Wiener Awareness-Kampagne: Hätte, hätte, Ankerkette
Mit einer groß vermarkteten Awareness-Kampagne will die Stadt Wien die Sicherheit im Nachtleben verbessern. Ein profil-Reality-Check zeigt, dass diese Versprechen nicht viel wert sind.
Im spätsommerlichen August beginnt Wien nach Sonnenuntergang zu pulsieren. Junge Menschen strömen ins Nachtleben. Der Wiener Club „Volksgarten“ zeigt an diesem Samstagabend, warum er zu einer der angesagtesten Adressen der Stadt gehört: Aufgebrezelte Gäste in ihren Mitt- bis Endzwanzigern stehen vor dem Eingang Schlange, die Klänge der House-, Disco- und Party-Hits klingen bis nach draußen. Der Preis von 16 Euro für einen „Vodka Wellness“ schreckt hier offenbar niemanden ab. An der Bar des „VoGa“ werden aber nicht nur teure Drinks ausgeschenkt – hier sollen auch Betroffene von Belästigung Hilfe bekommen. Der Reality-Check an diesem Samstagabend fällt allerdings ernüchternd aus.
Der Nachtclub "Volksgarten" ist seit April 2019 Teil der Rettungsanker-Kampagne.
„Wo finde ich den ‚Rettungsanker‘?“, will profil beim Lokalaugenschein von einem Barkeeper wissen. Der schaut etwas verdutzt, diese Frage hat er offenkundig noch nie gehört. „Was ist das?“, fragt er. Nachdem profil ihm kurz erklärt, dass es sich um eine Kampagne für mehr Sicherheit im Wiener Nachtleben handelt und der „Volksgarten“ ein offizielles Mitglied dieser Initiative ist, verweist der Barkeeper auf die Securities: „Vielleicht wissen die etwas?“
Ein Türsteher hat vom Wiener „Rettungsanker“ tatsächlich schon einmal gehört, habe damit aber nichts zu tun: Das Sicherheitspersonal, das der „VoGa“ durch ein externes Sicherheitsunternehmen bereitstellt, werde intern in Sachen Awareness geschult – allerdings nicht von der städtischen Initiative.
Die Angst feiert mit
Hinter dem Namen „Ich bin dein Rettungsanker“ verbirgt sich eine von der Stadt Wien veranlasste Awareness-Initiative, die speziell die Sicherheit von Frauen im Nachtleben stärken soll. „Awareness“ bedeutet in diesem Zusammenhang Aufmerksamkeit: Club-Personal soll hinsehen, helfen und ansprechbar sein, wenn Feiernde belästigt werden. Laut der „Rettungsanker“-Website (rettungsanker.wien.gv.at) sollen Maßnahmen wie die Schulung des Personals, der Aushang von Infomaterial und der Verzicht auf sexistische Werbung für mehr Sicherheit sorgen. Geschulte Mitarbeitende sollen Sticker mit dem „Rettungsanker“-Logo tragen, um als Ansprechpersonen sichtbar zu sein.
Die Awareness-Kampagne gibt es seit 2018. Das Anliegen ist nachvollziehbar: Laut den letzten verfügbaren Zahlen aus dem Jahr 2022 war fast jede vierte Frau in Österreich im Alter von 18 bis 74 Jahren von sexueller oder körperlicher Gewalt betroffen. Eine Erhebung der Vienna Club Commission (VCC) zeigt, dass sich jede dritte Frau im Wiener Nachtleben unsicher fühlt. Formen sexueller Belästigung sind vielfältig – sie reichen von anzüglichen Sprüchen und „zufälligen“ Berührungen bis hin zu versprochenen Vorteilen bei sexuellem Entgegenkommen oder Drohungen im Fall einer Ablehnung. Entscheidend ist dabei die Perspektive der Betroffenen: Sie bestimmen, was als Belästigung empfunden wird – unabhängig davon, ob dies von der anderen Person beabsichtigt war oder nicht.
Laut Angaben von Innenminister Gerhard Karner (ÖVP) hat die Zahl der Anzeigen in Österreich wegen des Einsatzes von K.-o.-Tropfen dieses Jahr erneut zugenommen, berichtet „Die Presse“. Besonders betroffen sei die Bundeshauptstadt Wien, wo die Anzeigen von 75 auf 92 stiegen. Die Opfer sind überwiegend weiblich. Das Innenministerium weist darauf hin, dass die tatsächliche Zahl der Opfer noch höher sein könnte, da viele Fälle gar nicht gemeldet würden.
Im Wiener Club-Leben sollen die Maßnahmen des „Rettungsankers“ diese Gefahren minimieren. profil begab sich auf eine spätnächtliche Spurensuche, um zu erkunden, was von diesen Versprechen in der Realität ankommt. So viel vorweg: Die verdutzten Gesichter im „Volksgarten“ werden kein Einzelfall bleiben.
