Das Ländermatch um Pflegekräfte
Von Daniela Breščaković und Clemens Neuhold
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Hans Peter Doskozil reist gerne. Im Oktober 2023 zog es den burgenländischen Landeshauptmann (SPÖ) in die USA. Dort besuchte er Landsleute, die in den 1920er-Jahren auf der Suche nach Arbeit und einem besseren Leben auswanderten und die Community der Auslandsburgenländer in Amerika mitbegründeten. Am 1. Februar 2024 ging es dann nach Indien, in den südlichen Bundesstaat Kerala. Dort besuchte Doskozil Menschen, die er auf der Suche nach Arbeit und einem besseren Leben ins Burgenland holen will. Ziel: eine indische Community aus Krankenpflegerinnen und -pflegern.
Eine Gruppe Philippinerinnen hat das kleine Bundesland, dem bis Ende des Jahrzehntes laut eigenen Prognosen 1700 Pflegekräfte fehlen, bereits erfolgreich angesiedelt. 45 Personen arbeiten bereits im Krankenhaus, Pflegeheim oder büffeln bis zu ihrem ersten Einsatz Deutsch. Anders als bei früheren Gastarbeiterwellen sind die meisten ausländischen Arbeitskräfte in der Pflege weiblich.
Warum die Philippinen? Warum Südindien? Weil die Menschen dort gewohnt sind, auszuwandern, eine ähnliche Pflegeausbildung wie in Österreich durchlaufen haben und – ein gängiges Kriterium nicht nur im Burgenland – weil beide Regionen katholisch sind. Das soll die kulturelle Integration der neuen Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter erleichtern, so das Kalkül.
Kochers rot-weiß-rotes Erbe
Längst strecken Bundesländer ihre Fühler aber auch in muslimische Länder aus. So holt Wien neben Philippinerinnen und Inderinnen auch Jordanierinnen; Vorarlberg, Kärnten oder Steiermark Tunesierinnen. Dazu kommen Kolumbianerinnen in fast allen Bundesländern, Vietnamesinnen in Niederösterreich. Und geht es nach Wirtschafts- und Arbeitsminister Martin Kocher (ÖVP), dann bald auch Indonesierinnen.
Vor zwei Wochen schickte er eine große Delegation in das bevölkerungsreiche Land Asiens, um ein „Memorandum of Understanding“ für eine Ausbildung von indonesischen Pflegekräften für ihren Einsatz in Österreich zu unterzeichnen.
Schnellere Arbeitserlaubnis, leichtere Anerkennung der Ausbildung, kürzere Behördenwege: Kocher hat mit der Reform der Rot-Weiß-Rot-Karte die Tore für Schlüsselkräfte aus aller Welt aufgestoßen. Es ist vielleicht das größte politische Erbe des scheidenden Ministers – nach der Nationalratswahl im Herbst will der Ökonom Gouverneur der Oesterreichischen Nationalbank werden.
„Tropfen auf den heißen Stein“
Aktuell sind in ganz Österreich 7500 Stellen für Pflegekräfte unbesetzt. Bis 2030 soll sich der Personalmangel in diesem Bereich auf 75.000 Personen verzehnfachen. Für Vermittlungsagenturen sind die aktuellen Zahlen an ausländischen Fachkräften deswegen nur ein „Tropfen auf den heißen Stein“, sagt Arno Krzywon von der Agentur MEDBest, einer von zwei Platzhirschen im Geschäft. Für die steirische Gesundheits-Holding Kages holte er 20 Diplompflegekräfte aus Tunesien, dem Schwerpunktland seiner Agentur. Weitere 20 stehen vor der Einreise.
52 Diplomkrankenpflegerinnen holt die steirische Kages aus Kolumbien über die Agentur „Talent & Care“. Mitbegründet von Josef Missethon, führt die Agentur mit ihrer Tochterfirma in Bogota Sprachkurse durch, unterstützt Anwärter bei ihren Anträgen auf die Rot-Weiß-Rot-Karte und betreut sie auch noch in Österreich.
