Hundetherapie: Wie sie wirkt und wie es den Tieren bei der Arbeit geht
Von Franziska Dzugan und Wolfgang Paterno
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Merlin nimmt seinen Job sehr ernst. Seine Therapiestunde auf der Onkologiestation des Landesklinikums Wiener Neustadt beginnt er wie immer mit einer Begrüßungsrunde.
Als Erste ist Elisabeth an der Reihe. Die 70-Jährige ist wegen einer Chemotherapie hier, aus ihrem linken Unterarm ragt eine Kanüle. In der rechten Hand hält sie eine Holzpinzette, mit der sie ein Leckerli aus einer Dose fischt. Das dient einerseits der Feinmotorik, andererseits dem Schutz der Finger – manche Patientinnen haben eine verletzliche, dünne Haut. Der zehn Jahre alte Mini Australian Shepherd sieht Elisabeth erwartungsvoll an, bis sie ihm den Happen reicht. Während er kaut, lässt er sich von ihr durchs seidig-bunte Fell streichen. Dann ist der Nächste dran.
Neben Elisabeth sitzen an diesem heißen Spätsommernachmittag drei weitere Patienten im Kreis. Die Jalousien im Aufenthaltsraum der Station sind fest geschlossen, der Getränkeautomat summt gegen die hohen Temperaturen an, an der Wand prangt ein Knopf für Notfälle. Doch daran denkt gerade niemand. Alle sind gebannt von Merlins quirliger Art und den Aufgaben, die seine Besitzerin Bettina Kager-Reich vom Verein „Tiere helfen Leben“ ihnen und dem Hund stellt. Redet sein Frauchen zu lang, dann bellt Merlin empört. Er fordert von allen die volle Aufmerksamkeit – und das ist wohl das Geheimnis seines Erfolgs.
Hunde tun kranken Menschen gut: Was Tierfreundinnen seit Langem vermuten, wird durch wissenschaftliche Studien sukzessive bestätigt. Sie muntern Patienten auf, lenken sie ab, zaubern ihnen ein Lächeln ins Gesicht. Aber kann Hundetherapie auch Schmerzen lindern? Hilft sie bei Ängsten, Schlafstörungen und Depressionen? Und wie geht es den Hunden bei der Arbeit? Sind sie gestresster als der gemeine Familienhund? Forscher der Veterinärmedizinischen Universität Wien beleuchten nun auch die Seite der Tiere.
Wie die Hunde wirken
Elisabeth hat zu Hause mehr als 20 Pferde und einen zugelaufenen Kater, der stets auf ihrem Kopfpolster schläft. Auf einem Unterarm hat sie den Namen ihres Lieblingshengsts tätowiert, auf dem anderen den ihrer im Frühling verstorbenen Hündin Emma. Dass sie mit Merlin eine Riesenfreude hat, ist demnach kaum verwunderlich. „Er ist ein Staubsauger wie meine Emma“, kommentiert sie Merlins Gabe, versteckte Leckerlis binnen Sekunden aufzustöbern und zu verschlingen. Doch auch die anderen Patienten genießen die Ablenkung vom Klinikalltag. „Das ist einmal etwas ganz anderes“, sagt der 31-jährige Daniel. Er musste schon viel Zeit seines Lebens in Spitälern verbringen. Er leidet an Hodenkrebs, der gerade mit einer Chemotherapie behandelt wird.
40 Minuten dauert die Hundetherapie. Einmal bekommt jeder reihum ein Tischset in die Hand gedrückt, rollt Futterhappen hinein und legt den „Strudel“ vor Merlin auf den Boden. Danach dürfen die Teilnehmer einen großen Schaumstoffwürfel werfen. Elisabeth würfelt eine Sechs, den Jackpot: Hundeführerin Bettina Kager-Reich dirigiert Merlin zu ihr und weist ihn an, Elisabeth mit der Pfote ein High five zu geben. Alle lachen, und als Merlin bei der Abschiedsrunde alle Leckerlis kassiert hat, will niemand aufstehen und gehen.
Dass Merlins Anwesenheit die Menschen zusammenbringt und aufheitert, ist offensichtlich. Aber ist der Erfolg einer Hundetherapie auch objektiv messbar? Durchaus, wie einige Studien zuletzt zeigten. Etwa jene der kanadischen Forscherin Coleen Dell von der Universität Saskatchewan. Vier Monate lang schickte sie sieben Therapiebegleithunde und ihre Besitzerinnen in eine Spitalsambulanz. Drei Tage die Woche waren die Hundeteams zwei bis drei Stunden lang anwesend, an den zwei restlichen Tagen nicht. 100 auf Behandlung wartende Patientinnen wurden von den Hunden besucht – und von Coleen Dells Team davor und danach ausgiebig befragt. Wie groß waren ihre Schmerzen vor und nach der Interaktion mit einem Hund? Wie groß war die Angst vor Krankheit und Schmerz? Wie deprimiert waren sie? Wie bewerteten die Patienten ihr allgemeines Wohlbefinden? Das Ergebnis: Schmerzen und Angst wurden signifikant schwächer wahrgenommen als vor dem Hundebesuch, Wohlbefinden und Stimmung waren besser. Die Kontrollgruppe, deren Befinden ohne Hundebesuch abgefragt wurde, konnte hingegen über keinerlei Besserung der Beschwerden berichten.
