Österreich

Part-Time-Lovers

Österreich zählt bei der Teilzeitarbeit zur Europa-Spitze. Der Wirtschaftsminister will das ändern - zurecht. Mit Strafmaßnahmen wird der Wandel aber nicht gelingen.

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Die Ausgangssituation: Laut Statistik Austria lebten am 1. Jänner 9.106.126 Menschen in Österreich, 127.197 Personen mehr als im Jahr davor. Von diesen 9,1 Millionen Einwohnern sind 4,3 Millionen Erwerbstätige, worunter der Volksmund die „arbeitstätige Bevölkerung“ versteht. Unter den Erwerbstätigen sind nach Daten aus 2021 3,8 Millionen unselbstständig Beschäftigte. 

Um sie geht es in diesem Artikel – und in einer Diskussion, die Martin Kocher, Minister für Arbeit und Wirtschaft auf einem ÖVP-Ticket, vergangene Woche in einem „Kurier“-Interview anstieß. Denn von den 3,8 Millionen unselbstständig Beschäftigten arbeiten 29,4 Prozent in Teilzeit, also weniger als die gesetzlich (derzeit 40 Stunden pro Woche) oder kollektivvertraglich (etwa im Handel: 38,5 Stunden) festgeschriebenen Vollzeit-Stunden. Auffällig ist der Gender Gap: 49,6 Prozent der Frauen sind in Teilzeit, aber nur 11,6 Prozent der Männer. Ob Mann, ob Frau – im Europa-Vergleich gibt es nur in den Niederlanden und in der Schweiz mehr Teilzeitbeschäftigte. 

Nun ist das in normalen Zeiten für den Arbeitsmarkt kein Problem. „Normal“ heißt, dass sich der Arbeitsmarkt halbwegs in Balance befindet. Die Arbeitgeber finden genug Arbeitnehmer – und umgekehrt. Aus dem Gleichgewicht ist der Arbeitsmarkt, wenn die Arbeitslosigkeit hoch ist – was derzeit in Österreich nach einem starken Anstieg 2020, im ersten Jahr der Corona-Krise, erfreulicherweise nicht der Fall ist. 

De-facto herrscht beinahe Vollbeschäftigung. Dennoch ist der Arbeitsmarkt nicht im Gleichgewicht. Denn den Unternehmen fehlen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Früher betraf dies vor allen Spezialisten wie Schweißer, Verfahrenstechniker und Elektromechaniker. Doch mittlerweile herrscht nicht nur ein „Facharbeitermangel“, sondern, wie Kocher vor einigen Monaten anmerkte, „ein chronischer und massiver Arbeitskräftemangel“. Auf der Mikroebene bedeutet dies ein Problem für Unternehmen, makropolitisch auch für die gesamte Volkswirtschaft Österreichs. 

Messbar wird dieses Problem an der Zahl der Erwerbstätigen, also Unselbstständigen und Selbstständigen. „Die Erwerbspersonenzahl stagniert trotz wachsender Bevölkerung“, sagte Statistik Austria-Generaldirektor Tobias Thomas im Dezember. Das liegt vor allem an der zunehmenden Alterung der Bevölkerung. Die durchschnittliche Lebenserwartung beträgt bei Männern 78,9 Jahre, ein Plus von 16,5 Jahren seit 1951. Frauen werden im Schnitt 83,7 Jahre alt, um 15,9 Jahre mehr als 1951. Auf eine Person im Alter von 65 Jahren und mehr kommen in Österreich derzeit drei Personen im Erwerbsalter (20 bis 64 Jahre). Laut Prognosen wird dieses Verhältnis ab 2040 eins zu zwei betragen.
Wenn auch in Zukunft immer mehr Menschen in Österreich leben, aber - in Relation gesetzt - weniger davon arbeiten, geraten die sozialen Sicherungssysteme (Kranken-, Unfall- und Pensionsversicherung) unter Druck. Irgendwann reichen die einlangenden Beiträge von Arbeitnehmern und Arbeitgebern nicht mehr aus, um die Leistungen für die Versichertengemeinschaft zu finanzieren. 

Aus mikro- und makroökonomischer Sicht sollte in Österreich also mehr gearbeitet werden. 