Der Club "U4" ist seit Dezember 2022 Kooperationspartner für die Kampagne "Ich bin dein Rettungsanker".
Im Dunkeln gelassen
„Glitzer. Trash. Supergeil“, lautet das Motto an einem sommernächtlichen Dienstagabend beim „Tuesdate“ im „U4“ in Wien-Meidling. Auch die Disco an der Wienzeile ist offizielles Mitglied der „Rettungsanker“-Kampagne. Auf den Toilettenspiegeln kleben kleine gelbe Sticker mit der Frauennotrufnummer, die Hausordnung ist auf einem Schild an der Wand angebracht. Vorbildlich. Aber wo ist der „Rettungsanker“? Die Frage nach der Wiener Awareness-Kampagne wird an der Garderobe mit einem fragenden Gesicht beantwortet. profil spricht eine Barkeeperin an. Sie hat eine Schulung absolviert, doch genauere Infos gebe es beim Personal an der Tür. Déja-vu: profil landet wieder über Umwege bei einer Gruppe von schwarz gekleideten Türstehern. „An die ‚Rettungsanker‘ kann ich mich schon dunkel erinnern. Das ist aber schon lang her, und damit haben wir direkt nichts zu tun“, erklärt ein Security-Mitarbeiter. Auch er betont, dass das Personal intern durch den Sicherheitsdienstleister geschult werde.
Das Personal der beteiligten Clubs tappt, was den „Rettungsanker“ angeht, überwiegend im Dunkeln. Gleichzeitig heftet sich die Stadtregierung die Kampagne immer wieder groß auf die Fahnen. Auf dem Social-Media-Account der SPÖ Wien wird die Initiative in den höchsten Tönen gelobt. „Damit alle in Wien
sicher feiern können, gibt es ein umfangreiches Awareness-Konzept der Stadt Wien: den Rettungsanker.“ Auch die Stadt selbst bewirbt das Projekt. Ein Werbefilm des städtischen Frauenservice zeigt, wie der „Rettungsanker“ wirken soll. Schauplatz: ein Club. Eine junge Frau tanzt, bis ein Mann sie bedrängt – die Stimmung kippt. Plötzlich schiebt sich wie aus dem Nichts eine starke Männerhand ins Bild, trennt die beiden und stellt sich heroisch zwischen Täter und Opfer. Der Retter trägt den obligatorischen Button: „Ich bin dein Rettungsanker“.
Sicherheitsrisiko
Beim profil-Club-Hopping zu Testzwecken hatte die Unkenntnis mancher Mitarbeiter keine gefährlichen Folgen. Doch was passiert, wenn eine junge Frau tatsächlich belästigt wird und sich im Vertrauen auf die Kampagne an das Club-Personal wendet – und niemand weiß davon? Wenn niemand sichtbar als „Halt in der Not“ gekennzeichnet ist? Die Kampagne verspricht Unterstützung, doch wenn die Realität nicht mitzieht, bleibt diese Sicherheit für Betroffene eher symbolisch als tatsächlich spürbar. Dafür gibt es einen eigenen Begriff: „Awareness-Washing“.
Joi Matzke, Sicherheits-Head des Clubs „The Loft“, sieht das als ernst zu nehmendes Problem. Ein funktionierendes Awareness-Konzept gehe über Poster und Flyer hinaus, „da können die noch so schön designt sein“, sagt Matzke. „The Loft“ hat eigene Awareness-Beauftragte, doch auch das restliche Personal wird miteinbezogen und regelmäßig geschult. Matzke erklärt, dass alle Gäste an der Tür ein Briefing erhalten, an welche Verhaltensregeln sie sich halten müssen und wo Hilfe anzutreffen ist. Wer dafür nicht empfänglich ist, darf an diesem Abend dort nicht feiern.
Stadt Wien in Erklärungsnot
profil will von Laura Wimmer, Leiterin des Frauenservice (MA 57), wissen, wie es aus ihrer Sicht um die Umsetzung des „Rettungsankers“ steht.
Zentrales Element des ‚Rettungsankers‘ sind Kommunikationsmaßnahmen, wie der Aushang von Plakaten oder Stickern
Laura Wimmer
Leiterin Frauenservice Wien (MA 57)
Besagte Sticker findet profil in den teilnehmenden Clubs nicht. Die trug das Personal auch nie, heißt es auf Anfrage von „U4“-Besitzer Michael Gröss. Poster seien außerdem nicht langlebig im Club.
