Erdbeben in der Türkei/Syrien

Türken in Österreich: „Ich will meine Großeltern da rausbringen“

Urlaub nehmen und hinfahren? Verwandte herholen? Oder wie in Trance einfach weitermachen in Österreich und Geld in die Türkei schicken? Wie das Jahrhundert-Erdbeben das Leben von Austro-Türken nachhaltig erschüttert. Streifzug durch die Community.

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Eine Hilfszentrale in Wien-Liesing. In der Halle, in der sonst türkische Hochzeiten gefeiert werden, werfen sich die vorwiegend jungen Helfer Säcke zu.  Sie kommen seit Tagen nach der Arbeit oder haben sich Urlaub genommen, um Erdbebenopfer  in der türkisch-syrischen Grenzregion mit dem Notwendigsten zu versorgen. In einem Verschlag kochen Mitarbeiter des Hallenbesitzers türkischen Tee für die Freiwilligen. Kleidungsstücke werden abgesehen von dicken Pullis und Jacken nicht mehr angenommen. Umso begehrter sind Medikamente, Windeln, Decken oder Stromgeneratoren.

Ein 22-jähriger Wiener namens Sebastian wird am nächsten Tag einfach so 20 Generatoren vorbei bringen und den erstaunten Helfern seine Beweggründe schildern. In seiner schweren Kindheit sei ihm ein Türke ein guter Freund gewesen. Das sei nun sein Dank.

Der Favoritner Bezirksrat (SPÖ), Muhammed Yüksek, erzählt von einer betagten Österreicherin, die ihren Pelzmantel gegen die Kälte im Erdbebengebiet spendete.

Vergangenen Donnerstag pilgerten zahlreiche Austro-Türken auf den Wiener Flughafen und empfingen Soldaten des Bundesheeres, die Überlebende aus den Trümmern geborgen hatten, frenetisch mit „Österreich!“-Sprechchören.

Frenetischer Empfang

Austrotürken begrüßen Bundesheer-Helfer bei ihrer Rückkehr aus dem Erdbebengebiet

Es sind solche Geschichten der Solidarität, die auf Social Media kursieren, um Mut zu machen und abzulenken vom drängenden Gefühl der Ohnmacht angesichts der laut Weltgesundheitsorganisation größten europäischen Naturkatastrophe seit einem Jahrhundert – mit bis zu 70.000 Toten, 85.000 Verletzten und Hunderttausenden Obdachlosen in einem zerstörten Gebiet so groß wie Österreich.

Es sind Geschichten, die zeigen, wie weit die Hilfsbereitschaft in den ersten Tagen nach dem verheerenden Erdbeben am 6. Februar 2022 über die türkische Community hinausging. Doch allen ist bewusst: Die anonyme Hilfsbereitschaft schwindet - wie nach jeder Naturkatastrophe - rasch. Umso zentraler wird die private Hilfe innerhalb der Familien und Bekanntenkreise über die Grenzen hinweg. Denn für viele Überlebende im Erdbebengebiet geht die persönliche Katastrophe jetzt erst richtig los.

Die Angehörigen brauchen nach Tonnen an Kleidung, die sie in den ersten Tagen erreichten, nun vor allem finanzielle Hilfe. Aber auch Unterstützung bei der Suche nach einem festen Dach über dem Kopf. Denn tausende Häuser sind eingestürzt oder einsturzgefährdet. Die Angst vor weiteren Nachbeben geht um.

Viele in der Community fragen sich: Sollen sie Urlaub nehmen und runterfliegen? Oder versuchen, Angehörige nach Österreich zu holen, obwohl die Regierung Visa-Erleichterungen ausgeschlossen hat? Oder ist es das Beste, einfach weiterzumachen und zu sparen, um möglichst viel Geld zu schicken? 

Enorme Hilfsbereitschaft der Austro-Türkischen Community

Decken werden noch in Lkws verfrachtet, der Rest im Hintergrund geht an die Caritas, weil am Ende sogar zu viel Kleidung gespendet wurde.

„Sie gehen wie Zombies durch den Alltag, weil sie in Gedanken ganz wo anders sind“, schildert Yüksek die Stimmungslage in der Community nach der kollektiven Erschütterung.