Das Fazit von Studienautorin Dell lautet: „Tiergestützte Interventionen haben nicht nur das Potenzial, das Wohlbefinden von Patienten im Spital zu verbessern, sie können auch bei der Schmerzbekämpfung helfen.“ Sie will nun weiter erforschen, warum die Hunde den Kranken und Verletzten derart guttun. Holen sie die Patientinnen einfach nur kurz aus der angespannten Situation? Rufen sie positive Erinnerungen an eigene Haustiere wach? Wahrscheinlich wirken die Tiere auch auf den Hormonhaushalt, konkret auf den Oxytocin-Spiegel. Dass dieser steigt und damit das Wohlbefinden fördert, wenn Hunde und ihre Besitzerinnen miteinander kuscheln, wurde bereits in zahlreichen Studien gezeigt.
„Merlins Anwesenheit verbindet, die Patienten reden mehr miteinander und knüpfen Kontakte.“
Birgit Grünberger, Ärztliche Leiterin der Onkologie im Landeskrankenhaus Wiener Neustadt
Welche Hunde geeignet sind
Seit sieben Jahren kommt Merlin alle zwei Wochen ins Wiener Neustädter Spital. „Er jault schon freudig, wenn er im Auto merkt, wohin wir fahren“, sagt Hundeführerin Bettina Kager-Reich, die als Pflegerin auf der Onkologie arbeitet. Er ist als Mini Australian Shepherd zwar nicht der typische Therapiehund wie etwa ein Labrador oder Golden Retriever, aber im Prinzip sind alle Rassen und Mischlinge für den Job geeignet. „Die Hunde müssen freudig auf Menschen zugehen. Den Rest kann man ihnen beibringen“, sagt Karl Weissenbacher, Leiter der Prüf- und Koordinierungsstelle Assistenzhunde und Therapiebegleithunde an der Veterinärmedizinischen Universität Wien. Auch Tierheimhunde ließen sich ausbilden, wenn sie gut sozialisiert wurden und einen gewissen Grundgehorsam aufweisen, wie kein Jagen, kein unkontrolliertes Springen und Fressen.
Etwa ein Jahr dauert die Ausbildung, die bei geprüften Vereinen wie „Tiere helfen Leben“ absolviert werden kann. Danach treten die Hunde zur Prüfung an der VetMed an. Sie müssen zu diesem Zeitpunkt mindestens zwei Jahre alt sein und in mindestens zwei sozialen Einrichtungen Erfahrungen gesammelt haben. So kann man gut herausfinden, wofür das Herz der Hunde schlägt: Manche blühen bei Kindergeschrei erst richtig auf, andere gehen lieber ins Seniorenheim, wieder andere arbeiten am liebsten mit körperlich beeinträchtigten Menschen. So lecken manche Hunde zum Beispiel intuitiv an einer spastisch verkrampften Hand und lösen sie schneller als jede Physiotherapeutin.
Nach der Prüfung zum anerkannten Therapiebegleithund müssen die Tiere einmal jährlich zum Check. „Österreich hat europaweit, wahrscheinlich sogar weltweit, die strengsten Auflagen für Therapiebegleit- und Assistenzhunde“, sagt der Wissenschafter Weissenbacher. Erstere dürfen nur zwei Einsätze pro Woche absolvieren, wobei einer nicht länger als 45 Minuten dauern darf. Hundetherapie soll kein Business sein und die Tiere nicht überfordern, so der Gedanke dahinter. Dabei sind Therapiebegleithunde nicht mit Assistenzhunden zu verwechseln, die ständig bei Menschen mit Beeinträchtigungen leben, wie zum Beispiel Blindenführhunde.
„Er jault schon freudig, wenn er im Auto merkt, wohin wir fahren.“
Hundeführerin und Pflegerin Bettina Kager-Reich
Aber wie geht es den Hunden bei der Arbeit?
Darüber wusste man bis vor Kurzem wenig. Das VetMed-Team um Karl Weissenbacher hat sich nun eingehend damit beschäftigt. Dazu maßen die Forschenden etwa die Stresslevel von 26 Hunden: Acht davon Familienhunde, neun Diabetes-Assistenzhunde und neun Assistenzhunde von Menschen mit Posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS). Weissenbacher bat die Besitzerinnen, ihren Hunden an sieben Tagen hintereinander morgens, zu Mittag und abends mit einem Wattebausch Speichel zu entnehmen, um später die Konzentration des Stresshormons Cortisol feststellen zu können. Sorge machten Weissenbacher vor allem die PTBS-Assistenzhunde, die für psychisch beeinträchtigte Menschen oft ein Puffer zur Außenwelt sind. So führen sie ihre Besitzer im Falle einer Panikattacke oder eines Flashbacks an einen ruhigen Ort, wecken sie aus Alpträumen auf, erinnern sie an ihre Medikamente und bringen das Handy, um in einer Krisensituation einen Hilferuf zu ermöglichen.
