Wurmtruppen: Wohin wollen die Blauen?

2022 wird für die FPÖ das Jahr der Selbstfindung: Rechtspopulismus oder Rechtsradikalismus? Restregierungsfähigkeit oder Oppositionszement? Freiheitlich oder obskurantistisch?

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Unter den FPÖ-Nationalratsabgeordneten gibt es keinen Arzt. Ein solcher hätte es derzeit auch nicht leicht und würde wohl in einem Gewissenskonflikt zwischen Berufsethos (Impfbefürwortung) und Klubdisziplin (Impfgegnerschaft) stecken. Die Linie gibt Parteichef Herbert Kickl vor: "Weg mit dem Impfzwang", "Weg mit dem Testwahnsinn", "Weg mit dem Maskenzwang", "Weg mit dem Lockdown für Ungeimpfte", "Weg mit den Einsperrfantasien".

An der Haltung des Chefs zur Corona-Pandemie gibt es keine öffentliche Kritik aus eigenen Reihen. Dass nicht alle hundertprozentig wie ihr Boss denken, kann aber aus dem persönlichen Verhalten der blauen Mandatare gelesen werden. Ein Großteil ist selbst geimpft. Bei Plenarsitzungen tragen die Freiheitlichen allerdings - wie ihr Parteiobmann - keine Masken.

Die Turbulenzen in der ÖVP überdeckten die Verwerfungen, die es auch bei den Freiheitlichen gab. Im Mai 2021 hatte der vergleichsweise moderate Parteichef Norbert Hofer, entnervt von Kickls Sticheleien, den Parteivorsitz abgegeben. Bei einem Sonderparteitag wurde dieser zum FPÖ-Obmann gewählt und richtete die FPÖ sofort auf Krawall aus. Bei einem ordentlichen Parteitag im heurigen Jahr stehen Kickl und seine Aggro-Strategie auf dem Prüfstand.

2022 wird ein Jahr der Selbstfindung in der FPÖ, die klären muss, ob sie als destruktive Kraft noch weiter nach rechts driftet oder zumindest mittelfristig wieder politikfähig werden will.

Rechtspopulistisch oder rechtsradikal?

Mit der Zuschreibung, eine "rechtspopulistische" Partei zu führen, hat Herbert Kickl kein Problem. Populismus bedeutet für ihn, nah am Volk zu sein. Was sollte daran falsch sein? Allerdings sind die Übergänge zu einer rechtsradikalen Partei - mit rechtsextremen Einschlüssen - fließend. Rechtsradikale Politiker agieren laut gängigen behördlichen und wissenschaftlichen Definitionen gerade noch innerhalb der verfassungsmäßigen Grundordnung, demokratiefeindliche Rechtsextremisten nicht mehr.

Dass die FPÖ unter Kickl radikaler wurde, ist evident. Schon allein im äußeren Auftritt: Noch kein FPÖ-Obmann vor Kickl, nicht einmal Jörg Haider, verstand Politik als verbale Straßenschlacht. Bei einer Demonstration gegen die Impfpflicht und die Corona-Maßnahmen vergangene Woche in Innsbruck sprach er abfällig von einer "Falottenregierung".

Bei Kickls Veranstaltungen verschwimmen die Grenzen zwischen den Freiheitlichen und Corona-Leugnern und Querdenker-Gruppen. "Es wächst zusammen, was zusammen gehört", sagte FPÖ-Generalsekretär Michael Schnedlitz bei einer Demonstration im vergangenen Dezember. Die FPÖ muss wissen, wie extrem ihre Demo-Kameraden werden könnten. Der Wiener Landespolizeipräsident Gerhard Pürstl warnt bereits vor der "zunehmenden Gewaltbereitschaft" unter den Corona-Demonstranten.

Bei den Kundgebungen werden regelmäßig Teilnehmer mit "Judensternen" auffällig. In einem ORF-Interview vor dem Jahreswechsel meinte Kickl, dies sei keine Verharmlosung der NS-Verbrechen, sondern "Kritik am Nationalsozialismus und überhaupt nichts anderes". Die "Jüdischen österreichischen Hochschüler:innen" erstatteten Anzeige und warfen dem FPÖ-Obmann vor, "geistiger Brandstifter dieser Demonstrationen und der antisemitischen Shoa-Relativierung" zu sein.

In der Vergangenheit meinten blaue Spitzenvertreter bei rechtsradikalen Vorfällen in der FPÖ, dass eben jede Partei "ihren Narrensaum" habe. In der FPÖ des Herbert Kickls könnte dieser Narrensaum 2022 die Parteilinie prägen.

Eine Corona-Demo am 20. November 2021 in Wien

Freiheitlich oder obskurantistisch?

Von 30 Nationalratsabgeordneten im FPÖ-Parlamentsklub sind 17 Akademiker. Von Beruf sind sie Steuerberater, Apotheker, Rechtsanwälte und Notare. Seit jeher zieht es Freiberufler und Selbstständige ins dritte Lager, das Unabhängigkeit von roten und schwarzen Machtclustern bedeutet. Oft sind sie Besserverdiener mit entsprechendem Selbstbewusstsein.