Der 37-jährige Politiker sitzt mit Ümit Günes in dessen leeren Veranstaltungssaal in Wien-Liesing. Hier rollte ein paar Stunden nach dem frühmorgendlichen Beben die erste große Hilfsaktion an. Günes’ Freund, der 27-jährige Unternehmer Alim Uslucan wollte einen Reisebus mit Hilfsgütern voll bekommen und legte einen Stopp bei Günes ein. Ihr Spendenaufruf über Facebook und TikTok sprengte das Fassungsvermögen des Busses um ein Vielfaches. Tausende Kisten und acht prall gefüllte Lkw später verlagerte sich die Hilfsaktion in die Hochzeitshalle ein paar Gassen weiter. „Ein Lkw-Fahrer kam erst beim Einladen drauf, dass er 30 Tote in der Großfamilie hat. Er fuhr trotzdem“, erinnert sich Yüksek. „Ich kenne einen Friseur in Favoriten: auch 30 Tote. Ein Freund, der letzten Samstag bei mir Hochzeit feiern wollte: 60 Tote“, sagt Günes. Tote zählen, Alltag in vielen Familien.

In Österreich leben rund 300.000 Menschen mit türkischen Wurzeln, 120.000 besitzen noch den türkischen Pass. Die Erdbebenregion rund um die Großstadt Gaziantep nahe der syrischen Grenze zählt nicht zu den klassischen Herkunftsregionen türkischer Gastarbeiter – diese liegen in Zentralanatolien. Es bestehen dennoch enge Bande. Der türkische Botschafter in Wien, Ozan Ceyhun, schätzt die Zahl der Austrotürken aus dem Raum Gaziantep auf grob 10.000, rund 5000 würden aus der Region Hatay an der syrischen Grenze stammen. Angesichts teils kinderreicher Familien kennt praktisch jeder jemanden, dessen Cousins, Nichten, Neffen, Tanten, Onkel, Großeltern unter Trümmern begraben wurden.

"Die Menschen hörten Stimmen und mussten mit eigenen Händen nach Verschütteten graben.“

Z. Yatkin-Puntigam, Grüne Bezirksrätin
 

Günes stammt aus Adana am Rande der Erdbebenzone. Ein Teil der Familie lebt in der Provinz Hatay, nahe dem Epizentrum. Am Abend der Katastrophe erfährt er von acht vermissten Angehörigen. Nach unserem Gespräch in Wien steigt er ins Flugzeug, um vor Ort zu helfen. „Hier ist alles zerstört. Die Stadt existiert nicht mehr. Jeder wartet auf  „seine  Leichen, um sie begraben zu können“, schildert Günes am Telefon. In der Zwischenzeit werden die Trümmer der eingestürzten Häuser nach den Habseligkeiten der Toten durchsucht. „Wir haben Fotos meines Cousins gefunden. Er hat im ersten Stock mit seinem Bruder zusammengelebt.“ Am Tag des Erdbebens war eine Cousine mit ihrem Baby zu Besuch. Alle starben in den Trümmern.
Es fehle an allem – selbst an Orten, um die Notdurft zu verrichten, schildert Günes. Er ist schockiert über Plünderungen, die das Chaos perfekt machen. Wie einfach weitermachen nach der Rückkehr ins sichere, geordnete Österreich? Mit dem Wissen über die Zerstörung ihrer alten Heimat? Wie umgehen mit irrationalen Schuldgefühlen, nur weil es einem selbst gut geht?  
Eine 29-jährige Angestellte aus Wien, die Wurzeln in Hatay hat (sie bleibt lieber anonym), will die Heimat zu sich holen. Konkret: Ihre Großeltern im Alter von 78 und 84 Jahren. „Ich will sie da rausbringen. Ihr Haus ist nicht mehr bewohnbar. Sie sind sehr pflegebedürftig. Jeder Tag in Österreich wäre ein Gewinn“, hofft sie auf ein beschleunigtes Visum für drei Monate. In Deutschland geht das. Unter der Rubrik „Ich möchte meine vom Erdbeben betroffenen Angehörigen nach Deutschland holen“ erklärt das deutsche Außenministerium auf seiner Homepage das Eil-Visum. 

„Die Stadt meiner Cousins existiert nicht mehr. Jeder wartet auf seine Leichen, um sie begraben zu können.“

Ümit Günes, Veranstalter

Bezirkspolitiker Yüksek brachte eine Petition im Parlament ein, um Familienangehörige rasch und unbürokratisch nach Österreich holen zu können. Wiens SPÖ-Bürgermeister Michael Ludwig steht hinter der Initiative. Doch Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) erteilte konkreten Visa-Erleichterungen eine Absage. Österreich setze lieber auf „Hilfe vor Ort“. Nach drei Millionen aus dem Auslandskatastrophenfonds werden bei Bedarf weitere Mittel freigemacht, heißt es aus dem zuständigen Außenministerium. 

Die harte Linie bei Visa hat auch mit der tiefsitzenden Angst vor neuen Fluchtbewegungen zu tun, die von der FPÖ  geschürt wird. „Da geht es höchstens um ein paar Tausend Menschen, für die wir alle Kosten übernehmen. Menschen, die ein normales Leben in der Türkei hatten, in das sie so rasch als möglich wieder zurückkehren wollen“, hält die Frau, die ihre Großeltern holen will, diese Ängste für unbegründet. 

