Merle Streitberger, Biologin und Landschaftsökologin

Ist das Insektensterben noch zu stoppen?

Wahrscheinlich schon, sagt die Landschaftsökologin Merle Streitberger – und erklärt, wie das zu schaffen ist.

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profil: Ich stelle mir eine Insektenforscherin so vor, dass sie mit einem Schmetterlingsnetz bewaffnet über blühende Wiesen schreitet. Ist das eine zu romantische Idee von Ihrem Alltag?
Streitberger: Ein bisschen. Natürlich sind wir häufig in den Hotspots unterwegs, also in besonders artenreichen Lebensräumen. Hier bekommt man sehr viel zu sehen, was besonders spannend ist. Anders sieht es 
in intensiv genutzten Lebensräumen aus, wenn nur noch wenige Arten vorkommen. Dennoch ist es wichtig, auch solche Gebiete zu untersuchen. Denn mittlerweile werden nicht nur die besonders seltenen, sondern auch viele häufige Arten immer weniger. 

Merle Streitberger, 37, ist Biologin und Landschaftsökologin an der Universität Osnabrück. Sie ist Co-Autorin des bisher umfassendsten Fachbuchs zum Insektensterben in unseren Breiten.

profil: Warum sind Insekten überhaupt wichtig? Man könnte auch sagen: Je weniger einen an einem Sommerabend umschwirren, desto besser.
Streitberger: Viele Wildbienen, Schmetterlinge und Schwebfliegen sind essenziell für die Bestäubung von Pflanzen, darunter viele Nutzpflanzen. Darüber hinaus spielen Insekten eine große Rolle bei der Schädlingsbekämpfung. Glühwürmchenlarven verspeisen zum Beispiel Nacktschnecken, Marienkäfer ernähren sich von Blattläusen. Und: Aus der Nahrungskette vieler Vögel und Säugetiere sind Insekten nicht wegzudenken.

profil: Es wird immer wieder vor Ernährungsengpässen gewarnt, weil die Bestäuber fehlen. Nur: Bisher ist davon nichts zu spüren, oder?
Streitberger: In Europa gab es bisher höchstens vereinzelt Regionen, die Probleme 
haben. In den USA muss man sich aber bereits häufig mit Mietbienen helfen. Dort fahren die Imker mit Tausenden Bienenstöcken zu den blühenden Kulturen. Hinzu kommt, dass man in den USA die monetäre Leistung von Wildbienen deutlich unterschätzt hat. Ein Forscherteam bezifferte sie kürzlich in einer Studie mit 1,5 Milliarden Dollar pro Jahr, jene der Honigbienen mit 6,4 Milliarden – wobei hier der Großteil auf die Mandelernte entfiel. Für Äpfel, Kürbisse, Kirschen und viele andere Pflanzen sind Wildbienen wichtiger. Das sollten wir uns auch in Europa zu Herzen nehmen.

In den USA muss man sich aber bereits häufig mit Mietbienen helfen."

Merle Streitberger

profil: Es wird immer wieder vor Ernährungsengpässen gewarnt, weil die Bestäuber fehlen. Nur: Bisher ist davon nichts zu spüren, oder?
Streitberger: In Europa gab es bisher höchstens vereinzelt Regionen, die Probleme haben. In den USA muss man sich aber bereits häufig mit Mietbienen helfen. Dort fahren die Imker mit Tausenden Bienenstöcken zu den blühenden Kulturen. Hinzu kommt, dass man in den USA die monetäre Leistung von Wildbienen deutlich unterschätzt hat. Ein Forscherteam bezifferte sie kürzlich in einer Studie mit 1,5 Milliarden Dollar pro Jahr, jene der Honigbienen mit 6,4 Milliarden – wobei hier der Großteil auf die Mandelernte entfiel. Für Äpfel, Kürbisse, Kirschen und viele andere Pflanzen sind Wildbienen wichtiger. Das sollten wir uns auch in Europa zu Herzen nehmen.

profil: Welche Aufgaben haben lästige Insekten wie Gelsen im Ökosystem?
Streitberger: Mücken sind als Larven in Gewässern und ausgewachsen an Land eine bedeutende Nahrungsquelle, unter anderem für Fische, Amphibien, Vögel oder andere Insekten.

