das nicht opportun war, auch nicht für mich. Nehmen Sie nur das Wiener Telefonbuch, streichen Sie alle, die einen Migrationshintergrund haben, heraus – und das Land wird zusammenbrechen. Ein zukunftsorientiertes Österreich ist nur mit Migranten machbar, sonst wäre Österreich völlig überaltert. Daher sehe ich in den Flüchtlingen auch eine Chance: Das sind meist leistungswillige, mobile Menschen, gerade Flüchtlinge aus Syrien sind gut ausgebildet, sie können unsere Gesellschaft weiterbringen.

… das Flüchtlingsthema als Turbo für die FPÖ: Zum ersten Mal seit 20 Jahren dominiert die Flüchtlingsproblematik als Thema Nummer eins. Gar nicht so sehr als objektives Problem – die Hälfte der Österreicher hat in den letzten Monaten überhaupt keinen Flüchtling getroffen –, aber Flüchtlinge stehen symbolisch als nicht kalkulierbares Risiko für Arbeitsplatz und Sicherheit. Bei den Älteren herrscht oft noch die Einstellung: Die nehmen mir meine Pensionserhöhung weg. Oder: Mir hat auch niemand geholfen, eine Wohnung zu finden. Doch wir können uns nicht mehr wegducken. Das Problem kommt ins eigene Land, vielleicht sogar in den eigenen Vorgarten. Beim Flüchtlingsthema sind der Bundeskanzler und ich einig: Wir werden beide massiv verlieren, wenn wir nicht zusammenarbeiten.

… Schwarz-Blau: Es ist demokratie­politisch problematisch, von vornherein eine Partei auszuschließen, daher tue ich das nicht und lege mich auf keine Koalitionsvariante fest. Schwarz-Blau I unter Wolfgang Schüssel im Jahr 2000 hat vollkommen überzogene Reaktionen der EU hervorgerufen, das war kein eklatanter Rechtsruck. Es ist damals bei Reformen einiges in Bewegung gekommen, andererseits sind viele FPÖ-Vertreter den Versuchungen des Systems erlegen, das sie zuvor bekämpft hatten. Ich habe 2003 im Parteivorstand gegen Schwarz-Blau II gestimmt. Es hätte mit Schwarz-Grün damals eine Riesenchance für eine neue Regierungskonstellation gegeben, die aber zu wenig intensiv ausgelotet wurde. Meine Meinung ist allerdings nicht gut angekommen parteiintern, da habe ich mir möglicherweise für einige Jahre meine Zukunft verhaut.

… zur Schau getragenen Grant: Politik muss Spaß machen, die Menschen sollen auch den Eindruck haben, dass man das mit Freude macht. Gerade jetzt, wo die Herausforderungen größer werden, kann man nicht kneifen. Aber wenn ständig die gleichen Fragen wiederholt werden, kann ich grantig werden – so bin ich eben.

Eva   Linsinger

Eva Linsinger

Innenpolitik-Ressortleitung, stellvertretende Chefredakteurin