Den Agenturen winken weitere Aufträge. Die Tirol Kliniken sollen bis 2028 die Anwerbung von jährlich 70, die Landeskliniken Salzburg von 40 bis 50 Pflegekräften aus Drittstaaten planen. Niederösterreich steigt nun als letztes Bundesland in das globale Ländermatch um ausländische Pflegekräfte ein. Eine Ausschreibung für Dutzende Diplompflegerinnen und -pfleger soll in Vorbereitung sein. Bisher beschränkte man sich auf die Ausbildung von 150 Pflegeassistentinnen in Vietnam. Die ersten 75 sollen 2025 nach Niederösterreich kommen.
Agenturen in Goldgräberstimmung
Krankenhäuser wie Agenturen wissen: Damit ist die klaffende Personallücke der Zukunft noch lange nicht geschlossen. Unter den Personalvermittlern erzeugt das eine Goldgräberstimmung, denn sie vermitteln längst auch IT-Fachkräfte bis Mechaniker aus aller Welt. Nun haben auch deutsche Agenturen den österreichischen Markt entdeckt. Darunter die erfahrene C&C Human Resource Development, die bereits 80 philippinische Pflegekräfte an Oberösterreich vermittelte und bei der Wirtschaftsdelegation nach Indonesien mit an Bord war. Doch nicht alle Agenturen sollen sich an grundlegende Standards bei der Vermittlung halten. „Es sind Goldgräber am Markt, die rasches Geld machen wollen“, sagt Elisabeth Potzmann, die Präsidentin des Gesundheits- und Krankenpflegeverbandes, und drängt auf die Einhaltung der internationalen Standards für „ethisches Recruiting“.
Der Agentur-Wildwuchs in der Diplompflege erinnert an das Geschäft mit der 24-Stunden-Betreuung durch Osteuropäerinnen. Diese werden von unzähligen Agenturen an alte Menschen in Österreich vermittelt. Gewerkschaft und Konsumentenschützer deckten immer wieder Knebelverträge oder überzogene Vermittlungsgebühren auf.
„Dem Wildwuchs entgegentreten“
Kocher wollte mit seinen Erleichterungen bei der Rot-Weiß-Rot-Karte sicherstellen, dass Österreich im globalen Wettlauf um Fachkräfte nicht abgehängt wird. Immerhin steht das kleine Land am Welt-Arbeitsmarkt in Konkurrenz mit Staaten wie Deutschland, Großbritannien oder Kanada. Doch statt einer koordinierten Anwerbeaktion des Bundes kocht nun jedes Bundesland sein eigenes Süppchen – vor allem im Bereich Pflege, die im föderalistischen Österreich Sache der Länder ist. Die einen – wie Wien oder das Burgenland – werben ihre Pflegekräfte auf eigene Faust an. Alle anderen setzen auf private Vermittlungsagenturen und zahlen Honorare pro vermittelter Arbeitskraft. Die Rede ist von 7000 bis 12.000 Euro.
Martin Kocher
Der Wirtschafts- und Arbeitsminister Martin Kocher (ÖVP) rechnet damit, dass bis Ende des Jahres 10.000 Rot-Weiß-Rot-Karten ausgestellt werden. Er möchte mit den Erleichterungen durch die Reform sicherstellen, dass Österreich im globalen Wettlauf von Ländern wie Deutschland, Großbritannien oder Kanada nicht abgehängt wird. Doch statt einer bundesweiten Lösung verfolgt jedes Bundesland seine eigene Strategie, um Fachkräfte ins Land zu holen.
„Wir müssen dem Wildwuchs entgegentreten. Es braucht eine einheitliche Regelung, einen ‚single point of entry‘ nach Österreich statt neun verschiedener Anwerbesysteme“, kritisiert Pflegeverbands-Präsidentin Potzmann den föderalistischen Fleckerlteppich. Sie wünscht sich einheitliche Regeln, eine klare Strategie, wie viele Personen konkret von anderen Kontinenten geholt werden sollen, sowie einen verbesserten Spracherwerb im Vorfeld. Vor allem das: Denn sie kenne Fälle von Pflegekräften aus Übersee, die teuer geholt wurden und nun womöglich wieder heimkehren müssten, weil sie die nötigen Deutschkenntnisse nicht in der vorgeschriebenen Zeit erwarben.
