Dossier: Impfungen

Andrew Wakefield: Der Vater aller Impfgegner

Ende der 1990er-Jahre fälschte ein britischer Arzt eine winzige Studie. Das war der Beginn irrationaler Impfängste, die Geburtsstunde der Antivaxxer-Bewegung – und verhalf dem betrügerischen Doktor zu einer hochprofitablen Karriere als Leitfigur der Coronaleugner.

Drucken

Schriftgröße

Elle Macpherson ist gegangen. Das Supermodel gab bekannt, sich von Andrew Wakefield getrennt zu haben. Die 57-Jährige und der frühere Arzt hatten 2017 eine Beziehung begonnen und in einer Luxusvilla in Südflorida gelebt. Sonst kann sich Wakefield über mangelnde Zuneigung nicht beschweren: Die internationale Szene der Impfgegner verehrt ihn wie einen Sektenguru. Der Brite ist Anführer und Leitfigur der radikalen internationalen Antivaxxer-Bewegung – und zugleich ihr Begründer: Er hat irrationale Ängste vor Impfungen in die Welt gesetzt und befeuert sie ständig. Waren Fehlinformationen über vermeintliche Gefahren der Impfung gegen Masern, Mumps und Röteln gleichsam Testlauf und Gesellenstück Wakefields, steht er heute an vorderster Front bei der serienmäßigen Produktion von Fake News gegen die Covid-19-Impfstoffe.

Zwar ist die Skepsis gegenüber Impfstoffen so alt wie das Prinzip des Impfens selbst: Bedenken gab es schon nach der Erfindung der Immunisierung gegen die Pocken Ende des 18. Jahrhunderts. Doch Wakefield ist eine andere Liga. Er hat die Angst vor dem Impfen globalisiert und professionalisiert. Auf ihn geht der inzwischen unausrottbare Irrglaube zurück, dass Impfungen nicht nur unerwünschte Nebeneffekte, sondern schwere Krankheiten auslösen können. Er hat die Menschheit erst auf die Idee gebracht, dass Impfstoffe Gift sind. Und er beweist eindrücklich, dass organisiertes Impfgegnertum, genügend Skrupellosigkeit vorausgesetzt, vor allem eines ist: ein Millionengeschäft.

Wakefields Laufbahn gleicht in vieler Hinsicht dem Muster des klassischen Scharlatans, wie er schon im Mittelalter auftrat: Mit großer Geste und viel Charisma, mit Talent zur schamlosen Lüge sowie einem guten Gespür für die Nöte und Schwächen der Menschen hielt der Scharlatan seine Opfer zum Narren und zog ihnen das Geld aus der Tasche – bis der Boden zu heiß wurde und er sein Spiel andernorts von vorn begann.

Das Beispiel Wakefield würde aber selbst die ausgekochtesten Hochstapler vor Neid erblassen lassen, weil es zeigt, wie wenig Aufwand nötig ist, um größtmöglichen Schaden anzurichten. Im konkreten Fall bedurfte es einer einzigen winzigen Studie, die auf Datenmanipulation und Wissenschaftsbetrug beruhte. Deren Ergebnisse, obwohl ohne jeden Zweifel als falsch entlarvt, sind nicht mehr aus der Welt zu schaffen und bilden heute das Fundament der Furcht vor Impfungen – und von Wakefields Einfluss und Wohlstand. Während der Pandemie marschierte in vielen Ländern der zwar ziemlich überschaubare, aber lautstarke Impfgegner- und Querdenker-Mob durch die Straßen, und Wakefield ist ein Wegbereiter dieser Entwicklung.

Die Geschichte begann vor 25 Jahren. Andrew Wakefield, Jahrgang 1957, aus einer Ärztefamilie stammend, ausgebildeter Chirurg, arbeitete am Royal Free Hospital in London. In den Jahren 1996 und 1997 studierte er dort Fälle von Kindern, die an Darmerkrankungen sowie Entwicklungsstörungen des Autismus-Spektrums litten. Im Februar 1998 veröffentlichten er und ein Kollegenteam einen Fachartikel, der zwölf dieser Fälle beschrieb und eine Vermutung über die Ursache in den Raum stellte: Es sei denkbar, dass der Kombinationsimpfstoff gegen Masern, Mumps und Röteln (MMR) daran schuld sei, weshalb es weitere Untersuchungen brauche. Ein neues Syndrom war auch gleich geboren: autistische Enterocolitis.

