Der jüngste Detox-Bullshit: das Märchen von der Cortisol-Entgiftung
Man kann beinahe die Uhr danach stellen: Alle paar Monate peitscht das Influencer-Imperium einen neuen Gesundheitstrend durch Social Media. Die Zutaten sind praktisch immer gleich: ein Problem, das entweder gar nicht existiert oder irreführend aufgeblasen wird; begeistert vorgetragene Anekdoten über vermeintlich fantastische Blitzkuren, meist garniert mit Vorher-Nachher-Bildern; ausuferndes Marketing für weitgehend nutzlose Selbsttests und ebensolche Nahrungsergänzungsmittel.
Der jüngste Hype, der seit vergangenem Frühjahr vor allem auf Tiktok massiv getrommelt wird, der Internet-Müllhalde für medizinischen Bullshit aller Art, speist sich vornehmlich aus drei Begriffen: Cortisol-Face, Cortisol-Belly sowie Cortisol-Detox. Die Erzählung lautet: Der moderne Mensch leide häufig an einem kritischen Überschuss des Stresshormons Cortisol, was zu einer Reihe gesundheitlicher Konsequenzen führen könne: besonders zu einem aufgedunsenen Gesicht, dem Cortisol-Face, und zu hartnäckigen Fettablagerungen um die Taille (Cortisol-Belly).
Puffy? Aufgedunsten? Cortisol ist schuld!
Weiters werden gerne angeführt: Schwellungen und Rötungen der Haut, Akne, Müdigkeit und Haarausfall. „Puffy? Aufgedunsen? Augenringe? Müder Blick?“, fragt eine der Influencerinnen, deren medizinisches Fachwissen sich umgekehrt proportional zum Sendungsbewusstsein verhalten dürfte. Die Antwort folgt gleich anschließend: „Stresshormone wie Cortisol können ein sogenanntes Mondgesicht begünstigen.“
Was ist dran an der Behauptung, unser stressiger Alltag führe zu Fettpolstern speziell im Gesicht und um die Leibesmitte? Die kurze Antwort lautet: so gut wie nichts.
Für die längere Antwort sollte man kurz ausholen und erklären, was Cortisol überhaupt ist und welche Funktion es erfüllt.
Cortisol wird in der Nebenniere produziert und ist notwendig, damit wir unseren Alltag bewältigen können. Der Cortisol-Spiegel ist tagesabhängig und am Schlaf-Wach-Rhythmus beteiligt. Morgens, etwa eine halbe Stunde nach dem Aufstehen, wird besonders viel davon ausgeschüttet, um uns wach und fit für den Tag zu machen. Am Abend dagegen wird das Hormon heruntergefahren, um Nachruhe zu gewährleisten.
Dazwischen gibt es vorübergehende Spitzen. Denn wir brauchen Cortisol, um Herausforderungen bewältigen zu können, beispielsweise um genug Energie aufzubringen, wenn es gilt, eine Deadline einzuhalten. Cortisol wirkt in solchen Situationen mit, den Blutdruck er erhöhen, Energie in Form von Zucker bereitzustellen, den Stoffwechsel und das Immunsystem zu kontrollieren. Kurz: Ohne Cortisol würden wir recht antriebslos durchs Leben dödeln.
Der Kampf-oder-Flucht-Reflex
Im Grunde läuft dabei ein altes evolutionäres Programm ab, das dem Menschen die Existenz sicherte: Bei Gefahr aktivierte der Körper den Kampf-oder-Flucht-Modus: Mithilfe von Cortisol wechselte der Mensch flugs in Alarmbereitschaft und mobilisierte all seine Reserven – eine angemessene Stressreaktion konnte über Leben oder Tod entscheiden.
Stress, vermittelt durch das Hormon Cortisol, ist somit Teil des biologischen Basisprogramms der Spezies Homo sapiens, und davon kann oder muss man den Körper ebensowenig „entgiften“ wie von Speichelfluss oder Haarwuchs.