Den sozio-demografischen Wandel kann die Politik nur mittelfristig beeinflussen, etwa durch verstärkte Zuwanderung junger Menschen. Wesentlich schneller wird Abhilfe geschaffen, wenn diejenigen, die jetzt schon arbeiten, noch mehr leisten. Vollzeitbeschäftigte sind allerdings ausgelastet und Überstunden teuer. Daher bieten sich die rund 1,1 Millionen Teilzeitbeschäftigten als – wie es Fachleute formulieren – „stille Reserve“ für den Arbeitsmarkt an.

Martin Kocher ist liberal ausgerichteter Volkswirtschaftsprofessor mit dem Spezialfach Verhaltensökonomie. Diese Disziplin erforscht unter anderem, warum sich Menschen über Verluste mehr ärgern, als über Gewinne in gleicher Höhe freuen. Aus dieser allzu menschlichen „Verlustaversion“ schließen die Verhaltensökonomen, dass das Unsinnigste, was man als Politiker tun kann, darin besteht, Menschen etwas wegzunehmen. Es sei denn, man will die nächsten Wahlen verlieren.

Was Kocher als Wissenschafter wissen müsste, ignorierte er als Politiker. Im „Kurier“-Interview sprach er sich für „weitere Schritte“ aus, „um Vollzeitbeschäftigung attraktiver zu machen“. Mittel dazu wären laut Kocher „eine geringere Abgabebelastung und noch treffsicherer Einsatz von Sozialleistungen“. Der erste Punkt ging angesichts des zweiten unter, den Kocher so ausführte: „In Österreich wird wenig unterschieden bei Sozial- und Familienleistungen, ob jemand 20 oder 38 Stunden arbeitet. Wenn Menschen freiwillig weniger arbeiten, dann gibt es weniger Grund, Sozialleistungen zu zahlen.“ Plus: „Das Phänomen der Teilzeit ist weniger verbreitet, als man glaubt und teils ein Privileg.“ So löst man Verlustängste aus.

Kritik kam prompt aus allen Lagern: Opposition, Koalitionspartner, Gewerkschaft, Arbeiterkammer, Katholischer Familienverband. 

Nur ÖVP-nahe Wirtschaftsvertreter gratulierten dem Minister. Der schien erschrocken über sich selbst und korrigierte seine Aussagen bereits wenige Stunden später: „Es geht nicht um Kürzungen von Sozialleistungen, sondern darum, bei neuen Maßnahmen, Änderungen und Reformen den Teilzeit-Aspekt stärker zu berücksichtigen.“

Aus den Reihen der ÖVP heißt es, die Äußerungen seien Kocher „passiert“. 

Mittleres Bruttojahreseinkommen Vollzeitbeschäftigte: 45.522 €

Mittleres Bruttojahreseinkommen Teilzeitbeschäftigte: 22.255 €

Im Bereich der Sozialversicherung wird Teilzeit ohnehin sanktioniert. Wer weniger arbeitet, zahlt weniger Beiträge und erhält daher eine geringere Pension und weniger Arbeitslosengeld. 

Die Idee, Teilzeitbeschäftigten aliquot Sozialleistungen wie die Familienbeihilfe zu streichen, scheint undurchdacht. Kinder von Vollbeschäftigten wären dann mehr wert als der Nachwuchs von Teilzeitkräften – was nicht gerade den Idealen der Familienpartei ÖVP entspricht. 

Der Direktor des Arbeitsmarktservice (AMS), Johannes Kopf, hält Verschlechterungen für Teilzeitbeschäftigte für nicht zweckmäßig. Allerdings regt er an, über mögliche Anpassungen im Abgabensystem nachzudenken, das Teilzeitarbeit punktuell tatsächlich bevorzugt. So zahlen Teilzeitbeschäftigte mehrheitlich keine oder nur geringe Lohnsteuer. 

Die Ausgestaltung des heimischen Steuersystems macht laut einer Berechnung des Think Tanks Agenda Austria mehr Arbeit nicht unbedingt lukrativer. Verdoppelt eine Teilzeitkraft die wöchentliche Arbeitszeit, ist also um 100 Prozent länger im Job, erhöht sich das Nettoeinkommen nur um 66 Prozent. In Schweden liegt dieser Wert bei 85 Prozent, in Deutschland bei 77 Prozent. 