Wakefield tingelte mit seinen vermeintlich epochalen Entdeckungen von TV-Studio zu TV-Studio. Dort war er wesentlich weniger zurückhaltend als in dem nüchternen Fachtext, der ausgerechnet im Traditionsjournal „The Lancet“ erschien. Er behauptete, das Immunsystem werde durch die Dreifachimpfung überfordert, weshalb er zu Einzel- statt Kombinationsimpfungen riet. Er verschwieg, dass er selber zuvor Patente für solche Einzelimpfstoffe angemeldet hatte.

Die Interviews und daraus resultierenden Zeitungsmeldungen schlugen ein wie die sprichwörtliche Bombe. Was bei den Menschen ankam, war die Botschaft: Impfungen verursachen Autismus. Und diese Ansicht ist bis heute nicht mehr aus den Köpfen zu bekommen – auch wenn längst überwältigende Evidenz dafür vorliegt, dass nicht der geringste Zusammenhang besteht.

Selbst wenn Wakefield sauber gearbeitet und ehrbare Motive gehabt hätte, wäre die Aussagekraft seiner Studie äußerst begrenzt gewesen: Auf Basis von zwölf Fällen kann man keine belastbaren Schlüsse ziehen. Eine dermaßen kleine Arbeit kann höchstens erste Hinweise geben, die durch weitere Studien überprüft und erhärtet werden müssen. Erst wenn mehrere Untersuchungen mit weitaus höheren Teilnehmerzahlen vorliegen, eine Arbeit also in größerem Maßstab wiederholbar ist, darf man davon ausgehen, dass die Resultate Bestand haben. Das ist keine Lex Wakefield, sondern üblicher Standard in der Medizin und den Biowissenschaften.

Solche Arbeiten wurden auch gemacht. Bereits im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts lagen ausreichend größere Studien vor, die Wakefields Resultate geprüft hatten. Doch keine einzige kam zu ähnlichen Befunden, und keine einzige konnte seine Ergebnisse replizieren. In den Jahren danach wurden enorm große Übersichtsarbeiten mit bis zu 95.000 Teilnehmern durchgeführt, um allfällige Verbindungen zwischen Impfungen und Autismus aufzuspüren. Es kam stets dasselbe heraus, egal wie umfassend die jeweilige Studie war: Es gibt keinerlei Hinweis, dass geimpfte Kinder öfter Autismus entwickeln als ungeimpfte. Heute kann man mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass Impfungen keinerlei Einfluss auf die Entstehung von Autismus haben. Der Schaden war freilich längst angerichtet: In der Bevölkerung brach Panik aus, Eltern ließen ihre Kinder nicht mehr impfen. Zwischen 1996 und 2002 sank die britische MMR-Durchimpfungsrate von 92 auf 84 Prozent. Vermehrt kam es zu Masernepidemien, in deren Folge mindestens vier Kinder starben.

Doch Wakefield hatte sich nicht bloß geirrt. Seine Studie war schlichtweg Betrug. Das Fachjournal „British Medical Journal“ und der Journalist Brian Deer klemmten sich hinter die Sache und deckten allmählich die üblen Hintergründe auf. Die Recherchen ergaben, dass Wakefield rund eine halbe Million Euro von Anwälten erhalten hatte, die Eltern autistischer Kinder vertraten und Pharmaunternehmen wegen angeblicher Impfschäden verklagen wollten – ohne Wissen des „Lancet“ und der meisten Koautoren. Wakefield klagte Deer, was nicht sonderlich schlau war, denn dieser hatte nun als Prozesspartei Akteneinsicht. Er konnte die bislang anonymisierten Daten jener Kinder einsehen, die in der Studie beschrieben waren. Dabei zeigte sich, dass deren Eltern keineswegs zufällig und unabhängig voneinander mit ihren Kindern im Spital vorstellig geworden, sondern von den Anwälten vermittelt worden waren. Und es ließ sich nachweisen, dass bei einigen Kindern die Autismussymptome nicht erst nach der Impfung aufgetreten waren, sondern schon zuvor bestanden hatte. Die Resultate der Studie beruhten somit teils schlicht auf Datenfälschung.

Allmählich wurde die Luft dünn für Wakefield. Zehn der zwölf Koautoren der Studie gaben bekannt, deren Aussagen nicht mehr zu stützen. „The Lancet“ kritisierte 2004 zuerst die „fehlerhafte“ Arbeit und „fatale Interessenskonflikte“ und zog die Studie, mit gehöriger und peinlicher Verspätung, 2010 schließlich zur Gänze zurück. „Retracted“ heißt dies Fachjargon. Im selben Jahr erhielt Wakefield Berufsverbot in England. Seine Fake-Studie hat derweil einen fragwürdigen Rekord eingefahren: In einem Ranking der meistzitierten unter allen je zurückgezogenen Studien liegt sie auf Platz zwei.

