Wirtschaft

Nach Hochwasser im Tullnerfeld: ÖBB prüfen Klage gegen Niederösterreich

Weil Mängel am Perschling-Damm bekannt waren, prüfen die ÖBB nun eine Klage gegen das Land Niederösterreich. Welche Rolle hat dieser Damm in der Streckenplanung vor rund 30 Jahren gespielt? profil hat sich das Umweltverträglichkeitsgutachten aus dem Jahr 1998 genauer angesehen.

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Häuser voller Schlamm, Felder unter Wasser: Das Hochwasser in Niederösterreich vor rund einem Monat hat nicht nur zahlreiche Haushalte und Landstriche verwüstet. Auch im Bahnhof Tullnerfeld stand das Wasser, die neue Weststrecke ist seither unbefahrbar. Weil nicht nur die gesamte Elektrik im Keller des Bahnhofs Tullnerfeld und im lange überfluteten Atzenbrugger Tunnel erneuert werden muss. Während die Aufräumarbeiten laufen, ist am Bahnhof Tullnerfeld nur wenig los. Vereinzelt warten Menschen auf den Bus, zumindest sie pendeln von hier aus noch.

Gleichzeitig stellen sich hierzulande aber viele die Frage, wie es so weit kommen konnte, dass die wichtigste Bahnstrecke Österreichs über Monate hinweg ausfällt. Kam der Hochwasserschutz in der Planung der 2012 eröffneten sogenannten neuen Westrecke zu kurz? Und wieso wurde der Bahnhof, der ursprünglich gar nicht vorgesehen war, am tiefsten Punkt der Region gebaut?

profil hat sich die Umweltverträglichkeitsgutachten aus dem Jahr 1998 genauer angesehen. Die Unterlagen zeigen: Der Hochwasserschutz hat auch vor fast 30 Jahren schon eine Rolle gespielt. Im Fokus des Gutachtens steht der Perschling-Hochwasserdamm – der zuständige Experte sah diese Hochwasserschutzmaßnahme als ausreichend an. Das Ergebnis: die ÖBB mussten deshalb keine zusätzlichen Schutzvorkehrungen treffen. Was damals aber noch nicht bekannt war: Der Damm, der auch die neue Weststrecke vor einem hundertjährlichen Hochwasser schützen sollte, hielt nicht. Er hätte saniert werden müssen. Aber der Reihe nach.

Eigentlich war hier im Tullnerfeld kein Personenbahnhof geplant. „Früher war dort, wo jetzt das Parkhaus ist, der Pixensee“, sagt Rudolf Friewald mit Blick auf den Eingangsbereich vom Bahnhof Tullnerfeld. Von 2003 bis 2021 war Friewald Bürgermeister von Michelhausen, in dessen Gemeindegebiet sich auch der Bahnhof befindet. „Wir, also die Gemeinden gemeinsam mit dem Land, haben damals gesagt: Wenn hier schon eine neue Verbindung entsteht, dann wollen wir auch etwas davon haben. Und man sieht ja, dass das etwas gebracht hat, wenn man sich ansieht, wie viele heute pendeln“, erzählt Friewald über die Entstehung des Bahnhofs. Schwieriger war dann aber die Einigung über den Standort, übrig blieben die nassen Wiesen, das Gebiet, wo einst der Pixensee war. „Das wurde natürlich alles entwässert", sagt Friewald. Im Nachhinein falle es aber natürlich leichter, darüber zu diskutieren, ob der tiefste Punkt in der Region der richtige Standort für so einen Bahnhof gewesen sei – mitsamt der Elektrik im Keller.

Retentionsbecken reichten nicht aus

Die zwischen dem Bahnhof Tullnerfeld und der großen Tulln liegenden Rückhaltebecken reichten beim Hochwasser Mitte September nicht aus. Der Bahnhofsbereich stand vollständig unter Wasser.

In Variante 2/2a im UVP-Gutachten wird der jetzige Bahnhof Tullnerfeld in seiner Ursprungsform, nämlich als Überholbahnhof beschrieben, sechs Rückhaltebecken sollten laut Planungen errichtet werden – und wurden auch gebaut. Vonseiten der ÖBB heißt es zu den Hochwasser-Vorkehrungen beim Bahnhof Tullnerfeld: „In den 1990er Jahren lagen keine Hochwasser-Modellierungen für diesen Bereich vor und waren auch nicht Stand der Technik. Auch die heutigen Karten zeigen, dass ein hundertjährliches Hochwasser (HQ100) nur bis zum Bahnhof heranreicht, ihn aber nicht komplett unter Wasser setzt.“

Diese Aussage deckt sich mit dem Wasserbautechnik-Gutachten. Für die Bereiche rund um den Bahnhof Tullnerfeld im Abstand zur Großen Tulln finden sich eben jene Rückhaltebecken, Sandsäcke erinnern dort noch an die Situation vor einem Monat.

