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Thomas Piketty: Der rätselhafte Reißer r>g

Ökonomie. Was Thomas Piketty zum Star unter den Ökonomen macht

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Von Eva Linsinger und Tessa Szyszkowitz

Rockstars logieren bevorzugt in mondänen Villen oder protzigen Hotelsuiten, so das gängige Klischee. Auf den derzeitigen Rockstar der Wirtschaftswissenschaften trifft das mitnichten zu. Wer sich auf den Weg zu Thomas Piketty, dem international gefeierten Wirtschaftsguru macht, muss aus dem Nobelteil von Paris heraus, durch leere Straßen und vorbei an einer verwitterten Autowerkstatt, bis hin zum reichlich abgenutzten Gebäude der "Paris School of Economics“. Pikettys Büro dort hat die Größe einer Besenkammer und würde kaum die Kriterien zur artgerechten Haltung eines mittelgroßen Säugetiers erfüllen. Auch deshalb, weil es bis unter die Decke mit alten Aktenordnern vollgepfropft ist, die Vermerke wie "All India Papers“ tragen.

Insignien der Macht scheinen dem jungenhaften Herrn Professor Piketty herzlich egal zu sein: Sekretariat hat der 43-Jährige keines, seinen Espresso holt er sich im Plastikbecher aus dem Gang - und vergisst ihn vor lauter Reden zu trinken. So also logiert der derzeit einflussreichste Ökonom der Welt.

"Rockstar der Wirtschaftswissenschaft“, "Wunderheiler“, "Entdecker der Weltformel“: keine Beschreibung konnte in den vergangenen Monaten hymnisch genug für Piketty sein. Kommende Woche wird das nächste Kapitel des Hypes geschrieben: Piketty tritt auf der Frankfurter Buchmesse auf, weil sein Wälzer "Das Kapital im 21. Jahrhundert“ auf Deutsch erscheint - und wenig später auf Chinesisch.

Pikettys kiloschweres Werk ist einer der skurrilsten Bestseller in der Geschichte des Buchmarktes, ein Überraschungserfolg sondergleichen, eine Art "Harry Potter“ der ökonomischen Literatur. Es ist in der deutschen Übersetzung 816 Seiten dick, enthält Satzbausteine wie "das Gesetz α = r x q oder die Gleichung β = s/g“ und ist von einem französischen Wirtschaftsprofessor geschrieben, der über die Geschichte der Weltwirtschaft seit Jesus Christus elaboriert. Kurz: Alles andere als das Material, aus dem Kassenschlager gemacht sind. Aber: Ein Buch, das den Nerv der "Occupy-Wallstreet“-Zeit perfekt traf und das weit verbreitete vage Gefühl, dass es auf der Welt ungerecht zugeht, in lange Tabellen und Statistikreihen über Einkommen und Vermögen goss.

Denn Pikettys Kernthese ist denkbar einfach und lautet: r>g. Ererbte Vermögen und Renditen aus Kapital wachsen schneller als erarbeitetes Geld. Die Erkenntnis, dass Reiche immer reicher werden, Arbeiten sich aber kaum lohnt, klingt auf den ersten Blick banal - stellt aber im Grunde das gesamte Kapitalismusmodell in Frage. Beruht doch der Glaube an die Marktwirtschaft darauf, dass es alle nach oben schaffen können, die tüchtig sind und sich genügend anstrengen. Pikettys Buch ist - auch - der ultimative Abgesang auf den amerikanischen Traum.

Kein Wunder, dass der Hype um ihn in den USA wurzelt. Die französische Originalversion seines Buchs verpuffte außerhalb von Fachkreisen weitgehend unbemerkt. Die amerikanische Übersetzung erschien im "Harvard University Press“-Verlag, der normalerweise für einen überschaubaren Leserkreis publiziert. Doch seit heuer im März die US-Version ausgeliefert wurde, machte das Buch Furore, die über den Atlantik zurück nach Europa schwappte. Hunderttausende verkaufte Exemplare, wochenlang Nummer 1 auf den Bestsellerlisten - und Riesenrummel: Piketty wurde vom amerikanischen Finanzminister genauso empfangen wie vom Internationalen Währungsfonds. Als er im Juli auf Einladung der Arbeiterkammer in Wien referierte, war der Andrang derart groß, dass die Veranstaltung live ins benachbarte Theater Akzent übertragen wurde.