Und Wakefield? Zeigte er Einsicht oder Reue? Keineswegs, im Gegenteil. Er beharrte auf seinen widerlegten Thesen und plumpen Manipulationen und stilisierte sich, wie in solchen Fällen häufig, zum Opfer eines bösartigen und übermächtigen Systems. Er beklagte sich, er werde bloß angefeindet, weil er die Sorgen der Mütter ernst nehme. Das zog. Viele Menschen sahen in ihm einen Helden und Märtyrer. Dann suchte er sich eine neue Wirkstätte: Er verließ England und ging in die USA.

In Texas startete er sein bis heute brummendes Geschäft: organisiertes Impfgegnertum in industriellem Maßstab. Er warb Spendengelder in Millionenhöhe von reichen Gönnern ein, darunter ausgerechnet Erben des Pharmakonzerns Johnson & Johnson. Er erhielt selbst eine Jahresgage von einer viertel Million Euro, um seine absurden Thesen zu verbreiten und zugleich Pseudotherapien gegen Autismus um Tausende Dollar zu propagieren. Wakefield war endgültig zum Quacksalber geworden, der fortan Vorträge in wallenden weißen Gewändern hielt. Es gelang, Schauspieler wie Jim Carrey einzuspannen, die öffentlich vor den Gefahren von Impfungen warnten. Wakefield heuchelte Mitgefühl für arme, impfgeschädigte Kinder. Zugleich gab es an Zynismus kaum zu überbietendes Merchandising: Slogans der Impfgegner zierten T-Shirts und Kaffeetassen. Bald wurde Texas zu einem Zentrum der Impfgegner, und in vielen Ländern der Welt häuften sich Masernausbrüche. Die einstige Hoffnung, die Masern ähnlich wie die Pocken ausrotten zu können, zerschlug sich in dieser Zeit.

Der nächste Turbo für Wakefields Umtriebe war Donald Trump. Der Präsident lud den Dissidentendoktor 2016 zur Feier seiner Amtsinauguration und bekundete Sympathien für die Ansicht, Impfungen lösten Autismus aus. Im selben Jahr lancierte Wakefield den Film „Vaxxed“: ein grauenvolles Machwerk über die Gefahren des Impfens, das vor Verschwörungstheorien strotzte. Als Kurator eines Filmfestivals kippte Robert de Niro den Film aus dem Programm – was freilich das beste Marketing war. 2017 sorgte dann die Beziehung zu Model Elle Macpherson für Schlagzeilen. Das Paar ließ sich braungebrannt fotografieren, Zeitungen druckten Bilder einer bewachten Villa in Florida. Wakefield war in der Welt der Reichen und Schönen angekommen.

Dann rollte die Coronaviruspandemie über die Welt. Es war ein wahres Geschenk für Profiteure von Fehlinformation, und prompt stand Wakefield in vorderster Reihe. Seine Auftritte wurden immer bizarrer, die Äußerungen immer noch extremer. Von einer „Plandemie“ sprach er und von Mikrochips, die per Impfung implantiert würden. Er behauptete, das Virus stamme aus dem Labor und sei mutwillig freigesetzt worden. Auch die Auslöschung der Menschheit prophezeite er – alles Behauptungen, die in den vergangenen Jahren in verschiedenen Absurditätsgraden durch die sozialen Medien geisterten. Es dürfte nicht nur so scheinen, als wäre Wakefield, der sich inzwischen wie ein Sektenführer benimmt, der Anführer einer Bewegung, die das Internet mit Unmengen an Unsinn flutet: In einer äußerst sehenswerten Dokumentation des TV-Senders Arte über Ursprünge und Strukturen der globalen Impfgegnerszene wurde kürzlich die Schätzung geäußert, drei Viertel aller Fake News zum Thema Corona ließen sich auf eine kleine Gruppe von etwa einem Dutzend Personen zurückführen, zu der auch Wakefield zählt.

Zwar ist es wohl ein aussichtsloses Unterfangen, all die Fehlinformation mit Fakten zu entkräften; und mit Sicherheit werden Impfgegner bis in alle Ewigkeit vor Autismus durch Impfungen warnen. Doch immerhin kann man sich ab und an vergegenwärtigen, worauf der ganze Spuk letztlich beruht: auf einer einzigen, fünf Seiten schmalen Studie, für die vor einem Viertel Jahrhundert Daten manipuliert wurden.

Alwin   Schönberger

Alwin Schönberger

Ressortleitung Wissenschaft