Das österreichische Generalkonsulat in Istanbul verzeichnete bisher nur einen leichten Anstieg bei Visa-Anträgen. Sollte sich das ändern, werde ein zusätzlicher Mitarbeiter dafür sorgen, dass Anträge „raschestmöglich geprüft werden“.

Grußbotschaft

Türkischer Botschafter Ozan Ceyhun im Hilfszentrum.

Botschafter Ceyhun telefoniert dieser Tage viel mit österreichischen Regierungsmitgliedern. Derzeit gebe es bei den Konsulaten einen massiven Antragsstau bei Reise-Visa. Eine Beschleunigung für Erdbebenopfer würde er begrüßen. „Ein 3-Monats-Visum wäre sicher kein Einfallstor für illegale Migration.“ Ceyhun zeigt aber auch Verständnis für Österreichs Zurückhaltung angesichts der vielen Ukrainer im Land. Und er ist bemüht, zu versichern, dass die Türkei die Lage im Griff hat. „Wir sind in der Lage, alle Menschen in der Türkei unterzubringen.“ Es sei eine massive Binnenmigration in andere Städte oder leerstehende Hotels in der Küstenregion im Gange. Zusätzlich würden Containerdörfer errichtet. Die zerstörten Häuser sollen in einem Jahr wieder durch neue ersetzt sein, zitiert er ein Versprechen des türkischen Präsidenten, Recep Tayyip Erdoğan.

Erdoğan und seine Beamten wollen den Blick in die Zukunft lenken, weil viele Türken voller Wut in die Vergangenheit schauen. Sie fragen sich: Warum stürzten in einer Erdbeben-Hochrisikozone neue Gebäude ein wie Kartenhäuser? Warum wurden diese Gebäude von der Bauaufsicht genehmigt? Was geschah mit den Milliarden aus der Erdbebensteuer, die seit der letzten Katastrophe 1999 mit 17.000 Toten eingehoben wird, um genau solche Erdbebenzonen sicherer zu machen? 

Seit dem Beben wurden mehrere private Bauunternehmer festgenommen. Im Laufe der Verfahren werde auch bestimmt gegen die verantwortlichen Mitarbeiter der Genehmigungsbehörden ermittelt, sagt der Botschafter und ist um Abgrenzung bemüht: „Keines der von dem Staat errichteten Wohngebäuden (TOKI) wurde bei diesem Erdbeben zerstört.“ 

Für den kurdisch-stämmigen Soziologen Kenan Güngör ist es „ein bekanntes Manöver, einzelne Sündenböcke herauszupicken, um das klientelistische System von Politik, Verwaltung und Bauunternehmer freizusprechen“. Das Staatsversagen sei „offensichtlich“.

Zerife Yatkin-Puntigam erhebt einen weiteren schweren Vorwurf gegen den türkischen Staat: Unterlassene Hilfeleistung. Die Grüne Bezirksrätin in Wien Ottakring wuchs in Hatay auf. Ihre Großfamilie hat mehrere Opfer zu beklagen. Die 49-Jährige ist überzeugt: Weil in ihrer politisch links geprägten Provinz vorrangig Minderheiten wie Kurden, Araber und Aleviten leben, sei staatliche Hilfe durch die konservative AKP-Regierung erst nach Tagen eingetroffen. „Die Menschen hörten Stimmen und mussten mit eigenen Händen graben.“ Und auch sie fragt sich, warum so viele Gebäude wie aus Sand gebaut waren. Immerhin hätten die Erwachsenen schon in ihrer Kindheit davon gesprochen, dass ein großes Beben kommen werde. Jetzt sei der Straßenzug zur ehemaligen Schule völlig zerstört. „Und auch das Geschäft des Greißlers, der uns immer Obst spendierte, ist dem Boden gleichgemacht.“ 

Wie rasch hätten die Hilfskräfte angesichts der enormen Dimension vor Ort sein können? Wurden Gebiete bevorzugt und andere vernachlässigt? Diese Fragen werden bohrender. Auf das Erdbeben könnte ein politisches Beben folgen. So groß ist die Wut, die sich aufgestaut hat.

Doch vorerst gibt es andere Prioritäten als Politik. „Viele hatten noch gar keine Zeit, richtig zu trauern“, sagt Yatkin-Puntigam. Es sei zu viel zu tun.

Clemens   Neuhold

Clemens Neuhold

Seit 2015 Allrounder in der profil-Innenpolitik. Davor Wiener Zeitung, Migrantenmagazin biber, Kurier-Wirtschaft. Leidenschaftliches Interesse am Einwanderungsland Österreich.