Piketty hört es nicht ungern, wenn er mit Karl Marx verglichen wird, nicht zufällig spielt der Titel seines Buchs auf Marx’ Kapital an. Allerdings brauchte das Opus Magnum des Ökonomen-Kollegen Marx nach seinem Erscheinen im Jahr 1867 zähe fünf Jahre, ehe die ersten 1000 Exemplare verkauft waren.

Pikettys Buch ist auch ein Lehrstück über den richtigen Zeitpunkt. Im Sommer 2012 vertrat Joseph Stiglitz, als Wirtschaftsnobelpreisträger alles andere als ein No-Name, mit seinem Buch "Der Preis der Ungleichheit“ im Kern dieselbe These wie Piketty - dass ein zu großes Auseinanderklaffen zwischen den Wohlhabenden und dem großen Rest die Demokratie gefährdet. Stiglitz belegte wie Piketty, dass die kleine Gruppe des obersten einen Prozents in den USA ein sattes Viertel des Volkseinkommens auf sich vereint. Stiglitz’ Buch war ein Achtungserfolg. Pikettys Wälzer hingegen ein Triumph.

Das liegt nicht nur daran, dass sein Schmöker über Armut und Reichtum - allen Formeln zum Trotz - gut lesbar und zudem mit apokalyptischen Gruselsätzen angereichert ist, die jeder versteht à la: "Wird sich die Welt der Jahre 2050 oder 2100 in den Händen von Börsenhändlern, Top-Managern und Besitzern großer Vermögen befinden, werden Ölländer, die Bank of China oder gar Steuerparadiese das Sagen haben?“ Mit derartigen Aussagen hätte man sich vor wenigen Jahren im verfemten Eck der kruden Ultralinken wiedergefunden. Im Frühjahr 2014 aber, als Pikettys Buch in den USA erschien, war die Sorge über die Schieflage zwischen Reichen und Habenichtsen zur gängigen Meinung geworden: Das Weltwirtschaftsforum in Davos, beileibe kein Hort der Kapitalismuskritik, hatte zwei Monate davor die wachsende Ungleichheit als "größte Gefahr“ für die Weltwirtschaft bezeichnet, selbst die Ratingagentur Standard & Poor’s warnte, dass das starke Ungleichheit die Ökonomie bremst, weil zu viel Vermögen in den Händen zu weniger saturiert macht.

In dieser Gemengelage musste man kein Occupy-Wall-Street-Aktivist sein, um Pikettys Buch für eine Offenbarung zu halten. Nicht umsonst huldigte Starökonom Paul Krugman dem Werk als "wichtigstem Buch des Jahres, vielleicht des Jahrzehnts“. Der Boden war aufbereitet, gerade im Mutterland des Kapitalismus, wo Politik von Spenden Vermögender abhängig ist. Piketty erntete. Und goss seine Erkenntnisse in Forderungen wie: "Es braucht hohe Steuern auf Kapital und Vermögen“ (siehe Interview).

Sein Wälzer wird auch als erster Sachbuch-Bestseller des Internet-Zeitalters in die Geschichte eingehen. Schon in den 1980er-Jahren sammelten Ökonomen Daten über Vermögen und Einkommen - allerdings jeder für sich und auf Karteikarten. Das Forscherteam um Piketty, allen voran Anthony Atkinson, der britische Altmeister der Ungleichheitsforschung, legte eine Datensammlung zu Vermögen und Einkommen über hunderte Jahre im Netz an. Auf http://piketty.pse.ens.fr/en/capital21c2 sind die Zahlenreihen für alle einsehbar - und werden laufend ergänzt. "Dieser öffentliche Datensatz ist ein Quantensprung und Teil von Pikettys Erfolg“, urteilt Wilfried Altzinger, Ökonomieprofessor an der Uni Wien. Denn: "Dadurch haben sich viele Wirtschaftswissenschafter damit beschäftigt und Unmengen von Artikeln dazu publiziert.“

Auch überaus kritische. Der Wirtschaftschef der britischen "Financial Times“ überprüfte die Zahlenkolonnen und warf Piketty vor, nicht sauber gearbeitet zu haben und deswegen das Ausmaß der Ungleichheit zu überschätzen. Murks statt Marx also?