Der „Volksgarten“ erklärt, dass das Infomaterial nur einmalig zur Verfügung gestellt wurde. Eine dauerhafte Ausstattung sei nicht erfolgt und wurde auch nicht als notwendig erachtet, da im Club bereits zahlreiche Maßnahmen für ein sicheres Fortgehen von Frauen umgesetzt werden. Zudem sei diese Maßnahme nicht verpflichtend, heißt es in einer Stellungnahme gegenüber profil. Laurin Levai, Geschäftsführer des externen Sicherheitsdienstleisters „Ante Portas“, erklärte im Namen des Clubs: Sein Unternehmen manage die Sicherheit im Volksgarten und schule auch das Personal regelmäßig in Awareness- und Sicherheitskonzepten. Viele Maßnahmen, die später Teil der „Rettungsanker“-Initiative wurden, seien im „Volksgarten“ bereits etabliert gewesen. Das Tragen der offiziellen „Rettungsanker“-Sticker sei nicht notwendig, da alle Mitarbeitenden Ansprechpersonen darstellen.
Manchmal melden sich die Organisationen auch nach einem Personalwechsel mit der Bitte um weitere Schulungen beziehungsweise Informationen bei uns.
Laura Wimmer
Leiterin Frauenservice Wien (MA 57)
Das „U4“ bestätigt, dass der letzte „Rettungsanker“-Termin im Herbst 2022 stattfand. Ein weiterer Kontakt entstand im Rahmen der Workshop-Reihe „Feiern? Safer!“ im Frühling 2025, die ebenfalls vom „Rettungsanker“ unterstützt wurde. Das fehlende Infomaterial kam dabei offenbar nicht zur Sprache.
Eine Kostenaufstellung oder ein Erfolgsmonitoring stellte das Frauenservice auf Anfrage von profil nicht zur Verfügung. Dafür erhält profil noch eine schriftliche Klarstellung. Der „Rettungsanker“ sei eine „Sichtbarkeits- und Bewusstseinsinitiative“. Er sei kein vollständiges Awareness-Konzept und ersetze auch nicht die Einhaltung der Richtlinien im Wiener Veranstaltungsgesetz. Die Kampagne sei lediglich als „ergänzende Maßnahme“ zu verstehen. Warum der „Rettungsanker“ dann als „umfangreiches Awareness-Konzept“ und „Halt in der Not“ beworben wird, bleibt offen.
Das besagte Veranstaltungsgesetz wurde im April novelliert und sieht ab einer bestimmten Personenanzahl ein verpflichtendes Awareness-Konzept vor. Lob dafür kommt von der Vienna Club Commission (VCC) und vom Frauenservice. Gleichzeitig gibt es kritische Stimmen, wie jene des Awareness-Kollektivs AwA*. Das Kollektiv führt Bildungsarbeit durch, begleitet Veranstaltungen und entwickelt Konzepte, die Diskriminierung reduzieren und ein respektvolles Miteinander ermöglichen sollen. Seine Kritik richtet sich nicht gegen die Novelle selbst, sondern gegen deren Umsetzung. Das Gesetz sei zu eng gefasst, viele kleinere Locations blieben durch die 300-Personen-Grenze außen vor. Zudem fehle eine klare Definition von Awareness, und es werde nur eine Person pro Awareness-Team vorgeschrieben, was die Qualität der Arbeit beeinträchtigen könne, so AwA*.
Die nüchterne Bilanz der profil-Tour: Im Wiener Nachtleben ist der „Rettungsanker“ kaum mehr als ein – mutmaßlich gut gemeintes – Marketing-Konstrukt.
Geschultes Personal mag es geben, eindeutig gekennzeichnet ist es nicht. Wer nach einem Halt am „Rettungsanker“ sucht, geht unter. SPÖ-Frauenstadträtin Kathrin Gaál posiert zwar gerne vor dem überdimensionalen Logo der Initiative, zu den Versprechen der Kampagne äußert sie sich auf profil-Anfrage aber nicht selbst, sondern lässt ihren Pressesprecher Stephan Grundei Stellung beziehen.
Der betont, der „Rettungsanker“ werde laufend evaluiert und im Wirkungsbereich der Stadt ausgebaut – die Verantwortung für Umsetzung und Nachhaltigkeit liege jedoch bei den teilnehmenden Betrieben. Mit anderen Worten: Wenn die Rettungskette im Ernstfall reißt, sei nicht die Stadt schuld, sondern der Club. Weder könne die Stadt Clubs und Bars nachträglich sanktionieren, noch prüfen, ob häufig wechselndes Personal die Schulungsinhalte tatsächlich verinnerlicht hätte, so Grundei. Übersetzt heißt das: Die Stadt platziert ihr Logo, steckt Stadtbudget in den „Rettungsanker“ – und wirft die Verantwortung über Bord.