„Bitte gehen Sie wieder“

US-Wahlkampf. profil-Autor Sebastian Hofer war mit republikanischen Klinkenputzern in Detoit unterwegs

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Von Sebastian Hofer, Detroit

Es ist eigentlich ganz einfach: einmal klopfen, einen Schritt zurücktreten, Haltung annehmen, vertrauenerweckend schauen, abwarten. Aber bloß nicht zu lang. „Wenn sich nicht gleich jemand meldet, hinterlegst du eine Broschüre und gehst weiter. Auf keinen Fall ein zweites Mal klopfen!“ Tom Kline, 61, pensionierter Einzelhandelskaufmann – weißer Haarkranz am Hinterkopf, Metallbrille auf der Nase, Ernsthaftigkeit im Blick –, erklärt sein Geschäft. Kline ist einer von rund 100 freiwilligen Wahlkampfhelfern, die regelmäßig ins republikanische „Victory Center“ von Livonia, Michigan, pilgern, um ihre Freizeit der guten Sache, also Mitt Romney, zu widmen. Seit zwei Monaten klappert Kline potenzielle Romney-Wähler in seinem Landkreis ab, er ist ein alter Hase in dem Business, das hier „Canvassing“ heißt, zu Deutsch: Klinken putzen. Er weiß, dass man die Menschen in ihren eigenen vier Wänden nicht bedrängen darf – und in ihren Vorgärten schon gar nicht: „Wir betreten schließlich ihren Grund und Boden. Da dürfen wir nicht aufdringlich werden. So sind die Regeln.“ Wie auf Eierschalen schleicht Tom zur nächsten Tür, umrundet Vorgarten um Vorgarten auf den dafür vorgesehenen Asphaltstreifen, selbst wenn die Asphaltstreifen noch so bescheuerte Umwege vorsehen. Aufs Gras treten? Auf keinen Fall. Die Regeln!

Keine zwei Monate vor dem Wahltag am 6. November hat der US-Präsidentschaftswahlkampf seine heiße Phase erreicht. Es wird Herbst in Amerika, die Tage werden kürzer und die unentschlossenen Wähler weniger – Hochsaison im Klinkenputzerbusiness. „Es gibt keinen Ersatz für den persönlichen Kontakt, für das Rausgehen, das Türenklopfen, das Ansprechen unserer Mitbürger.“ Genau so hat es Paul Ryan gesagt, der republikanische Vizepräsidentschaftskandidat, als er den Klinkenputzern von Michigan vor wenigen Tagen per Massentelefonkonferenz erklärte, wie wichtig sie sind: „Es gibt buchstäblich nichts Besseres, was wir tun können, um dieses Land wieder auf den richtigen Weg zu bringen.“ Das klingt, aus so berufenem Mund, natürlich erst einmal erhebend. Ein Rundgang mit Tom Kline lässt dann doch leichte Zweifel aufkommen.

Die Tour beginnt an einer sechsspurigen Ausfallstraße. Livonia ist eine zu 95 Prozent weiße, zu 100 Prozent mittelklassedominierte 100.000-Einwohner-Vorstadt von Detroit, Heimat zahlreicher Eishockey-Profis, von Chuck Behler (ehemaliger Megadeth-Drummer) und Joseph A. Adam (Entwickler der Beruhigungspille Xanax). Eine gute Gegend also. Die Leute hier können sich noch Häuser und Autos leisten, entsprechend gibt es an den großen Boulevards große Einkaufszentren mit großen Parkplätzen. An einem dieser Parkplätze, in einem Einkaufszentrum namens „Rue 21“, zwischen Jeansshop und Manikürsalon, hat sich das örtliche Romney-Victory-Center niedergelassen. Auf der ­anderen Straßenseite liegt ein Ford-Werk, daneben ein Walmart-Megastore, und möglicherweise waren das ja die entscheidenden Parameter für die Standortwahl: Hier ist er, der amerikanische Traum – das Auto, der Konsum, die Mittelklasse. Diesen Traum gilt es hier und heute zu verteidigen gegen den kryptosozialistischen Angriff aus Obamas Weißem Haus. An der Glastür des Wahlkampfbüros warnen zwei handgeschriebene Zettel unter Zuhilfe­nahme sehr vieler Nullen vor dem de­mokratischen Bundeshaushalt („National Debt: 16.000.093.878.011 USD. Your Debt: 181.300 USD“), daneben, darüber und dar­unter: Stars and Stripes. Dahinter: ein Beistelltisch mit Mitt-Romney-Paraphernalien, ein zweiter mit Snacks und Kaffee, ein Konferenztisch mit Telefonen. Rundherum, ebenfalls raumfüllend: noch mehr Stars and Stripes.