Die hohe Akademikerquote im Parlamentsklub der FPÖ entspricht nicht dem durchschnittlichen blauen Sympathisanten. In der freiheitlichen Wählerschaft finden sich überproportional viele Bürger mit Pflichtschulabschluss. Auch im Lager der Impfgegner und Corona-Leugner sind Personen mit niedriger Bildung stärker vertreten. In keiner anderen Partei ist das Gefälle zwischen dem Bildungsgrad der Wähler und der Gewählten so hoch wie bei der FPÖ.

Unter den Akademikern im FPÖ-Klub finden sich mehr denn je Burschenschafter und andere Korporierte. Gerade deren Vertreter zeichnet ein elitäres Bewusstsein aus. Gern berufen sie sich auf den Freiheitsbegriff und das Revolutionsjahr 1848, womit die Mehrheit der FPÖ-Wähler kaum etwas anfangen kann. Die FPÖ ist eine Anti-Establishment-Partei, deren akademisch gebildete Spitzenvertreter Establishment sind.

Herbert Kickl, bildungsaffin, konnte mit den Burschenschafter-Milieus nie etwas anfangen. Im vergangenen Jahr entdeckte er seine Rolle als Volkstribun, der mit seinen Reden die Masse begeistert. Zu Beginn der Pandemie im Frühjahr 2019 hatte es ihm für eine gewisse Zeit die Sprache verschlagen. Die FPÖ musste ihre Rolle erst finden und unterstützte anfangs sogar die Krisenmaßnahmen der Bundesregierung.

Kickls scharfer Corona-Kurs ist ein riskantes Manöver. Je mehr die Unterschiede der FPÖ zu organisierten Impfverweigerern und Corona-Leugnern verschwimmen, desto weniger attraktiv wird die FPÖ für Wähler in der Mitte. Kickls Bestemm, das Entwurmungsmittel Ivermectin gegen eine Covid-Erkrankung zu empfehlen, nimmt bereits obskurantistische Züge an. Am Ende des Jahres 2022 könnte die FPÖ die Grünen als esoterischste Partei abgelöst haben.

Restregierungsfähigkeit oder Oppositionszement?

Geringer gebildete FPÖ-Anhänger wollen die Partei ihres Vertrauens nicht zwingend in der Regierung sehen. Ihnen reicht die FPÖ als Kontrollpartei. Doch die Parteispitze hatte früher oder später stets genug von der ewigen Oppositionsrolle ohne Aussicht auf hohe Ämter. Jörg Haider führte die FPÖ 2000 in die Regierung, Heinz-Christian Strache 2017. Größter Skeptiker der Koalition mit der ÖVP von Sebastian Kurz war: Herbert Kickl.

Als Parteichef hat Kickl die FPÖ in der Opposition einzementiert. Keine Fraktion würde mit ihm ein Bündnis eingehen. Im Oktober hatte sich ein Fenster geöffnet. Nach der Veröffentlichung belastender ÖVP-Chats schien ein Bündnis aus SPÖ, Grünen und NEOS mit blauer Duldung oder Beteiligung möglich. Doch der Rücktritt von Kanzler Kurz stabilisierte die wacklige türkis-grüne Regierungskoalition.

Die mögliche Kooperation wäre wohl bald an Kickls Corona-Kurs zerbrochen. Wie jede populistische Bewegung ist auch die FPÖ eine Schönwetterpartei, die für Krisen ungeeignet ist. Nur in Niederösterreich und Oberösterreich ist die FPÖ noch in der Landesregierung vertreten, in Sankt Pölten in einer Proporzregierung, in Linz in einer Koalition mit der ÖVP. FPÖ-Landeshauptmann-Stellvertreter Manfred Haimbuchner muss sich winden, um die Position der FPÖ mit der Haltung der OÖ-Landesregierung zu vereinbaren. In einem Interview mit dem "Kurier" vor dem Jahreswechsel übte er sanfte Kritik an Kickls Kurs: "Der Bundesparteiobmann hat gesagt, man will Impfen nicht schlechtreden, man ist für Impffreiheit. Ich sage hier aber ganz offen, dass das Bild, das man entstehen hat lassen, eines war, dass man die Impfung nicht als probates Mittel sieht."

Die bisherige Bilanz gibt Kickl recht. In der aktuellen profil-Umfrage von Unique research liegt die FPÖ bei 20 Prozent. Laut Meinungsforscher Peter Hajek habe Kickl die Partei stabilisiert, neue Wählergruppen könne er mit seiner scharfen Linie allerdings nicht ansprechen.

Und die Konkurrenz ist stark. Die Impfverweigerer-Partei MFG würde mit sechs Prozent den Einzug in den Nationalrat schaffen. Die skurrile Situation: Endet die Pandemie 2022, ist der FPÖ-Konkurrent Geschichte. Allerdings ginge auch Kickls aktuelles Geschäftsmodell verloren.

Gernot   Bauer

Gernot Bauer

ist Innenpolitik-Redakteur.