„Bei ordnungsgemäßer Instandhaltung dieses Gewässers durch den Wasserverband Perschling würde es zu keinen Ausuferungen kommen, sodaß auch keinerlei Hochwasserschutzmaßnahmen für die neue Bahnstrecke erforderlich wären.“

Gutachter in der Umweltverträglichkeitsprüfung (1998) im Teilgebiet „Wasserbautechnik“

über den vorhandenen Hochwasserschutz durch den Perschling-Damm

Dass der Hochwasserschutz entlang der neuen Weststrecke für die Bundesbahnen keine große Rolle gespielt hat, wie ÖBB-Verantwortliche in den vergangenen Tagen mehrfach betonten, stimmt auch. Aber nicht, weil das Risiko nicht bekannt war. Im UVP-Gutachten findet sich bei der Beschreibung zur „quantitativen und qualitativen Beeinträchtigung der Oberflächengewässer“ entlang der Trasse und zu den potenziell notwendigen Risikoverminderungsmaßnahmen unter anderem auch Ausführungen zum Hochwasserschutz an der Perschling. Also jenem Fluss, dessen Damm infolge des Starkregenereignisses diesen Herbst an mehreren Stellen gebrochen ist. 1998 führt der Gutachter aus, dass durch die „Schaffung eines Hochwassergerinnes, welches auf eine Kapazität von mehr als einem HW100 (Anm.: hundertjährlichem Hochwasser) ausgebaut worden ist, eine entsprechende Hochwassersicherheit geschaffen“ wurde.

Hochwasserschutz in der Planung vernachlässigt?

Kritisiert wurde der Zustand des Dammes bereits damals, wenn auch aus anderen Gründen als heute: In der seit dem Jahr 1910 regulierten Perschling hätten sich Sedimente abgelagert und der Baumwuchs auf beiden Uferseiten habe nicht mehr jenen Zustand dargestellt, der wasserrechtlich einst bewilligt wurde. „Bei ordnungsgemäßer Instandhaltung dieses Gewässers durch den Wasserverband Perschling würde es zu keinen Ausuferungen kommen, sodaß auch keinerlei Hochwasserschutzmaßnahmen für die neue Bahnstrecke erforderlich wären“, schreibt der Gutachter damals. Und: Er empfiehlt der Projektwerberin, der HL-AG Eisenbahn-Hochleistungsstrecken AG, mit dem Wasserverband abzuklären, „ob nicht durch die Herstellung des wasserrechtlich bewilligten Zustands des Perschling-Hochwassergerinnes die hochwasserfreie Führung der Bahntrasse erreicht werden kann.“ Die ÖBB hätten also laut UVP-Gutachten aufgrund des vorhandenen Perschling-Dammes an sich keine zusätzlichen Hochwasserschutzmaßnahmen treffen müssen.

Dammbrüche in Niederösterreich

An mehreren Stellen ist der Damm im Tullnerfeld entlang der Perschling infolge der Starkregenereignisse Mitte September gebrochen.

Ob es jedoch diese Instandhaltungsgespräche, die der Gutachter der Projektwerberin mit dem Wasserverband empfahl, gegeben hat, ließen die ÖBB unbeantwortet. Der Hochwasserschutz an der Perschling war in den Planungen aber jedenfalls Thema, denn eine „Empfehlung des damaligen Landwirtschaftsministeriums zum Schutz vor einem hundertjährlichen Hochwasser der Perschling haben wir umgesetzt“, so die ÖBB.

Pikant ist die Perschling-Passage im UVP-Gutachten aber vor allem deshalb, da vergangene Woche publik wurde, dass an diesem Hochwasserdamm seit 27 Jahren schwere Mängel bekannt waren – ORF Niederösterreich berichtete exklusiv. Die Dringlichkeit einer Sanierung sei „seit 1997“ bekannt, sagte Friewald gegenüber dem ORF. Gutachten zum Damm – etwa Bodensondierungen, die Bombentreffer aus dem Zweiten Weltkrieg zeigen – wurden jedoch erst in den Folgejahren erstellt, als das Umweltverträglichkeitsgutachten für die neue Weststrecke längst abgeschlossen war.