Kelsey Knight, die PR-Beauftragte der örtlichen Romney-Kampagne, brummt vor Geschäftigkeit, sie erzählt von der Motivation ihres Teams, von den Freiwilligen, die neben ihren Fulltime-Jobs hier zum Teil noch bis spätabends Dienst leisten, erzählt von den 21 anderen Victory Centern in Michigan und erwartet sich dafür ein wenig Retour-Euphorie. 22 Center! 100 Freiwillige! Kelsey trägt ihre Haare hochgesteckt, einen blauen Blazer, Romney-T-Shirt und Ballerinas im Leopardenmuster, sie erzählt, warum sie Anfang August ihren Job bei einem Beratungsunternehmen in Washington, D. C., aufgegeben hat und nach Michigan gekommen ist: „Ich hatte das Gefühl, ich muss etwas tun.“ Das Ausmaß der Krise in der Region hat sie zunächst überrascht: „Alles in Ruinen. Ich habe sogar vernagelte Walmarts gesehen!“ Kopfschütteln. Zusätzliche Erkenntnis: „Hier gelte ich als alt. Die Leute fragen mich, warum ich mit 27 noch nicht verheiratet bin.“ Michigan ist anscheinend konservativer als die Konservativen und wählt trotzdem notorisch demokratisch.

Seit George Bush I. im Jahr 1988 hat der Staat keinen republikanischen Prä­sidentschaftskandidaten mehr gewählt. Doch bei den Midterm Elections vor zwei Jahren konnte die Grand Old Party hier überraschend viel Boden gutmachen und sieht seither Hoffnung für Mitt Romney. Michigan ist wieder im Rennen; die Nichte des Kandidaten, Ronna Romney, hat profil schon vor ein paar Wochen pro­phezeit: „Natürlich wird er gewinnen! ­Michigan ist ein anderer Staat, als er es bei der letzten Wahl war. Er wird gewinnen. Ich sage das nicht nur, ich glaube das wirklich.“

Damit es nicht beim Glauben bleibt, schickt die Romney-Kampagne Helfer wie Tom Kline durch die Gegend, oder seinen jugendlichen Kompagnon Bryan Taylor, 18. Topmotivierte, unbezahlte, von ihrem Glauben an die republikanischen Werte oder ihrer Abneigung gegen Barack Obama getriebene Menschen, die ihre Freizeit für Aufgaben wie diese opfern: Türenklopfen, Fragenstellen, Weitergehen. Was genau er da eigentlich macht, erschließt sich dem einzelnen Canvasser nicht immer ganz konkret. Die Partei wird’s schon wissen.

Zeit zum Aufbruch. Tom und Bryan schnappen sich die Klemmbretter mit den aktuellen Adresslisten und den Fragebögen, die im Jargon „Walkbooks“ heißen, werfen einen Blick auf die ­Karte und fahren los, hinein nach Livonia, in eine amerikanische Vorort­idylle mit standardisierten Backstein-Bun­galows, den immer gleichen Garagen und Vorgärten, hie und da aufgelockert durch US-Flaggen und Vorgartenspringbrunnen.

Die erste Adresse im heutigen Walkbook. Eine Dame wässert ihren Vorgarten und wimmelt die Canvasser noch vor der ersten Frage ab: „Bitte gehen Sie wieder. Meine politischen Ansichten bespreche ich nur mit meinem Mann.“ Tom und Bryan machen ihre Häkchen und gehen weiter. Überreden gehört nicht zu ihrem Geschäft. „Wir haben genug Adressen abzuklappern“, erklärt Tom. Exakt 59 Adressen stehen heute auf der Liste, das Wahlkampfbüro hat sie zu einem möglichst umwegfreien Rundweg angeordnet und durchnummeriert. Die erste Frage lautet stets gleich: „Wenn heute Wahlen wären – wem würden Sie Ihre Stimme geben?“ Die weiteren Fragen – zwischen zwei und vier, man will ja niemanden überfordern – verändern sich laufend, je nach Wahlkampfsituation und -phase.

