Rauf, runter, rauf: Die Wahl im buntesten und gegensätzlichsten Bezirk Wiens wird knapp.

Stellvertreterkriege: Wahlwiederholung in der Wiener Leopoldstadt

Die Wiener Leopoldstadt ist die kleine Welt, in der die große ihre Probe hält: Zwei Wochen vor der Bundespräsidentenwahl kämpfen hier FPÖ und Grüne bei der Wiederholung der Bezirkswahl gegeneinander. Ein skurriler Wahlkampf um das unnötigste Politamt im buntesten und gegensätzlichsten Bezirk Wiens.

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Ein Hipster rollt am Skateboard vorbei, eine Familie orthodoxer Juden mit Kinderwagen, eine schicke Rothaarige am teuren Klappfahrrad. Niemand lässt sich an dem heißen Spätsommernachmittag an der Wiener Praterstraße auf ein Gespräch mit Bezirksvorsteher Karlheinz Hora ein, bei manch anderen hapert es an Deutschkenntnissen, um zu verstehen, was der gedrungene Mann mit den roten Ballons und Kugelschreibern überhaupt von ihnen will. "Wir in der Leopoldstadt waren immer ein Schmelztiegel", sagt SPÖ-Politiker Hora nicht ohne Stolz. Und: "Das ist der merkwürdigste Wahlkampf, den ich jemals erlebt habe."

Mit beiden Sätzen hat er recht.

Der Wiener Bezirk Neubau steht für Szene-Bio-Vegan-Läden, die kaufkraftstarke Bobos bedienen. Favoriten für Kebap-Buden und Zuwanderer. Simmering für abgewohnte Arbeitersiedlungen. Döbling für noble Wohngegenden in Grünruhelage. Rudolfsheim-Fünfhaus für aufstrebende Trendsetter unter 30. Jeder der 23 Wiener Bezirke hat, zu Recht oder Unrecht, sein spezifisches Label. Nur die Leopoldstadt erfüllt gleich alle Klischees: So gegensätzliche Grätzel wie der düstere Drogen-und Kriminalitäts-Hotspot Praterstern, die entspannte Strandausgehzone Donaukanal, der überhippe Karmelitermarkt, das verrufene Rotlichtgebiet Stuwerviertel, die tristen Nachkriegszeit-Gemeindebauanlagen in den Industriezonen an der Donau, die schmucken Villen im Pratercottage machen den 2. zum buntesten Bezirk Wiens.

Das spiegelt sich in den Wahlergebnissen wider: Hinter der SPÖ, im traditionsreichen Arbeiterbezirk noch immer eine Hausmacht, rittern Grüne und Freiheitliche seit dem Jahr 2005 um Platz 2, ein politisches Abbild der Mischkulanz aus Künstlern, Studenten, Bobos und Modernisierungsverlierern unter den 103.233 Einwohnern. Dieses Match zwischen den Gegenpolen Grün und Blau gibt es in keinem anderen Bezirk: Bei den Wiener Wahlen 2005 lagen die Grünen vorne, 2010 hauchdünn die FPÖ, im Oktober 2015 wiederum die Grünen mit 22,15 Prozent -um arschknappe 21 Stimmen. Auch bei dieser Wahl rief die Verliererin FPÖ den Verfassungsgerichtshof an und bekam Recht, im Bezirk wird am 18. September neu gewählt. Das Problem ist bloß: Das weiß kaum jemand. Nicht ohne Grund findet das kleine Anhängsel Bezirkswahl sonst gemeinsam mit der Landtagswahl statt, die stets zur "Schlacht um Wien" und den Bürgermeister hochstilisiert wird. Eine Solo-Bezirkswahl gab es noch nie. Die paradoxe Hauptaufgabe von Wahlkämpfer Hora besteht darin, die Menschen zu informieren, dass sich eine Wahl begibt. Selbst wenn das geschafft ist, fokussiert sich das Interesse auf den Kampf um die hinteren Ränge.

Trotz brutaler Repressionen blieb der 2. Bezirk Zentrum jüdischen Lebens.

Platz 1 wird der SPÖ nicht zu nehmen sein, sie kam im Herbst 2015 auf 38 Prozent, 16 Prozentpunkte vor Grünen und FPÖ. Eigentlich geht es bei der Wahl vor allem um den Posten des zweiten Bezirksvorsteher-Stellvertreters, welcher der zweitstärksten Partei zusteht -und damit um das unnötigste Politamt, das Wien zu vergeben hat. Der Bezirksvorsteher wird von seinem ersten Stellvertreter vertreten, den ebenfalls die stärkste Partei stellt, also wohl die SPÖ. Der zweite Stellvertreter ist ein Titel ohne Macht und Mittel. Aber in der Leopoldstadt symbolisch hochaufgeladen: Die Wahl im Bezirk ist auch ein Testlauf für das große Match zwischen Blau und Grün, die Wiederholung der Bundespräsidentenwahl-Stichwahl, die zwei Wochen danach stattfindet. So mutiert die Leopoldstadt ungewollt zur kleinen Welt, in der die große ihre Probe hält.