Der Wasserverband arbeitet seit Bekanntwerden der Mängel an einem umfassenden Sanierungsprojekt. Dieses verzögerte sich aber, aus einer Vielzahl an Gründen, sagt Friewald im Gespräch mit profil: Der Wasserverband kämpfte mit Naturschutzauflagen, zudem wurden mehrere Varianten der Sanierung geprüft, einige Landwirte seien nicht bereit gewesen, die dafür erforderlichen Flächen abzutreten. Ebenfalls ins Gewicht fiel der mehrfache Wechsel der Gutachter, die sich erst in die Materie einarbeiten mussten. Und schließlich fehlten die dafür notwendigen Gelder. Etwa 28 Millionen Euro wird das Projekt dem Bund, Land Niederösterreich und den betroffenen Gemeinden gemeinsam kosten.

„Als der Planungsprozess dann endlich abgeschlossen war und die Bewilligung im Vorjahr ausgestellt wurde, fehlten die Zusagen für die dafür notwendigen Gelder“, sagt Friewald. Laut dem Wasserverbands-Obmann und ehemaligen Bürgermeisters gibt es diese Zusage des zuständigen Umweltlandesrats Stefan Pernkopf (ÖVP) mittlerweile. Über den Winter soll das Projekt ausgeschrieben werden, im Frühling möchte man mit dem Bau beginnen. Für die Regenmassen vom vergangenen September kommt das zu spät.

ÖBB prüfen Klage

Betroffene aus der Region, die ihre Schäden nicht nur auf die Folgen einer Naturkatastrophe zurückführen, sondern auch auf die Dammbrüche, prüfen mittlerweile eine Klage gegen das Land Niederösterreich. Und auch die ÖBB schließen das nicht aus, heißt es in einer schriftlichen Stellungnahme: „Derzeit liegt unser Fokus auf der Wiederinbetriebnahme der Strecke. Aber wir werden uns auch anschauen, wo das viele Wasser hergekommen ist, ob alle Schutzbauten in der Umgebung auch funktioniert haben. (…) Allfällige rechtliche Schritte werden dabei mituntersucht“, schreiben die ÖBB auf profil-Anfrage.

Ob und welches Nachspiel das jüngste Hochwasser in Niederösterreich noch haben wird, lässt sich heute somit noch nicht sagen. Ebenso, wie viel ein intakter Hochwasserdamm bei den mehr als 400 Liter Regen pro Quadratmeter verhindern hätte können. „Ich denke, dass er dann nicht an mehreren Stellen gebrochen wäre, langsam über das Ufer wäre er jedenfalls getreten“, meint Friewald.

Den ganzen Schaden dem Land Niederösterreich umhängen, dürfte aber schwierig werden. Denn dass die ÖBB beim Atzenbrugger Tunnel den tiefsten Punkt in der Mitte des Tunnels konstruiert haben, gilt als Mitgrund, wieso man das Wasser lange nicht aus dem Tunnel gebracht hat. Diese ungünstige bauliche Ausgangslage wurde verstärkt, da die beiden Pumpen, die den Tunnel normalerweise bei Regen entwässern, am öffentlichen Stromnetz hängen. Diese Stromversorgung war jedoch durch das Hochwasser unterbrochen. Bis zur neuerlichen Inbetriebnahme soll das geändert werden. Es soll eine weitgehend unabhängige Notstromversorgung installiert werden.

Bis Mitte Dezember sollen die Arbeiten an der Strecke jedenfalls abgeschlossen sein. Denn ab 15. Dezember möchte die ÖBB den Zugverkehr durch das Tullnerfeld wieder aufnehmen. Einziger Wermutstropfen: Auf die Wiedereröffnung folgt 2025 eine vierwöchige Sperre, in der jetzt getroffene provisorische Maßnahmen ausgebessert werden. Einen konkreten Zeitplan für die Sanierung des Perschling-Hochwasserdammes gibt es noch nicht.

Julian Kern

Julian Kern

ist seit März 2024 im Online-Ressort bei profil und Teil des faktiv-Teams. War zuvor im Wirtschaftsressort der „Wiener Zeitung“.