AMS-Chef Kopf würde eine – sachliche – Diskussion über die Teilzeit begrüßen. Das übergeordnete Ziel dabei sollte seiner Meinung nach die Erhöhung der Frauenerwerbsbeteiligung sein. 

Ursprünglich war die Teilzeitarbeit ein genuin frauenpolitisches Anliegen – und eine zentrale Forderung des Frauenvolksbegehrens von 1997. Denn Teilzeit sei „ein Patentrezept, damit Frauen Beruf und Familie vereinbaren können“, wie die Publizistin Eva Rossmann, eine der Initiatorinnen des Volksbegehrens, damals erklärte. 

Umgesetzt wurde die Forderung von der schwarz-blauen Koalition unter Kanzler Wolfgang Schüssel. Im Mai 2004 beschloss der Nationalrat – mit den Stimmen der SPÖ – das Recht auf Elternteilzeit. Bis zum siebten Geburtstag ihres Kindes können Mütter oder Väter ihre Arbeitsstunden reduzieren. Daneben gibt es noch weitere gesetzlich vorgesehene Teilzeitmodelle wie Altersteilzeit, Pflegeteilzeit, Bildungsteilzeit, Wiedereingliederungsteilzeit und die Kurzarbeit. 

Bekanntlich soll man Wünsche genau bedenken, denn sie könnten in Erfüllung gehen. Mittlerweile wird Teilzeit aus feministischer Sicht weniger als Fortschritt, sondern als Falle gesehen. Denn langfristig führt Teilzeitbeschäftigung zu empfindlichen Einbußen bei Gehalt und Pension, wie das AMS in Fallbeispielen vorrechnet. 

Etwa: Eine Frau, die nach einer Karenz 15 Jahre lang 30-Stunden-Teilzeit und danach wieder Vollzeit arbeitet, verliert gegenüber einer Kollegin, die nach der Karenz nur wenige Jahre Teilzeit und rasch wieder Vollzeit arbeitet, insgesamt 120.000 Euro, gemessen am gesamten Lebenseinkommen aus Gehalt und Pension.

So gesehen sollten Frauen in Österreich möglichst bald nach der Karenz wieder voll ins Geschäft einsteigen. Allerdings fehlen dazu – auch noch im Jahr 2023 – die entsprechenden ganztägigen Kinderbetreuungseinrichtungen. 

Laut der Mikrozensus-Erhebung der Statistik Austria führt ein Drittel der Frauen Betreuungspflichten als Grund für ihre Teilzeitbeschäftigung an. Ein Viertel gibt allerdings an, gern, also freiwillig, Teilzeit zu arbeiten und gar kein Vollbeschäftigungsverhältnis anzustreben. Dabei handelt es sich in der Mehrzahl um besser gebildete und verdienende Frauen. Viele Frauen bleiben laut Umfragen auch in Teilzeit, wenn ihre Kinder bereits über 15 Jahre alt sind. Hauptmotiv bei Männern, in Teilzeit zu gehen, ist die Weiterbildung.

Insgesamt ist Teilzeitbeschäftigung kein branchenübergreifendes Arbeitsmodell, sondern auf wenige Berufsgruppen konzentriert. Ein Viertel arbeitet in Dienstleistungsberufen, wozu auch Verkäuferinnen und Verkäufer gezählt werden. Darauf folgen akademische Berufe, darunter etwa Lehrerinnen und Lehrer. Die drittgrößte Berufsgruppe unter den ganzjährig Teilzeitarbeitenden stellen Technikerinnen und Techniker. Chefs finden sich kaum unter den Part-Time-Lovers. Nur zwei Prozent aller Teilzeitbeschäftigten sind Führungskräfte.

Überschätzt wird laut AMS-Direktor Johannes Kopf der medial vielbeschriebene Wunsch unter jungen Menschen nach einer ausgewogenen Work-Life-Balance. Dass 20- bis 25-Jährige Jobeinsteiger und Jungakademiker Teilzeit (mit mehr Freizeit) gegenüber Vollzeitjobs bevorzugen, ist ein Randphänomen. Arbeitsminister Martin Kocher würde es wohl „ein Privileg“ nennen.

Gernot   Bauer

Gernot Bauer

ist Innenpolitik-Redakteur.