Ende der Ost-Expansion? Wieso heimische Firmen im Osten schließen
Das erste Mal seit vielen Jahren investieren heimische und europäische Firmen weniger in Osteuropa. Ist es das Ende der Ost-Expansion? Zu Besuch in einer bulgarischen Kleinstadt, die ihre größte Fabrik und damit ihre wichtigste Geldquelle verliert.
Gute 20 Jahre war der Wohlstand in der bulgarischen Gemeinde Stambolijski zu Hause. Jetzt wird er abgebaut, eingepackt und in Güterzügen und Lastwagen abtransportiert. Der Grund für diesen abrupten Wohlstandsverlust in der 11.000-Einwohner-Gemeinde ist die Schließung der hiesigen Papierfabrik. Und mit ihr verlässt der größte Arbeitgeber, der mit Abstand größte Steuerzahler und der großzügigste Sponsor für Osterfeste, Fußball-Anlagen und Schulmathematik-Wettbewerbe den Ort. „Das ist für uns alle in der Gemeinde eine riesengroße Tragödie. Wir haben keine Ahnung, wie wir das alles kompensieren sollen“, sagt Bürgermeister Petar Nedelev.
Die Papierfabrik gehörte zur Mondi Group, die ihren Firmensitz in Wien und in Weybridge im Vereinigten Königreich hat. Nach einem Werksbrand Ende vergangenen Jahres hat das Management beschlossen, die Werkshallen nicht zu erneuern, sondern den Betrieb ganz zu schließen. Bis vor Kurzem wurde hier ein Zehntel des gesamten Schnittholzes des Landes zu Zellstoffen und Papierverpackungsmaterialien verarbeitet. Jetzt verlieren 320 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ihren Job, zählt man externe Leiharbeiter, Kantinenmitarbeiter und Putzpersonal dazu, sind es sogar 600 Menschen. 250 Firmen landesweit verlieren einen ihrer größten Auftraggeber. Und die Gemeinde muss heuer auf eine halbe Million Euro Kommunalsteuer verzichten.
Die kleine Stadt in Südbulgarien steht exemplarisch für andere kleine und größere Städte in Zentral-, Ost- und Südosteuropa, in denen neuerdings Fabriken geschlossen werden oder Firmen zumindest eine empfindliche Anzahl an Mitarbeitern gehen lassen. Die Industriekrise, die Europa seit Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine ereilte, greift um sich. Und so sind auch die Investitionen österreichischer und westeuropäischer Firmen im Osten heuer empfindlich gesunken.
Für die Region sind das keine guten Nachrichten. Und in manchen Ländern könnten andere Machtblöcke die Lücke füllen, die westliche Firmen hinterlassen. Aber der Reihe nach.
Strukturelle Krisen lassen sich gut in Statistiken verpacken. Laut einer Untersuchung des Wiener Instituts für internationale Wirtschaftsvergleiche (wiiw) sind die Investitionen in Zentral- und Osteuropa im vergangenen Jahr um ein Viertel gesunken. Heuer sanken sie dann im ersten Quartal noch einmal um 26 Prozent. Der genauere Blick in die Zahlen zeichnet für die Region ein noch unerfreulicheres Bild. Das angekündigte Kapital für Greenfield-Investitionen, das sind im Grunde angekündigte Werkseröffnungen, Investitionspläne oder Ausbaupläne, ist heuer um 55 Prozent niedriger und damit so gering wie vor fünf Jahren – als die Corona-Krise in vollem Gang war. Das sind zigtausend Arbeitsplätze, die nun doch nicht entstehen oder gar wegfallen.
Für den Investitionsrückgang gibt es gleich mehrere Gründe, erklärt Mario Holzner, Direktor des wiiw. „In wirtschaftlich schlechten Zeiten wird insgesamt weniger investiert.“ Das ist neben geopolitischen Unsicherheiten und dem Fachkräftemangel wohl der gewichtigste Grund für die Investitionszurückhaltung. Die heimische Industrie ist das dritte Jahr in Folge in der Krise. Die Güterproduktion ist rückläufig, und auch in Österreich fehlt es nicht an Hiobsbotschaften. Der Technologiekonzern AVL List baut in den kommenden Monaten am Standort in Graz 350 Stellen ab. Der oberösterreichische Maschinenbauer Engel streicht 50 Arbeitsplätze. Der Küchenhersteller Haka ist insolvent. Weitere 158 Menschen zittern um ihre Arbeitsplätze. Und das alles in nur einer Woche.
Nichts mehr da
Wenn man im Kernmarkt sparen muss, hält man sich mit zusätzlichen Investitionen im Ausland zurück. „Das Management hat die Schließung mit der insgesamt schwierigen geopolitischen und wirtschaftlichen Lage begründet. Außerdem sei die Fabrik schon veraltet, und eine Sanierung würde zu viel kosten“, erzählt ein ehemaliger Mondi-Mitarbeiter. Mit profil will er nur anonym sprechen. Jetzt, wo er seinen Job verloren hat, hat er keine Lust auf Rechtsstreitigkeiten mit einem Weltkonzern über etwaige Verschwiegenheitsklauseln. Bis Redaktionsschluss hat Mondi übrigens nicht auf eine profil-Anfrage zur Schließung geantwortet.