Der Karmelitermarkt wurde in den letzten Jahren zum hippen Zentrum des Bezirks

Der seltsame Wahlkampf passt zum eigentümlichsten Bezirk Wiens, der stets ein rauer Zufluchtsort für Ausgestoßene war - und gleichzeitig schillerndes Refugium für Lustbarkeiten. Er mauserte sich mit jeder Donauregulierung vom anfangs schier unbewohnbaren, stets von Überschwemmungen bedrohten Augebiet zum zentrumsnahen Wohnraum, nur durch Brücken von der Innenstadt getrennt.

Zu den ersten Bewohnern gehörten kaiserliche Holzarbeiter und Jagdaufseher, denen Kaiser Maximilian II. gestattete, sich entlang der Praterstraße anzusiedeln. Sechs Jahrzehnte später folgten -gezwungenermaßen -die Wiener Juden, die in das Ghetto rund um die heutige Taborstraße verbannt wurden. Trotz brutaler Repressionen blieb der 2. Bezirk Zentrum jüdischen Lebens, vulgo "Mazzesinsel", benannt nach den Mazze-Bäckern.

Die riesigen Praterauen, heute als "Grüne Lunge" Wiens bekannt, waren damals für die "gemeinen oder gar Handwerks-Leut" verschlossen, nur Adelige durften hier jagen und lustwandeln. Als Kaiser Joseph II. sich "allergnädigst entschloss", wie er am 9. April 1766 im "Wiener Diarium" verlautbaren ließ, den Prater für alle zu öffnen, bedeutete das die Geburtsstunde der Leopoldstadt als Vergnügungszentrum. Binnen einer Woche nach der Öffnung erhielten Ringelspiele, 66 Wein-Wirte, 46 Bier-Wirte, "allerhand" Kaffeesieder, Lebzelter und Fleischstecher ihre Gewerbegenehmigung für den Prater, die - im Gegensatz zur Innenstadt - auch Frauen besuchen durften. Waghalsige Achterbahnen, die Expo, das Riesenrad, das berühmte Schweizerhaus und Watschenmänner folgten, Attraktionen wie Riesenschlangen, siamesische Zwillinge, 70 Angehörige des "wilden Volks der Aschanti","Indianer" und eine "am ganzen Körper behaarte Mexikanerin" wurden zur Schau gestellt, bis zu 20.000 Besucher täglich via Gondeln durch "venezianische Kanäle" geschippert.

Die Mazzesinsel ist eine Totenstadt. (Doron Rabinovici)

Das veränderte den Bezirk, weit über den eigentlichen Prater hinaus. Lustspieltheater, Orpheen, jüdische Theater, Musiketablissements, Planetarien und später Kinos ballten sich in der oberen Leopoldstadt, im Taborkino wurden Revue-"Weltsensationen" angekündigt, im prächtigen Dianabad kam Strauss' Donauwalzer zur Uraufführung. Kaum eines der Theater und kein Kino hat überdauert, als Freizeitzone fungiert der 2. mit Klubs wie der "Pratersauna", Lokalen wie dem "Fluc" oder dem, "Tel Aviv Beach" am Donaukanal aber bis heute. Auch der fließende Übergang von Lustbarkeiten zum Halbseidenen und Rotlichtmilieu blieb: Schon vor Jahrhunderten lockten Prostituierte im Stuwerviertel Soldaten mit "Komm mit, wirst angesteckt und brauchst nicht in den Krieg" - heute sammeln Bürgerinitiativen dort Unterschriften gegen Laufhäuser und den Straßenstrich.

Abgewohnte Gegenden wie das Stuwerviertel nahe dem Prater und die riesigen Gemeindebauten nahe der Donau sind seit den 1990er-Jahren Kampfzonen von SPÖ und FPÖ - und waren Mitte des 19. Jahrhunderts ein Zentrum der klassenbewussten, kampfbereiten Arbeiterschaft. Als 1848 die Löhne drastisch gekürzt wurden und Arbeitsminister Ernst Schwarz das martialisch mit den Worten "Eher sollen 10.000 Arbeiter niedergeschossen werden, ehe ich von meinem Entschluss abstehe " verteidigte, versammelten sich Tausende Demonstranten im Prater. Die "Praterschlacht" gegen die Nationalgarde forderte 22 Tote. Das proletarische Bewusstsein blieb, verdeutlicht etwa durch Arbeiterkulturvereine und Strombäder im Donaukanal, die von den entschlossenen Mitgliedern des Arbeiter-Abhärtungsvereins "Verkühle dich täglich" auch im Winter frequentiert wurden.