Klinkenputzen mag als Werbemittel auf den ersten Blick etwas unelegant wirken, ist aber das krasse Gegenteil. Canvassing ist ein hochwissenschaftliches Geschäft. Ein unausgesprochenes Gesetz im US-Wahlkampf lautet: Die bessere Datenbank gewinnt, weil sie den gezielteren Wahlkampf ermöglicht. Idealerweise bekommt jeder Wahlberechtigte genau jene Information, die ihn am meisten interessiert. Wer gegen Staatsverschuldung ist, wird nicht mit Broschüren über Mitt Romneys außenpolitische Positionen behelligt, wer für Abtreibung und Minderheitenrechte auftritt, wird von den Republikanern wahrscheinlich ganz in Ruhe gelassen. Woher diese Informationen stammen, bleibt Betriebsgeheimnis, die Parteien bedienen sich bei kommerziellen Datenhändlern, versuchen von mitgeschnittenen Einkaufs- und Internet-Surf-Gewohnheiten auf politische Präferenzen zu schließen, durchforsten Spenden- und Wahlregister nach Aufschlussreichem.

Das Obama-Camp ist der Konkurrenz in dieser Disziplin übrigens weit voraus; es geht die Mär von einem Algorithmus, der tagesaktuell verändert wird und Hunderte von Variablen integriert. Gut möglich, dass die Partei noch vor dem Wähler weiß, was dieser wählen wird – und vor allem, warum. Die Republikaner hinken nach, sind aber bemüht, ihren Know-how-Rückstand aufzuholen. Tatsächlich kämpfen sie anno 2012 wesentlich zielsicherer als noch vor vier Jahren. Und wesentlich nachdrücklicher: Anfang September absolvierten Michigans republikanische Wahlkämpfer fünfmal mehr Telefonan­rufe und elfmal mehr Direktkontakte als zum gleichen Zeitpunkt 2008. Manches wichtige Detail geht im politischen Tagesgeschäft aber leider unter, wie zum Beispiel die Tatsache, dass um zwei Uhr nachmittags nicht besonders viele Wähler zu Hause sind.

Zweite Adresse: niemand daheim. Dritte, vierte: detto. Tom und Bryan bleiben unverdrossen, klopfen, warten kurz, hinterlegen Broschüren und ziehen weiter. Beim siebten Haus ist zumindest ein Hund anwesend, nur leider kein Herrchen. Tom und Bryan wechseln die Straßenseite, klopfen, warten – und siehe da: Die Tür geht auf. Eine füllige Mittfünfzigerin im blauen Freizeitanzug drückt das Fliegengitter auf. „Sind Sie Mary Martzolf?“ – „Ja.“ – Haken auf dem Klemmbrett. – „Mein Name ist Tom, darf ich Ihnen eine Frage stellen?“ – „Ja.“ – „Wenn heute Wahlen wären – wem würden Sie Ihre Stimme geben?“ – „Präsident Obama.“ – Haken auf dem Klemmbrett, Rückzug. „Vielen Dank, ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.“

So sind die Regeln: bloß nicht aufdringlich werden. Dabei wäre Mary durchaus zum Plaudern aufgelegt: „Das ist jetzt schon das zweite Romney-Team in den letzten Tagen.“ Bryan findet das hochinteressant, weil es eigentlich nicht vorkommen sollte, rein datenbanktechnisch. Kelsey, die PR-Beauftragte, tritt aus dem Hintergrund, sie wittert eine Chance und setzt noch einmal nach, mit der altbewährten Frage: „Mary, bitte überlegen Sie kurz: Geht es Ihnen heute besser als vor vier Jahren?“ Mary braucht nicht lange zu überlegen: „Eigentlich schon, ja. Dass ich an der Börse Geld verloren habe, war ja meine eigene Schuld und nicht die des Präsidenten. Und insgesamt haben wir den Umschwung geschafft, denke ich.“ Mary, pensionierte Lehrerin, gibt zu, dass sie rein fiskalpolitisch eigentlich aufseiten der Republikaner stehen müsste. „Aber meine christlichen Werte sagen mir, dass ich nur die Demokraten wählen kann. Es geht mir um die sozialen Themen.“ Kelsey versucht, mit ein paar republikanischen Wahlkampfphrasen zu punkten, beißt aber schnell auf Granit.