FPÖ für qualifizierte Zuwanderung
Überraschend entspannt verfolgt die zuwanderungskritische FPÖ den Anwerbereigen in jenen Bundesländern, in denen sie mitregiert. Der niederösterreichische Landesrat für Fremdenangelegenheiten Christoph Luisser gilt selbst in der FPÖ als Hardliner. Er sagt: „Wenn offene Stellen nicht durch inländische Arbeitslose besetzt werden können, ist eine qualifizierte Zuwanderung aus dem Ausland unter strengen Auflagen möglich.“
In Oberösterreich kommentiert Vize-Landeshauptmann Manfred Haimbuchner (FPÖ) die Auslandsaktivitäten seines Bundeslandes erst gar nicht. Er überlässt dem Landesrat für Soziales und Integration Wolfgang Hattmannsdorfer (ÖVP) das Wort. Und dieser ist stolz darauf, „Vorreiter“ bei der Anwerbung von ausländischen Pflegekräften zu sein. Er verwies auf Hunderte „helfende Hände“, die unter anderen von den Philippinen geholt werden. 96 philippinische Pflegekräfte arbeiten jetzt schon in Alten- und Behinderteneinrichtungen. Ziel sind 100 weitere Einreisen.
Auch von der FPÖ Salzburg und ihrer Vize-Landeshauptfrau Marlene Svazek waren bisher keinerlei Proteste gegen Anwerbeoffensiven aus Kolumbien und den Philippinen ins Bundesland zu vernehmen. Der wachsende Pflegenotstand macht sogar Blaue zu Pragmatikern.
Gewerkschaft gegen „Ausbeutung“
Anders die Gewerkschaft: „Wir sehen die Lockerungen extrem kritisch“, kommentiert Roman Heben-streit Kochers Reformen der Rot-Weiß-Rot-Karte.
Hebenstreit ist Vorsitzender der Verkehrs- und Dienstleistungsgewerkschaft vida.
„Die Rot-Weiß-Rot-Karte ist dazu gedacht, spezialisierte Wissenschafter oder IT-Fachkräfte anzuwerben. Aber nicht Arbeitskräfte, die auch in Österreich kompetent ausgebildet werden können.“ Zudem fehlt es Hebenstreit an „Kontrollmechanismen gegen die Ausbeutung von Migrantinnen und Migranten“. Gerade der Pflege- und Gesundheitsbereich sei „politisch gewollt ausgehungert worden“.
Hebenstreit fordert höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen, um wieder verstärkt Arbeitsuchende aus Österreich oder zumindest der EU für die Pflege zu gewinnen.
Für Kocher reicht der inländische oder europäische Arbeitskräfte-Pool längst nicht mehr. Weder in der Gastronomie, im IT-Bereich, in technischen Berufen, noch in der Pflege. Über die Rot-Weiß-Rot-Karte sollen über alle Branchen hinweg bis 2027 rund 16.000 Arbeitskräfte aus Drittstaaten nach Österreich geholt werden. Bis Ende dieses Jahres sollen es 10.000 sein.
MEDBest baut aktuell Sprachschulen für die Fachkräfte von morgen in Marokko, Ägypten und Kenia auf, die Vermittlungsagentur „Talent & Care“ expandiert in Indien oder Ecuador. Auch Peru ist angedacht. Mal sehen, wohin Doskozil als Nächstes fliegt.
Daniela Breščaković
ist seit April 2024 Redakteurin im Österreich-Ressort bei profil. War davor bei der "Kleinen Zeitung".
Clemens Neuhold
Seit 2015 Allrounder in der profil-Innenpolitik. Davor Wiener Zeitung, Migrantenmagazin biber, Kurier-Wirtschaft. Leidenschaftliches Interesse am Einwanderungsland Österreich.