Rot Kreuz-Helfer Sergej umarmt die 23-jährige Dima am Friedhof in Homostel
Fotoreportage

Ukraine: Leben und träumen im Krieg

Was bedeutet es, heute in der Ukraine jung zu sein? Der Fotograf Gianluca Cecere bekam Einblick in den Alltag und die Gedanken einer verlorenen Generation.

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Seit dem 24. Februar 2022, als Russland die Ukraine angriff, war Gianluca Cecere drei Mal dort. Der italienische Fotograf fängt den Krieg nicht an den Orten ein, wo er am heftigsten wütet, an der Front oder in den Spitälern, sondern an den Rändern zur Normalität von Menschen, die in ihren 20ern und 30ern sind. Sie haben noch nicht viel erlebt – und noch eine Menge vor. Aber ihre Zukunft liegt im Nebel, weil niemand weiß, wann es Frieden geben wird. Der Fotograf porträtiert Menschen, die beinahe so leben wie die Gleichaltrigen, die – nicht weit von Kiew oder Lemberg entfernt – in Berlin, Neapel oder Wien ihren Jobs, ihren Studien und ihren hoffnungsvollen Plänen nachgehen. Ihr Lifestyle, ihr Konsumverhalten, ihre Träume ähneln jenen von Kyrill, dem Tänzer am „Kyiv Modern-Ballet“-Theater, oder Daniel, der in einem Finanzinstitut arbeitet, oder Maria, die ihren Job in einer Softwarefirma kündigte, um Freiwilligenprojekte zu managen. Und doch liegen zwischen ihnen Welten. Der Krieg macht den Unterschied.

Daniel, 23

Er wisse alles über den Krieg, war einer der ersten Sätze, die Daniel sagte, als er dem Fotografen in Kiew über den Weg lief. Der 23-Jährige stammt aus dem Donbass. Den Luftalarm, die Ausgangssperren und die Mittel, mit denen Menschen ihre Fenster vor dem Zerbersten schützen, kennt er von dort. Im Donbass gelten die Russen einem Teil der Bevölkerung als Beschützer ihrer russischen Identität, während der andere sie als Unterdrücker erlebt. Seit 2014 war das Zusammenleben schwierig. Auch durch Daniels Verwandtschaft geht der Riss zwischen Pro-Russen und Pro-Ukrainern. Sein Vater führt im Donbass eine Zahnarztpraxis. Bei Familientreffen bleibt die Politik ausgeklammert. Daniel lebt heute in einem Vorort von Kiew, weil die Wohnungen dort günstiger sind. Vor einem Monat fand er Arbeit in einem US-Finanzinstitut. Für das Foto stellte er sich zwischen zwei Berge von Sandsäcken, wie sie in Kiew allerorten aufgetürmt werden, um wichtige Gebäude zu schützen. Daniel glaubt, dass die Ukraine am Ende Russland besiegen wird. Was seine Familie im Donbass betrifft, ist er pessimistisch. Selbst wenn es im Land wieder Frieden gebe, sei für sie keine Versöhnung möglich. Zu tief sei die Kluft.

Gosha, 25

Es war zehn Minuten nach Mitternacht. Gregory – den seine Freunde Gosha nennen – sollte nicht mehr auf der Straße sein, doch hatte er es dieses eine Mal nicht bis zur nächtlichen Ausgangssperre nach Hause geschafft. Die Polizei stellte ihn zur Rede und lieferte ihn bei einem Militärposten ab. Der junge Mann sollte an die Front geschickt werden. Gosha hatte insofern Glück, als er dafür noch zu jung war. In der Ukraine kann man erst mit 27 einberufen werden. Was sind zwei Jahre Aufschub? Wenn sein Land dann noch im Krieg ist, werden ihm die Soldatenuniform und die Waffe nicht erspart bleiben. Gosha hat viele Interessen, Politik, Geschichte, Religion. Das Militär zählt nicht dazu. Niemals hätte er sich aus freien Stücken dafür entschieden. Noch bestreitet der 25-Jährige sein Leben damit, in Lemberg und Kiew Wohngemeinschaften für junge Menschen zu organisieren, die sich ein eigenes Appartement im Stadtzentrum nicht leisten können. „Was ist dein bestes Foto?“, fragt er den Fotografen, und als dieser antwortet: „Immer mein nächstes“, sieht er sich um, greift nach einem Armeehelm, der einem Mitbewohner gehört, stellt sich ans Fenster und posiert damit vor dem roten Vorhang. Vielleicht versucht er, mit theatralischen Späßchen der beängstigenden Möglichkeit einer soldatischen Zukunft beizukommen. Jedenfalls wollte Alles, bloß kein kein „normales“ Bild .

Olena, 35

Olena war im polnischen Przemysl in den Zug gestiegen und unterwegs nach Lviv (Lemberg, Ukraine). VEin Jahr davor war sie in die entgegengesetzte Richtung gereist, völlig verstört von den russischen Bombardierungen. Sie hatte in ihrem Haus in Charkiv mehrere Wochen am Flur verbracht, dem Ort, der am weitesten weg war von den Fenstern. Nie ging sie hinaus. Nachts fand sie keinen Schlaf. Schließlich rang sie sich dazu durch, nach Polen zu flüchten und ihren Mann zurückzulassen. Heute lebt sie in den Niederlanden, wo sie Arbeit fand und innerlich zur Ruhe kam. Ihr Mann erwartete sie am Bahnhof in Lviv. Zehn Tage würden sie gemeinsam haben; mehr Urlaub hatte sie nicht bekommen. Es war ihr erstes Wiedersehen seit einem Jahr. Olena wünschte sich ein Kind, doch der Krieg stellte alles in Frage, auch ihre Zukunft in der Ukraine. Er tötet Menschen, zerstört Gebäude, macht Dörfer dem Erdboden gleich, hinterlässt verminte Landschaften, vergiftete Felder, Bäche und Flüsse. Ihr künftiger Sohn, ihre künftige Tochter würden ihr eines Tages vorhalten, sie in diese Welt gesetzt zu haben. Der Gedanke stürzte sie in Verzweiflung.