Das Victory-Team zieht weiter, zur nächsten Tür. Niemand antwortet.
In einem Wahlkampf, in den insgesamt eine knappe Milliarde US-Dollar investiert wird – der Großteil davon in Fernsehwerbung –, kommt den unbezahlten, freiwilligen Türklopfern eine relativ undankbare, aber auch unbezahlbare Rolle zu, in Staaten wie Michigan möglicherweise sogar eine wahlentscheidende: Anders als Kelsey Knight und Ronna Romney haben die nationalen Parteistrategen und ihre Geldmaschinen, die „Political Action Committees“, Michigan nicht als Battleground ­State identifiziert und bisher kaum TV- oder Printwerbung geschaltet. Der Präsidentschaftswahlkampf ist im öffentlichen Leben des „Wolverine State“ auf bemerkenswerte Weise unsichtbar. Umso wichtiger, die Menschen persönlich darauf hinzuweisen, was am 6. November auf dem Spiel steht. Die Politwissenschafter Alan Gerber und Donald Green von der Yale University haben in einer viel beachteten Studie herausgefunden, dass persönlicher Wählerkontakt die Wahlbeteiligung um bis zu neun Prozent erhöhen kann. Es ist also ziemlich egal, was Tom, Bryan und Kelsey da eigentlich tun, Hauptsache, sie tun es.

Nach einer knappen Stunde frühnachmittäglicher Klinkenputzerei lässt die Motivation des Victory-Teams von Livonia deutlich nach. Sollen sie es für heute gut sein lassen? Vielleicht später noch eine Runde drehen? Ein paar Adressen gehen noch. In einem Vorgarten hantieren zwei Herren mit Gartenschläuchen und Werkzeugkisten. Angriff: „Sind Sie John Zook?“ – „Nein, das bin ich.“ – Und nein, John wird nicht Romney wählen. Rückzug. Gleich gegenüber geht die Tür schon wieder auf, auf einmal läuft’s. Und Jeff Hardy, 57, wird sogar für Romney stimmen, schließlich geht es der Wirtschaft schlecht. „Wir müssen das Land wieder auf Vordermann bringen“, sagt Jeff, der bis zu einem schweren Tauch­unfall in einem Blutlabor gearbeitet hat. Heute hat er leichte Probleme mit dem Sprechen, diskutiert aber gern über Politik. Jeff interessiert sich für das, was in seinem Land passiert, er liest sogar jeden Tag die Zeitung und ist sichtlich stolz darauf. Das ist hier nicht üblich. Aber so gern Jeff noch ein bisschen plaudern würde, so eilig hat es das Victory-Team auf einmal. Sie sind nicht zum Reden hierhergekommen. Sie sind gekommen, um Häkchen in ihr Walkbook zu kritzeln, und seien es Abwesenheits-Häkchen.

Tom resümiert den Nachmittag. Viel haben sie heute zugegebenermaßen nicht weitergebracht, aber es gibt ja noch genug andere Adressen. Der Wahlkampf ist noch lang, für heute geht es zurück zum Einkaufszentrumsparkplatz, zurück ins Victory Center von Livonia. Eine Erkenntnis hat der Tag gebracht, immerhin. Tom analysiert: „Schön langsam wissen die Leute, wen sie wählen werden. Vor ein paar Wochen war das noch ganz anders.“ Nicht dass das ein gutes Zeichen für seinen Kandidaten wäre. Kelsey bleibt trotzdem zuversichtlich: „Die Demokraten glauben, sie haben Michigan in der Tasche. Die haben doch überhaupt keine Präsenz hier. Wir dagegen sind super aufgestellt. Es bleibt ein knappes Rennen!“

Zwei Tage später wird die „Detroit Free Press“, eine der beiden großen lokalen ­Tageszeitungen, die jüngste landesweite Umfrage veröffentlichen. Aus einem leichten Vorsprung für den amtierenden Präsidenten (49 zu 46 Prozent) ist plötzlich ein Respektabstand geworden: Obama führt mit 47 zu 37 Prozent. Tom Kline und Bryan Taylor wird das nicht davon abhalten, ihre undankbare, unbezahlbare Arbeit weiterzumachen. Sie werden weitergehen, weiterklopfen, weiterabhaken. So weit sie ihre Klemmbretter führen. Die Partei weiß, warum.