Werksschließungen mussten heuer auch andere österreichische Firmen vor ihrer Belegschaft rechtfertigen – und zwar auch an den osteuropäischen Standorten. Als bekannt wurde, dass der heimische Zuckerproduzent Agrana seine Produktion im niederösterreichischen Loosdorf zusperrt, wurde die Fabrikschließung zum Politikum und zum nächsten Sinnbild für die Industriekrise im Land. Bei der Debatte ging fast unter, dass wenige Kilometer weiter, hinter der tschechischen Grenze, Agrana ein zweites Werk schließt, nämlich in Hrušovany. Auch dort verloren 150 Menschen ihre Jobs. Und auch diese 3400-Seelen-Gemeinde muss massive Einnahmenausfälle einstecken.
Zurück nach Stambolijski: Im Mondi-Werk arbeiten nur noch jene Mitarbeiter, die die Lagerhallen ausräumen, Maschinen abbauen und übrig gebliebene Rohstoffe oder Ware für den Abtransport vorbereiten. Auf dem weitläufigen Werksgelände sei es seit Monaten gespenstisch still, erzählt der ehemalige Mitarbeiter. Die Schließung der Fabrik wurde im ganzen Land zum Politikum. Staatspräsident Rumen Radev hat Werksmitarbeiter und den Bürgermeister empfangen. Wirtschaftsminister Petar Dilov hat persönlich Unterstützung bei der Suche nach neuen Investoren zugesichert. Bisher half das alles nichts.
„Wir wissen nicht, ob oder wer die Fabrik übernehmen wird“, sagt der Bürgermeister von Stambolijski, Petar Nedelev. „Ich bezweifle aber, dass es hier so schnell so viele, gute und hochwertige Jobs geben wird.“
„Wir wissen nicht, ob oder wer die Fabrik übernehmen wird“, sagt Bürgermeister Nedelev. „Ich bezweifle aber, dass es hier so schnell so viele, gute und hochwertige Jobs geben wird.“ In der Fabrik arbeiteten Ingenieure, Facharbeiter, Betriebswirte. Und sie verdienten für bulgarische Verhältnisse sehr gut. „Bei neuen Arbeitgebern bekommen sie teilweise weniger als das, was sie an Arbeitslosengeld bekommen. Das wird für einige Familien hier zum Problem“, erzählt der ehemalige Mitarbeiter.
Nicht nur die gesamteuropäischen Investitionen in Osteuropa sind zuletzt gesunken, sondern auch die österreichischen. Laut wiiw ist die Anzahl geplanter Investitionsprojekte durch österreichische Firmen von 49 im Vorjahr auf heuer 34 gesunken. Die zugesicherten Kapitalinvestitionen betrugen zuletzt 1,3 Milliarden Euro. Vor drei Jahren lagen sie noch bei fast 5,8 Milliarden.
Fette Ost-Jahre
Dabei hat sich nach der Wende 1990 kaum ein anderes EU-Land stärker gen Osten orientiert als Österreich. Raiffeisen International hat gleich nach dem Fall der Berliner Mauer als erste westliche Bank eine Filiale in Moskau eröffnet. Heute steht sie für ihr Russland-Engagement stark in der Kritik. Die teilstaatliche OMV betreibt ein breites Tankstellennetz in Ost- und Südosteuropa und ist Mehrheitseigentümerin der rumänischen Petrom. Uniqa, Erste Group – Logos österreichischer Firmen sind im Osten allgegenwärtig.
Jetzt ist vor allem die Industrie zurückhaltend. Der Stahl- und Technologiekonzern voestalpine schließt nicht nur ein Werk mit 220 Mitarbeitern im deutschen Birkenfeld, er verlagert auch Produktionskapazitäten von seinem Standort in Tschechien in die USA.
Von einem flächendeckenden Rückzug kann man trotz der sinkenden Investitionen noch lange nicht sprechen, erklärt wiiw-Ökonom Holzner. Aber man sei eben etwas zurückhaltender mit den Investitionen. Und damit sind wir auch schon beim zweiten Grund für diesen Rückgang: die geopolitischen Unsicherheiten aufgrund des noch immer andauernden Krieges Russlands in der Ukraine. „Die Verunsicherung in der gesamten Region ist deswegen groß“, meint Holzner. Ein Kriegsende ist noch immer nicht in Sicht. Und angesichts der Drohgebärden von US-Präsident Donald Trump in Richtung Europa sei auch mehr als fraglich, ob der NATO-Schutzschirm in zehn Jahren noch hält. Viele Ost-Länder sind heute NATO-Mitglieder. Gleichzeitig versucht Russland, seinen Einfluss in der Region wieder auszubauen. „Solche Unsicherheiten sind für Investitionspläne, die langfristig geschmiedet werden, Gift“, meint Holzner.