Maria, 23

Der Krieg in der Ukraine war wenige Wochen alt, da sah der Fotograf Maria zum ersten Mal. Sie wirkte schüchtern und hielt sich stets ein wenig abseits. Viel mehr, als dass ihre Familie aus Kiew stammt, sie nach Lviv (Lemberg) gezogen war, in der Hoffnung, hier normal leben zu können, bei einer Softwarefirma arbeitete und selbst auch gern fotografierte, brachte Cecere nicht in Erfahrung. Eines Tages tauchte Maria in einer Militärhose auf. Bald darauf begann sie, Soldaten zu trainieren, einander im Fall von Verletzungen beizustehen, etwa Blutungen zu stillen und Wunden zu verbinden. Doch es hielt sie nicht lange bei der Armee. Heute managt Maria Freiwilligenprojekte, die sich dem Wiederaufbau verschreiben, etwa der Renovierung eines Jugendzentrums oder einer zerstörten Schule. Sie blieb in Kontakt mit dem Fotografen. Als Cecere sie einmal fragte, warum sie Soldatin werden wollte, sich dann aber dagegen entschied, erklärte sie, dass es dafür „persönliche Gründe“ gäbe. Dabei beließ sie es.

Kyrill, 24

Er tanzt wieder. Als russische Bomben auf die ukrainische Hauptstadt fielen, war Kyrill unter den ersten Freiwilligen, die in zerstörte Viertel radelten, um alte und kranke Menschen mit Medikamenten und Essen zu versorgen. Doch das erschien ihm bald nicht mehr genug. Er wollte zu jenen gehören, die das Land mit der Waffe verteidigen. Also tauschte der Ballerino mit dem durchtrainierten, biegsamen Körper sein Tanztrikot gegen einen Kampfanzug und schloss sich den „territorialen Verteidigungskräften“ an. Cecere hielt diese Verwandlung mit der Kamera fest, profil berichtete darüber im April des Vorjahres. Die beiden verabschiedeten sich voneinander mit dem Versprechen, dass Kyrill wieder tanzen und der Fotograf sein Comeback dokumentieren würde. Vergangenen Herbst sperrte das im Bombenhagel geschlossene „Modern Ballet Theatre Kyiv“ endlich auf, und Kyrill gehört mittlerweile auch wieder zum Ensemble. Der Weg zurück war steinig. Der 24-jährige Ukrainer trainierte monatelang, um zu seinem früheren Können zurückzufinden und tanzt nun als „kleiner Prinz“ die Hauptrolle in der Ballettfassung der Märchenerzählung von Antoine de Saint-Exupéry. „Ich möchte nicht, dass Menschen sterben“, sagte er vor einem Jahr zu profil, erst recht wollte er nicht selbst jemanden töten. Der Schritt vom zivilen Freiwiilligen zum kämpfenden Soldaten war zu viel für Kyrill gewesen. Als der Fotograf seinen Teil des Versprechens einlöste und den zurückgekehrten Tänzer fotografierte, wollte dieser auf die Zeit im Kampfanzug nicht mehr zurückblicken. Sie war zu traurig. Zu hart. Das letzte Bild vor dem Einrücken zeigt Kyrill mit Helm und Waffe; auf dem nächsten nach seiner Rückkehr auf die Bühne, hält er in der Hand eine rote Rose, die ihm eine Bewunderin nach der Vorstellung zuwarf. 

Dima, 23

Unter den vielen Menschen, die dem Fotografen Einblick in ihre jungen Leben im Krieg gewährten, waren noch viele - Andrij, der Maler, oder Pylyp, der Architekturstudent, der sich in seiner Freizeit an der Sanierung zerstörter Viertel beteiligt, oder die Künstlerinnen Anna und Kristina, die bereits einige – auch internationale – Ausstellungen hinter sich haben, und inzwischen an ihren Radierungen einfach weiterarbeiten, wenn die Sirenen heulen und Luftangriffe ankündigen. Und Sergej. Der Rotkreuz-Helfer, der in Hostomel Lebensmittel verteilte, erklärte dem Fotografen: „Wenn du eine Geschichte über die junge Generation in der Ukraine machst, musst du auf den Friedhof gehen“. Viele Grabsteine tragen die Namen von Menschen, die nicht länger als 20 oder 30 Jahre gelebt haben. Dort sprach Sergej mit Dima, einer jungen Ukrainerin, die aus dem Donbass nach Hostomel geflüchtet war. Sie hoffte, hier sicher zu sein. Im November verlor sie ihren Vater, einen Monat später fiel ihr Mann in Bahmut. Sergej umarmt die junge Frau, die immer ein Bild ihres verstorbenen Mannes bei sich trägt, und sie weint, als könne sie nie mehr aufhören.

Edith   Meinhart

Edith Meinhart

ist seit 1998 in der profil Innenpolitik. Schreibt über soziale Bewegungen, Migration, Bildung, Menschenrechte und sonst auch noch einiges