„Er möchte Sie nur Eines fragen”

Tzipi Livni und die Geschichte ihres Schwiegervaters

Mauthausen. Tzipi Livni und die Geschichte ihres Schwiegervaters

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Ein alter Herr kämpft sich die drei Stufen zum Podium hinauf. Als 16-Jähriger musste er hier Leichen einsammeln und auf Karren schlichten, danach in den Stollenbau. Als 85-Jähriger ist er noch ein Mal an diesen Ort gekommen. Seine Schwiegertochter stützt ihn.

Eine Szene wie diese hat es auf dem Boden des früheren Konzentrationslagers Mauthausen noch nicht gegeben, sie wäre aufgrund der österreichischen Verhältnisse - Waldheim-Wahl, ÖVP-FPÖ-Koalition - sehr lange unmöglich gewesen. Denn der ehemalige Häftling ist Moshe Spitzer, geboren in der damals ungarischen Stadt Dés in Transsilvanien und seine Schwiegertochter, die ihm über die Stufen hilft, ist Tzipi Livni, Israels zweite weibliche Außenministerin nach der legendären Golda Meir und jetzt Justizministerin sowie Bevollmächtigte für Friedensverhandlungen mit den Palästinensern.

Vor ihrem Abflug hatte die Politikerin gegenüber der israelischen Zeitung "Ma’ariv“ gemeint, sie erlebe es als Herausforderung, "den Staat an einem Ort zu repräsentieren, an dem der Vater des Menschen, der dir am nächsten steht, während des Holocaust gefangen war“. Ihr Schwiegervater habe wenig über das Erlebte gesprochen, "nun ist es, als ob ein Kreis sich schließen würde“.

Österreich hatte zu einem "wichtigen Tag für die Republik“ geladen: Anlass waren Neugestaltung des Pietätsbereichs, Eröffnung neuer Ausstellungen und eines Gedenkraums der Namen. Die zuständige Innenministerin Johanna Mikl-Leitner nannte das Datum sogar einen "historischen Tag“.

+++ Die Rede der israelischen Justizministerin Tzipi Livni +++

Dem Vernehmen nach wünschten Innen- und Außenressort ursprünglich die Außenminister der vier Signatarstaaten des Staatsvertrags und Hillary Clinton, Ex-Außenministerin der USA, als internationale Gäste. Europa und die Welt sollten sehen, Österreich ist in der Normalität angekommen. Der Heldenplatz in Wien am Tag der Befreiung vom NS-Regime endlich ohne Aufmarsch der Ewiggestrigen. Und Mauthausen endlich ein herzeigbarer Erinnerungsort für die Häftlinge und Toten aus dutzenden Ländern.

Der bisherige Umgang mit dem belasteten Ort hatte bedeutet, dass die 200.000 jährlichen Besucher durch die ehemalige Gaskammer geführt wurden. Mancher Schüler-Guide hatte die Tour in dem Raum enden - und sich in der Gaskammer Applaus geben lassen. Beinahe sieben Jahrzehnte, nachdem die Menschen hier ermordet worden sind, ist in die Gaskammer jetzt nur noch ein Blick von außen möglich.

Nun hatte Österreich also mit dem Bundespräsidenten an der Spitze Staatsgäste zur Präsentation der Neugestaltung geladen. So, wie Ministerin Livni und ihr Schwiegervater das mit ihrem außergewöhnlichen Auftritt honoriert haben, entsandten viele Länder hochrangige Repräsentanten. Doch was sie mitgebracht hatten - "Die Überlebenden haben offene Narben - wir alle haben unbeantwortete Fragen“ (Livni) - blieb auf befremdliche Weise ohne Resonanz.

Die israelische Politikerin machte in Mauthausen erstmals die Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung ihres Schwiegervater öffentlich: "Moshe Spitzer ist von Mengele zum Leben verurteilt worden. Mengele hat in Auschwitz entschieden, dass er zur Tötungsmaschinerie der Nazis noch beitragen kann und hat ihn, seinen Vater und seine Brüder aus Auschwitz nach Mauthausen geschickt.“ Hier in Mauthausen habe ihr Schwiegervater seinen Vater am Tag der Befreiung das allerletzte Mal gesehen, fuhr Livni fort. Amerikanische Soldaten hatten Moshe Spitzers Vater zur medizinischen Versorgung weggebracht. Den Wunsch des damals 17-Jährigen mitkommen zu dürfen, hatten sie abgelehnt.

