Die Zeituhr läuft vom 11.3.2018, 18:00 bis 12.3.2018, 18:00 live im Internet. Sie wird auch auf das Bundeskanzleramt projiziert werden.
Die lange Nacht des Outings

Der „Anschluss“ Österreichs als lange Nacht des Outings

Das Multimedia-Projekt „Zeituhr 1938" zeichnet die 24 Stunden des „Anschlusses“ Österreichs nach.

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Das „Anschluss“-Jubiläum ist ein schwieriges Gedenken. Die Tage im März 1938 haben zwar einen Staat von der Landkarte gelöscht, doch einen Gutteil seiner Vertreter und Institutionen unter neuen Bezeichnungen und Symbolen und mit neuen Karrieren wiederauferstehen lassen. Österreich ist seinem Untergang entgegengetaumelt, weil ein entschlossener, vor Ehrgeiz glühender Kern illegaler Nationalsozialisten dem „Führer“ in der Reichskanzlei in Berlin entgegenarbeitete. Die herrschende Elite war nicht in der Lage gewesen, das Land gegen Adolf Hitler zu einen, der Staatsbürger war der Demokratie entwöhnt, Europa im heutigen Sinn noch nicht vorhanden.

Was war da geschehen? Eine Gruppe von Historikern – Heidemarie Uhl, Michaela Raggam-Blesch, Pauli Aro, Eva Gressel und der Filmemacher Frederick Baker, der die Idee dazu hatte, – haben für den „Anschluss“-Jahrestag ein digitales Zeitgeschichte-Projekt entwickelt. Am 11. März 2018, Punkt 18 Uhr, wird eine Zeituhr online gehen. Wer sich unter www.Zeituhr1938.at einloggt, dem Verlauf des Sekundenzeigers folgt und ein Ereignis innerhalb der abgelaufenen Zeit anklickt, wird die Dramatik jener Nacht, die Entscheidungen, die Angst, die Hysterie der Menschen nachvollziehen können.

Die Zeituhr läuft vom 11.3.2018, 18:00 bis 12.3.2018, 18:00 live im Internet. Sie wird auch auf das Bundeskanzleramt projiziert werden.

„In meinen Gesprächen für meine Filmprojekte sind Zeitzeugen immer wieder auf die Anschlussnacht gekommen. Daraus ist die Idee entstanden, diese Ereignisse gleichzeitig ablaufen zu lassen", sagt Filmemacher Frederick Baker über das multimediale Projekt. "Wir haben uns Fragen auf mehreren Ebenen gestellt: Wie haben die Menschen diese Nacht in Wien erlebt? Was ist in den Bundesländern passiert? Wie war die internationale Reaktion? Was berichten Zeitzeugen?"

Die 24-Stunden-Uhr dient als Dramaturgie der Ereignisse. Die User werden zum Beispiel auf Polizeifilme stoßen, die in jener Nacht aufgenommen worden sind, auf Zeitzeugen, Analysen von Historikern, auf Fotos, Tagebucheinträge, Telefonprotokolle, Radioberichte, auf die Irrtümer und Illusionen dieser Generation. An manchen Stellen in dieser Zeituhr – etwa um 19:47, Schuschniggs Rücktrittsrede („Wir weichen der Gewalt“) – werden sich die Ereignisse überschlagen. Man wird danach vielleicht besser begreifen, was dem Verstand widersteht: warum ein Land mit großer Geschichte, der europäischen Avantgarde in Kunst und Kultur sich innerhalb weniger Stunden in einen blubbernden Sumpf verwandelte, in dem Brutalität, Niedertracht und Unmenschlichkeit ihre giftigen Blasen schlugen.

Filmemacher Baker nennt die Ereignisse jener Stunden die lange Nacht des Outings. „In dieser Nacht haben sich tausende Menschen als illegale Nationalsozialisten oder Sympathisanten geoutet. In manchen Dokumenten sitzen die Leute zusammen, schockiert über die Ereignisse, und im nächsten Moment outet sich einer aus der Runde und steckt sich ein goldenes Hakenkreuz an.

Die Machtübernahme war von Berlin aus mithilfe der heimischen Nationalsozialisten generalstabsmäßig geplant worden, die Institutionen des Landes waren unterwandert, der gesamte Sicherheitsapparat in nationalsozialistischer Hand, die Arbeiterbewegung nach vier Jahren im Untergrund oder Exil gebrochen und demoralisiert. Die Masse der Menschen war der neuen Macht gefolgt fasziniert von der eigenen und der kollektiven Gefühlsaufwallung. Vielleicht hatten es die deutschen Nazis anfangs etwas langsamer angehen wollen. Am 12. März, angesichts der massenhaften Begeisterung, mit der die Wehrmacht empfangen wurde, kabelte Hermann Göring nach Berlin: „Warum machen wir es nicht ganz?“

Für die Historikerin Heidemarie Uhl ist das Spannende an der Zeituhr, dass sie die Logik der klassischen Geschichtserzählung aufhebt. „Durch diese Gleichzeitigkeit sieht man auch, dass es damals immer wieder Momente gab, die zeigen, dass sich die Situation auch ganz anders entwickeln hätte können. Zum Beispiel, wenn es gelungen wäre, den Einmarsch der deutschen Wehrmacht zu verhindern. Das stand durchaus im Raum." Am Ende der 24 Stunden war der Anschluss allerdings vollzogen und rückblickend bleibe nur die - zu späte - Lehre, dass desto mehr die Verantwortlichen in Österreich Hitler nachgegeben haben, umso größere Forderungen habe dieser gestellt. Es hätte aber, so Uhl, nichts zwangsläufig so enden müssen.

www.Zeituhr1938.at läuft vom 11.3.2018, 18:00 bis 12.3.2018, 18:00 live im Internet. Sie wird auch live auf das Bundeskanzleramt projiziert werden. Danach wird sie auf der Website des „Hauses der Geschichte“ zugänglich sein. Zusätzlich gibt es noch digitale Ansichtskarten mit Videos und Dokumenten, die über einen QR-Code auf das Smartphone geladen werden können.

Christa   Zöchling

Christa Zöchling