Allerdings: Stress kann fraglos zuviel und ungesund sein, nämlich dann, wenn die Reaktion nicht auf eine bestimmte Situation fokussiert bleibt und anschließend wieder abebbt, sondern zum Dauerzustand wird – sei es durch Mobbing, chronische Überforderung im Job, durch schwere Krankheit, Scheidung oder finanzielle Bedrängnis. Chronischer Stress kann dazu führen, dass der Cortisol-Spiegel übermäßig erhöht ist, und daraus können physische wie auch psychische Probleme resultieren: Beeinträchtigung der Schlafqualität ist eine typische Folgeerscheinung, aber tatsächlich auch negative Einflüsse auf die Appetitregulierung. Manche Menschen entwickeln unter Dauerstress Heißhunger auf kalorienreiches Essen, was, wenig überraschend, zu einer Gewichtszunahme führen kann.
Cortisol Face: eine Ausnahme bei schwerer Erkrankung
Die Vorstellung eines „Mondgesichts“ oder eines Cortisol Face ist aber ein Mythos. Es gibt keine Evidenz, dass ein Übermaß an Alltagsstress das Gesicht anschwellen lässt. Was die Medizin jedoch kennt, ist das sogenannte Cushing-Syndrom: Eine krankhafte Überproduktion von Cortisol kann dabei tatsächlich ein rundliches Gesicht, Hautveränderungen sowie einen erhöhten Anteil von Fett am Körperstamm bewirken. All die hippen Influencer hatten aber gewiss nicht das Cushing-Syndrom im Sinn (oder missbrauchten die Symptome dieser gravierenden Erkrankung für ihre Zwecke): Denn es ist äußerst selten und betrifft zwei bis fünf Personen pro Million. Österreichweit läge die Patientenzahl damit, statistisch betrachtet, bei unter 50.
Sonst ist die Idee eines Cortisol Face aber schlicht ein Märchen – ebenso wie die Annahme, man könne durch bestimmte Maßnahmen eine gezielte Gewichtsabnahme an einzelnen Körperstellen erreichen. Doch genau das ist das Versprechen in vielen Videos auf Social Media: Da wird etwa empfohlen, das Gesicht mit Eisbädern zu traktieren, oder auf Kaffee vor dem Frühstück zu verzichten. Und natürlich werden Nahrungsergänzungsmittel beworben, die das vermeintliche Problem schnell und ohne jede eigene Anstrengung lösen sollen.
Die Webshops der Versandhäuser und Internet-Apotheken sind entsprechend voll mit Präparaten, die eine „Cortisol Detox Diet“ oder „Cortisol Balamce“ verheißen, teils um wohlfeile 80 Euro pro Packung. Hinzu kommt eine Menge Ratgeberliteratur zum Thema Cortisol-Entgiftung. Zusätzlich kann man allerlei Selbsttests bestellen, mit denen man angeblich ermitteln kann, ob der Cortisol-Spiegel krankhaft erhöht ist.
Derlei Angebote haben bereits im Frühjahr die Deutsche Gesellschaft für Endokrinologie auf den Plan gerufen, die dringend vor solchen Selbsttests abrät, weil deren Aussagekraft, sehr höflich ausgedrückt, ziemlich fragwürdig sei.
Nützliche Ratschlage: praktikabel, aber banal
Nichtsdestotrotz wäre es natürlich erstrebenswert, gesundheitliche Folgen durch chronischen Stress zu vermeiden. Fairerweise muss man erwähnen, dass es aus dem Influencer-Universum teils auch passende Ratschläge dazu gibt, meist Resultat von Eigenexperimenten. Die Empfehlungen lauten: nach Möglichkeit lang andauernde Stressphasen vermeiden, für ausreichend erholsamen Schlaf sorgen, Bewegung an der frischen Luft, eine ausgewogene, reichhaltige Ernährung auf Basis frischer Zutaten statt fett- und zuckertriefendes Fertigfutter.
Ob es für diese durchschlagenden Erkenntnisse unbedingt unbedingt selbsternannte Tiktok-Experten braucht, darf allerdings doch ein wenig bezweifelt werden. Letztlich sei aber deren Existenzgrundlage nichts anderes als eine alte Masche in neuem Gewand, urteilte kürzlich das Internet-Magazin „The Conversation“: eine moderne Variante der klassischen Diät-Wunderkuren.