Der Donaukanal zwischen dem 1. und dem 2. Bezirk, heute eine lebendigtrendige Lokalmeile, war vor einem Jahrhundert auch Sinnbild der Massenarmut. "Riviera der Arbeitslosen" wurde er in der Zeitung "Der Abend" genannt, wo "Luft, Sonne und Wasser nichts kosten". Und das "Illustrierte Wiener Extrablatt" hatte gar eine eigene Rubrik namens "Lebensmüde" eingeführt, für die Verzweifelten, die sich von den Donaukanal-Brücken stürzten.

Bis heute ist die Leopoldstadt ein Zuwanderer-Bezirk, der Anteil der im Ausland geborenen Bevölkerung liegt mit 39 Prozent deutlich über dem Wiener Durchschnitt (33 Prozent). Früher war der Nordbahnhof das Einzugstor, nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges unter anderem für Tausende Juden aus dem Osten der Monarchie. "Die Leopoldstadt ist ein armer Bezirk. Es gibt kleine Herbergen, in denen 60 Leute am Fußboden übernachten. Die Ostjuden leben nicht besser als die christlichen Bewohner. Sie haben viele Kinder und sie sind verhasst", schrieb der Schriftsteller Joseph Roth 1927. In keinem anderen Bezirk lässt sich die Auslöschung durch den Holocaust besser nachvollziehen als in der Leopoldstadt: Vor 1938 lebten 60.000 Juden hier - heute sind es 3000. Gedenktafeln und Steine erinnern an Sammellager, Deportationszüge und Pogrome. "Die Mazzesinsel ist eine Totenstadt", schreibt der Literat Doron Rabinovici, selbst Leopoldstädter. Und: "Aber in den vergangenen Jahren blüht wieder jüdisches Leben auf."

Für die vergangene Woche falsche Wahlkarten verschickt wurden - ein möglicher Grund für die Anfechtung der Wahlwiederholung.

Wie im ganzen Bezirk. Das war lange Zeit schwer vorstellbar. Unter sowjetischer Besatzung, als die heutige Reichsbrücke "Brücke der Roten Armee" hieß, tummelten sich im 2. Bezirk Schleichhändler, Strizzis und Agenten, in den 1960er-und 1970er-Jahren wurden gigantonomanische Großprojekte verwirklicht. Seit 1970 durchschneidet mit der Südosttangente die meistbefahrene Autobahn Österreichs den Prater, sehr zum Ingrimm der darunter logierenden Kleingärtner. Und am verbauten Verkehrsknotenpunkt Praterstern ist seither jeder Behübschungsversuch ergebnislos abgeprallt, er ist Anziehungspunkt für Sandler und andere Gestrauchelte.

Hier testet die FPÖ, wie viel politisches Kapital sich aus Horrorschlagzeilen wie "brutale Vergewaltigung am Praterstern" schlagen lässt und donnert: "Praterstern bleibt Schandfleck von Wien!"

Die Grüne Spitzenkandidatin Uschi Lichtenegger hingegen sitzt 1300 Meter weiter weg, am Karmelitermarkt - und in einer anderen Welt. Hier gibt es Fair-Trade-Limonaden, "100 Prozent Organic- Gin-Tonic" und trendige Kuchengeschäfte namens "Fett und Zucker". Sie wahlkämpft unter anderem gegen zu viel Gentrifizierung und Wohnungsspekulation im Bezirk. 500 sündteure Dachterrassenwohnungen wurden allein im Vorjahr gebaut, Lichtenegger will die "soziale Mischung im Bezirk erhalten".

Bei der ersten Runde der Bundespräsidentenstichwahl im Mai ging der Stellvertreterkrieg in der Leopoldstadt übrigens eindeutig aus: 71,15 Prozent wählten Alexander Van der Bellen, 28,85 Prozent Norbert Hofer. Aber das ist Makulatur und muss nichts heißen - schon gar nicht für die Bezirkswahl. Für die vergangene Woche falsche Wahlkarten verschickt wurden - ein möglicher Grund für die Anfechtung der Wahlwiederholung. Womit das Kuriosum perfekt wäre.

Eva   Linsinger

Eva Linsinger

Innenpolitik-Ressortleitung, stellvertretende Chefredakteurin