Die Statistikfehler an sich sind marginal, es wurden lediglich die Zahlenreihen für die Jahre 1908 und 1920 vertauscht. Schwerer wiegt der von vielen Wirtschaftsprofessoren erhobene Vorwurf, dass aus den Daten die falschen Schlussfolgerungen gezogen wurden. Die hitzige Diskussion darüber geriet so spannend wie das Buch selbst - und belegte vor allem eines: Dass die Ökonomie keine exakte Wissenschaft ist.

Denn im Grunde kreiste die Debatte um die Frage: Wie viel Ungleichheit ist notwendig, weil sie als Triebfeder wirkt, sich anzustrengen - und ab welchem Punkt kippt das Gefüge? Piketty sagte darauf: Ab jetzt. Etliche Kollegen konterten ebenso vehement: Grundfalsch, gerade in China oder Indien sei eine neue Mittelklasse entstanden, die Marktkräfte bewirken also mehr Gleichheit. Beide Theorien wurden erbittert vertreten - letztlich ohne Ergebnis. Eine entwaffnend ehrliche Antwort gab bloß der Ökonom Branko Milanovic, der seit 30 Jahren über Einkommensverteilung forscht: "Niemand weiß, wo das ökonomisch perfekte Level an Ungleichheit liegt.“

Wenn niemand Exaktes weiß, aber alle meinungsstark sind, bildet das die ideale Voraussetzung für eine mit Verve geführte Diskussion. Die den Piketty-Hype erneut befeuerte.

In Österreich steht die Debatte am Anfang. Eigentlich hätten auch die Vermögen hierzulande in Pikettys weltweiter Datensammlung der Superreichen (http://topincomes.parisschoolofeconomics.eu/) enthalten sein sollen, genauso wie Zahlen aus 28 Staaten, von Argentinien über Deutschland bis zu den USA. Allein, es haperte an den Daten. Das Bankgeheimnis und fehlende Vermögenssteuern lassen keine Auflistung zu. Österreich fehlt selbst im zweiten Schritt: Derzeit werden aus vielen anderen Ländern Statistiken gesammelt, selbst Staaten wie Botswana und Samoa finden sich auf der "in Arbeit“-Liste des Piketty-Teams. Österreich nicht.

Nicht nur aus dem Grund rät EU-Kommissar Laslo Andor zu Erbschaftssteuern (siehe Kasten). Vielleicht müssen die Regierungsmitglieder das Buch erst fertiglesen. Vizekanzler Reinhold Mitterlehner und Sekretärin Sonja Steßl etwa haben das Buch gekauft, aber noch nicht zu Ende durchgeackert.

Sie liegen damit im Trend. Der Mathematiker Jordan Ellenberg fügt den Piketty-Rekorden einen weiteren hinzu und verlieh ihm den Titel "ungelesenster Bestseller aller Zeiten“. Ellenbergs Begründung: Er hat die Markierungen auf der E-Book-Version ausgewertet und herausgefunden, dass sich die meisten Hervorhebungen auf den ersten 26 Seiten finden. Weiter kamen offenbar viele Leser nicht.

Piketty selbst lässt diese wie jede andere Kritik abprallen. Für ihn sind die Reaktionen auf sein Buch Beweis genug, dass er recht hat: "Mich rufen große Firmen an und bieten mir exorbitante Summen bis zu 50.000 Dollar oder sogar das Doppelte für Vorträge. Das zeigt, dass eindeutig zu viel Geld frei verfügbar ist. Wohlgemerkt bei Firmen, die ihre Putzfrauen für weniger als den Mindestlohn schuften lassen.“