Wie bewältigen die Hunde diesen stressigen Alltag? „Das Ergebnis hat uns sehr erstaunt. Die PTBS-Assistenzhunde hatten deutlich niedrigere Cortisol-Spiegel als die Kontrollgruppen“, sagt Weissenbacher. Sie waren also weniger gestresst als Diabetes-Signalhunde, die wiederum weniger gestresst waren als die Familienhunde (siehe Grafik). Wie kann das sein? „Wir erklären uns das vor allem mit dem strukturierten, gut vorhersehbaren Tagesablauf, der sich sowohl auf die Hunde als auch auf die Besitzer positiv auswirkt“, so der Forscher. Außerdem hätten Assistenzhunde eine außerordentlich enge Bindung zu ihren Menschen.
Und wie gestresst sind Therapiebegleithunde wie Merlin? Auch dazu gibt es eine Untersuchung: Neun Diabetes-Signalhunde haben daran teilgenommen, acht Familien- sowie acht Therapiebegleithunde; auch von ihnen nahmen die Besitzerinnen eine Woche lang drei Mal täglich Speichelproben. Das Ergebnis: Die Stresslevel der drei Gruppen unterschieden sich kaum – auch kurz nach einer Therapiestunde zeigten die Hunde keine höheren Cortisolwerte als in normalen Stresssituationen.
Hygiene: die Keime der Hunde
Merlin läuft befreit im Raum herum, schnüffelt mal in die eine, dann in die andere Ecke. Seine 40-Minuten-Einheit ist beendet. Trotzdem sitzen die Patienten, Pflegerinnen und Primarärztin Birgit Grünberger noch beisammen. „Merlins Anwesenheit verbindet, die Patienten reden mehr miteinander und knüpfen Kontakte“, sagt Grünberger. Auch für das Betreuungsteam sei Merlins Anwesenheit ein Highlight. Als sie vor einigen Jahren nach Wiener Neustadt kam, um die Leitung der Onkologie zu übernehmen, hatte Pflegerin Bettina Kager-Reich gerade die Idee geboren, ihren frisch ausgebildeten Hund zur Therapie mitzubringen. Obwohl alle auf der Station dafür waren, dauerte es sechs Monate, bis alle bürokratischen Hürden aus dem Weg geräumt waren.
Hygiene spielte dabei klarerweise eine große Rolle. Deshalb geht Merlin auch nicht von Zimmer zu Zimmer; im Aufenthaltsraum kommen nur jene Patienten zusammen, die fit genug sind und keine Allergien haben. „Danach wird der Raum noch gründlicher geputzt und desinfiziert als sonst“, sagt Stationsleiterin Astrid Soffried.
Welche Keime die Hunde mit sich tragen, und wie sehr sie sich von jenen der menschlichen Besucherinnen und Besucher unterscheiden, ist Teil einer gerade anlaufenden Studie an der VetMed. Immerhin: Im Juli 2023 wurde die österreichische Hygieneordnung geändert, seither können Assistenzhunde mit ihren Besitzerinnen ins Behandlungszimmer, beispielsweise zu einer Blutabnahme. In Ausnahmefällen dürfen Therapiehunde auch auf Intensivstationen. „Da überwiegt die psychische Komponente das Infektionsrisiko“, so Weissenbacher.
Im Spital in Wiener Neustadt leert sich der Aufenthaltsraum dann doch irgendwann, Merlin macht sich bereit für den Heimweg. Dort darf er mit Frauchen Bettina Kager-Reich dann noch allein in einem Raum entspannen, bevor sich die beiden ins Familienleben stürzen. „Auch wenn ihm die Arbeit Spaß macht, so braucht er doch Zeit, um herunterzukommen“, sagt sie. Je älter er wird, desto anstrengender ist es für ihn. Darum hat der zehnjährige Rüde sein Geschirr mit der Aufschrift „Therapiehund“ heute auch zum letzten Mal getragen; nach einem Jahr im Pflegeheim und sieben Jahren auf der Onkologie geht Merlin in die wohlverdiente Pension.
Auf Hundebesuch müssen die Krebspatientinnen in Wiener Neustadt trotzdem nicht verzichten: Merlins Nachfolger Max, ein fünfjähriger Portugiesischer Wasserhund, wird seinen Dienst am Dienstag in zwei Wochen übernehmen.
Franziska Dzugan
schreibt für das Wissenschaftsressort und ist Moderatorin von tauwetter, dem profil-Podcast zur Klimakrise.
Wolfgang Paterno
ist seit 2005 profil-Redakteur.