68 Jahre danach wollte Moshe Spitzer beim Festakt eine Frage stellen. Livni: "Er möchte Sie nur Eines fragen: weiß irgendjemand, was mit seinem Vater geschehen ist?“

Die zehnköpfige Familie Spitzer war nach der deutschen Besetzung Ungarns im Frühjahr 1944 mit zigtausenden ungarischen Juden nach Auschwitz deportiert worden. KZ-Arzt Josef Mengele selektierte, die drei jüngsten Kinder und ihre Mutter schickte er in die Gaskammer, zwei Kinder nach Buchenwald, den Vater und drei Söhne nach Mauthausen-Gusen, zur Schwerstarbeit am Rüstungsstollen "Bergkristall“. Ihre Ankunft wurde am 13. Juni 1944 vermerkt.

Mit dem Vater hat Moshe Spitzer auch einen Bruder im KZ-System Mauthausen verloren, er starb an Hunger und Erschöpfung beim Stollenbau. Näheres zum Schicksal der beiden ist aufgrund der wenigen bekannten Angaben derzeit noch nicht bekannt. Von der Familie haben nur die vier Söhne die nationalsozialistische Vernichtung überlebt.

Auf Tzipi Livni werden sowohl in den USA als auch in Europa Hoffnungen gesetzt. Sie ist Ende des Vorjahres mit einer neuen Partei und dem Versprechen "ich werde für Frieden kämpfen“ in den israelischen Wahlkampf gegangen. Bei ihrer Rede in Mauthausen erwähnte sie ausdrücklich, dass auch ihre Söhne Omri und Yuval mitgekommen waren: "Sie haben in der Armee des jüdischen Staates gedient, der nach dem Holocaust geschaffen worden ist.“ Sie erzähle die Familiengeschichte, "damit Sie Israel besser verstehen“: "Wir erinnern für Israel und für die ganze Welt. Die Lektion muss gelernt werden, nicht für die Toten der Vergangenheit, sondern um in Zukunft Grausamkeit und Tod zu verhindern.“

Ihrem Schwiegervater Moshe Spitzer half sie dann auf das Podium, wo er ein vergilbtes Foto seiner Familie in eine so genannte Zeitkapsel legte. Von Rednern und Überlebenden mit Memorabilien gefüllt wurde das Metallgefäß danach als stete Erinnerung an den Tag verschlossen. Historiker Gerhard Botz bezeichnete die Inszenierung um die Zeitkapsel als verstörendes Infotainment und Ausdruck eines völlig falschen Verständnisses von Geschichte als einem offenen, lebendigen Prozess der Auseinandersetzung. David Harris vom American Jewish Committee sprach das in Zusammenhang mit wachsendem Antisemitismus in Europa direkt an: "Der einzige Nachweis, dass wir aus Mauthausen gelernt haben, ist der dauernde Kampf um Demokratie, gleiches Recht für alle und gegenseitigen Respekt.“ Bundespräsident Heinz Fischer nannte Mauthausen als richtigen Ort für den Appell gegen Rassismus und Antisemitismus.

Fischers Rede ist die einzige dieses im Vorfeld als historisch bezeichneten Tages, die auf einer der Websites des offiziellen Österreich abrufbar ist. Sie wurde von der Präsidentschaftskanzlei online gestellt. Eine offizielle politische Erwähnung des Ereignisses mit der Nennung der Staatsgäste findet sich nur auf der Homepage des Deutschen Bundestags. Dort werden der polnische Präsident Bronislaw Komorowski, Ungarns Präsident János Áder und der Vorsitzende der russischen Staatsduma Sergej Naryschkin mit der deutschen Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau als Teilnehmer des Befreiungstages in Mauthausen angeführt. Auf der Homepage des österreichischen Parlaments fördert die Suche unter Mauthausen Ermittlungen zu Schmieraktionen im Jahr 2011 zu Tage. Auf der Website des Innenministeriums finden sich eine Vollzugsmeldung der Eröffnung und Fotos. Österreichs Medien waren am 5. Mai mit der Landtagswahl in Salzburg beschäftigt, der Akt in der KZ-Gedenkstätte wurde meist kurz abgehandelt. Dass Ungarns Staatsoberhaupt nicht auf die zunehmend menschenverachtende Situation in seinem Land angesprochen worden ist, blieb damit ebenso ohne Resonanz wie die offene Frage des Moshe Spitzer. Unkommentiert auch der Satz, mit dem Innenministerin Mikl-Leitner ihre Ausführungen beendete. Sie sakralisierte die Arbeit am Erinnerungsort und wünschte "Gottes Segen“.