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Seelische Krücken

Haben wir das C-Inferno auch tatsächlich überstanden? Die bedrohliche Frage bleibt trotz der zögerlichen Freude, alte Selbstverständlichkeiten wieder in den Alltag aufnehmen zu können.

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Guten Morgen!

Wie geht es Ihnen in der neuen 3-G-Normalität? Haben Sie auch noch immer das Gefühl, etwas Frivoles, nahezu Verbotenes zu tun, wenn Sie mit lange Vermissten Erstbegehungen in Begleitung von Veltliner-Umspülung in Schanigärten absolvieren? Fühlt es sich noch immer völlig seltsam an, Freunde und Familie auf einmal wieder umarmen zu können?

„Ich bin geimpft!” ist der soziale Eisbrecher des Sommers und laut „New York Times” auch die am häufigsten zum Einsatz gebrachte Anbagger-Phrase auf der freien Wildbahn der Zwischengeschlechtlichkeit.

Die bedrohliche Frage bleibt trotz der zögerlichen Freude, alte Selbstverständlichkeiten wieder in den Alltag aufnehmen zu können: Haben wir das C-Inferno auch tatsächlich überstanden?

Und wie geht es den Menschen, die die Krankheit er- und überlebt haben heute? Wie gefährlich und irreversibel sind die Spätfolgen, die unter dem beklemmenden Begriff „Long Covid” zusammengefasst werden? Denn mehr als zehn Prozent der Patienten leiden auch Monate nach Ausbruch der Erkrankung noch unter Symptomen, die von chronischer Erschöpfung über anhaltende Atemnot bis hin zu neurologischen Lähmungen und Depressionen reichen.

Nach wochenlangen Recherchen und vielen Gesprächen mit Patientinnen und Expertinnen zum Phänomen Long Covid gibt profil-Wissenschaftsredakteurin Franziska Dzugan bei ihrer aktuellen Covergeschichte mit dem optimistischen Titel „Energiewende” Anlass zur Hoffnung.

„Man braucht viel Geduld, aber die meisten Menschen erholen sich wieder vollständig“, erklärte ihr der ärztliche Leiter Christian Brenneis eines Reha-Zentrums nahe Innsbruck, das sich auf „Long Covid” spezialisiert hat und erzählt, mit welchen Methoden seine Patientinnen wieder auf die Beine kommen.

Chronische Erschöpfung ist das häufigste Leidenssymptom seiner Schützlinge. Es macht sich auch bei den „Gesunden“ in milderer Ausformung breit. Fünfzehn Monate in Angst, Ungewissheit, Isolation und Verunsicherung lassen uns alle noch ein wenig wie auf seelischen Krücken gehen.

Der österreichische Psychiater Richard von Krafft-Ebing ortete um 1880 eine kollektive Angststörung, die sich an der Furcht „vor Seuchen, politischen Umwälzungen, Börsenkrachs, Kriegen, vor dem Socialismus und anderen schrecklichen Dingen” entzündete. Vom „Socialismus” abgesehen, könnte die Aussage auch wie maßgeschneidert auf die Gegenwart umgelegt werden. Offenbar reagieren Menschen, die sich in Epochen des Umbruchs, der Umwälzungen und radikalen Veränderungen befinden, unabhängig von ihrem realen Arbeitspensum, empfindsamer, nervöser und letztlich erschöpfter.

Schon Rainer Maria Rilke, Franz Kafka und Thomas Mann fuhren zu vitalisierenden Kuren in schicke Kliniken, wo sie barfuß durchs Gras liefen, sich vegetarisch ernährten, sich Dampfbäder und Salzwickel gönnten und im Freien schliefen. Nach einer solchen Prozedur konnte Rilke nur noch müde notieren: „Fehlt mir die Kraft? Ist mein Wille krank? Ist es der Traum in mir, der alles Handeln hemmt?“

Vielleicht hätte er die Antwort bei seinem späteren Dichterkollegen Peter Handke gefunden. Dieser hinterlässt in seinem „Versuch über die Müdigkeit” einen wertvollen Hinweis für den produktiven Umgang mit der Erschöpfung: „Die Inspiration der Müdigkeit sagt weniger, was zu tun ist, als was gelassen werden kann.”

Eine energetische Woche wünscht Ihnen

Angelika Hager

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Angelika Hager

leitet das Gesellschafts-Ressort