Mario Holzner ist Leiter des Wiener Instituts für Internationale Wirtschaftsvergleiche (wiiw).
Zukunftsangst
„Die Verunsicherung in der gesamten Region ist deswegen groß“, meint Ökonom Mario Holzner. Niemand könne heute sagen, wie lange der Krieg Russlands in Ukraine noch dauern wird. Und auch nicht, ob der Nato-Schutzschirm in der Region in zehn Jahren noch hält. „Solche Unsicherheiten sind für Investitionspläne, die langfristig geschmiedet werden, Gift."
Seit 70 Jahren steht die Papierfabrik in der bulgarischen Kleinstadt Stambolijski schon. Im damals sozialistischen Bulgarien wurde sie als staatliches Papierkombinat errichtet. Nach der Wende versuchten mehrere ausländische Investoren das Werk zu übernehmen und für den Weltmarkt fit zu machen. Mondi kaufte die Fabrik schließlich 2006 und investierte in neue Maschinen, Filter, optimierte die Produktionsprozesse und machte aus der ehemals trägen, staatlich-sozialistischen Fabrik ein hoch profitables modernes Werk.
Industrieschicksale wie diese finden sich zuhauf in unzähligen kleinen und großen Gemeinden in ganz Osteuropa. Ehemals staatliche, veraltete Industrien wurden privatisiert und im besten Fall von westlichen Investoren modernisiert. Im schlechtesten Fall ragen verfallende Industrieruinen heute wie Mahnmale des Untergangs des Kommunismus in den strukturschwachen Regionen des Ostens gen Himmel.
Wenn dann eine solche Übernahme-Erfolgsgeschichte plötzlich endet, kann das schon einmal zu einer Tragödie für eine Kleinstadt werden. Gesamtwirtschaftlich ist der Rückgang der westlichen Investitionen in Osteuropa aber noch nicht zu spüren. Und damit wären wir auch beim dritten Grund für den Investitionsrückgang, der auf den ersten Blick etwas paradox erscheint: die Demografie.
Niemand da
Drei Jahrzehnte lang linderte die qualifizierte Migration aus den östlichen EU-Ländern den Fachkräftemangel in den westlichen EU-Ländern. Das hat aber heute einen noch eklatanteren Fachkräftemangel in den ost- und südosteuropäischen Ländern zur Folge. „Der Arbeitsmarkt im Osten ist leer gefegt. Es gibt dort kaum Arbeitslosigkeit“, sagt Atanas Pekanov. Er ist Ökonom am Wirtschaftsforschungsinstitut (WIFO) und war in den vergangenen fünf Jahren in zwei bulgarischen Übergangsregierungen als stellvertretender Ministerpräsident für das Management der EU-Fonds zuständig.
„Der Arbeitsmarkt im Osten ist leer gefegt. Es gibt dort kaum Arbeitslosigkeit.“
Atanas Pekanov, WIFO-Ökonom
zum Fachkräftemangel in Osteuropa
Österreich und Deutschland sind seit über zwei Jahren in der Krise, und die wirtschaftliche Erholung lässt auch heuer auf sich warten. Für 2025 rechnet das WIFO in Österreich mit einem Nullwachstum. Viele östliche EU-Länder wie die Slowakei, Polen, Bulgarien oder Litauen verzeichnen hingegen Wachstumsraten um die zwei Prozent. Und anders als hierzulande steigt der private Konsum im Osten noch deutlich. Denn der steigende Fachkräftemangel hat die Löhne und den Lebensstandard in der Region im vergangenen Jahrzehnt massiv in die Höhe getrieben. Das wiederum schreckt zunehmend ausländische Investoren ab. Sie müssen dann Arbeitskräften, die rar sind, immer höhere Gehälter zahlen.
„Die Nachfrage nach Fachkräften ist im Osten noch immer sehr hoch“, erklärt Pekanov. Deshalb sind Werkschließungen zwar für kleine Gemeinden tatsächlich eine Tragödie, im Großen und Ganzen gibt es aber noch genug offene Stellen, um die Ausfälle zu kompensieren.
Mittel- und langfristig sind Investitionsrückgänge aber natürlich ein Problem. „Es gibt noch immer viele strukturschwache Regionen im Osten. Und wenn die Länder jetzt, auch mangels Investitionen, langsamer beim Ausbau ihrer Infrastruktur werden, könnte das noch mal zu weniger Investitionen in der Region führen.“
Eine andere Folge des lokalen Rückzugs westlicher Investoren spricht der Bürgermeister von Stambolijski offen aus: „Wir haben an alle möglichen Stellen geschrieben. Auch an die chinesische Botschaft. Vielleicht gibt es ja dort interessierte Investoren, die unsere Fabrik kaufen möchten? Sie haben sehr freundlich geantwortet und versprochen, sich den Fall zumindest anzuschauen.“ Seit Jahren baut China seinen wirtschaftlichen Einfluss im Osten aus. Jetzt hofft die Kleinstadt Stambolijs-ki, dass vielleicht auch hier der eine oder andere Yuan abfällt, wenn die Euros schon den Ort verlassen.