profil: Vor einigen Jahren gab es große Aufregung um die Studie von Krefeld, der zufolge zwischen 1989 und 2016 in Deutschland 77 Prozent der Insekten verschwunden sind. Es gab auch Kritik an der Machart der Studie. Ist der Prozentsatz zu hoch gegriffen?
Streitberger: Das lässt sich schwer sagen, weil es wenig vergleichbare Analysen gibt. In einer jüngeren Studie, bei der man verschiedene Langzeituntersuchungen zu Insekten ausgewertet hat, wurden bei den an Land lebenden Insekten etwas geringere Rückgänge nachgewiesen. Die Autorinnen und Autoren sprechen von etwa zehn Prozent pro Dekade.

profil: Was sind die größten Probleme der Insekten?
Streitberger: Das Hauptproblem ist der stetige Lebensraumverlust durch immer neue Siedlungsflächen einerseits und durch die Intensivierung der Landwirtschaft andererseits. Im 19. Jahrhundert gab es noch überall extensive Landwirtschaft, das heißt: wenig Tiere auf der Weide, Waldweiden und Magerwiesen, die nur ein bis zwei Mal im Jahr gemäht wurden, und kaum Düngung. Im Lauf des 20. Jahrhunderts wurde die Landwirtschaft immer intensiver. Heute gibt es in West- und Mitteleuropa die für viele Insekten idealen Flächen nur noch extrem vereinzelt.

Viele Insektenarten sind von bestimmten Pflanzen abhängig."

Merle Streitberger

profil: Warum passen Insekten und intensive Landwirtschaft nicht zusammen?
Streitberger: Da gibt es eine ganze Palette an Problemen. Insektizide sind eines davon, aber auch Herbizide spielen eine verheerende Rolle. Viele Insektenarten sind von bestimmten Pflanzen abhängig. Wenn diese als Unkraut vernichtet werden, fehlen auch die zugehörigen Insekten. Hinzu kommt, dass viele Insekten Lebensräume mit wenig Bewuchs bräuchten. Wildbienen und gefährdete Schmetterlinge nisten häufig in offenen Bodenstellen. Durch das viele Düngen in der Landwirtschaft und den zusätzlichen Stickstoffeintrag aus der Luft, der durch intensive Landwirtschaft, den Verkehr und die Industrie gefördert wird, haben wir mittlerweile ein Überangebot an Nährstoffen in der Landschaft insgesamt. Wenige Pflanzenarten profitieren davon und verdrängen die meisten anderen. Deshalb gibt es vor allem im Grünland und auf Äckern viel mehr Biomasse als früher. Gleichzeitig ist die Vegetation artenärmer.

profil: Das Insektensterben läuft schon länger als 100 Jahre, mit zunehmender Geschwindigkeit. Lässt es sich überhaupt noch stoppen oder gar umkehren?
Streitberger: Es lässt sich noch stoppen oder zumindest reduzieren – aber nur mit Maßnahmen, die zeitnah und weiträumig umgesetzt werden. Das Gegenteil ist aktuell der Fall: Die Siedlungs- und Verkehrsflächen nehmen stetig zu. Die Landwirtschaft wird immer noch weiter intensiviert, etwa durch die gestiegene Produktion von Energiepflanzen. Die Landschaft wird weiter ausgeräumt, indem zum Beispiel Rückzugsorte wie Hecken entfernt werden, weil die Bearbeitung großer Felder einfacher ist. Dabei wären Feldsäume, Hecken, Brachen und Blühstreifen mit heimischen Pflanzenarten eine relativ einfache und sehr effektive Maßnahme für den Insektenschutz.

Man hätte die Agrarförderungen viel stärker an echte Biodiversitätsmaßnahmen knüpfen können."

Merle Streitberger

profil: Die heuer für die nächsten sechs Jahre beschlossene Gemeinsame Agrarpolitik der EU (GAP) hat das nicht berücksichtigt?
Streitberger: Hier wurde leider eine große Chance auf Veränderung vertan. Denn man hätte die Agrarförderungen viel stärker an echte Biodiversitätsmaßnahmen knüpfen können. Für die Insekten wird es in den nächsten sechs Jahren nicht substanziell besser werden.

profil: Welchen Einfluss hat der Klimawandel?
Streitberger: Manche Arten profitieren vom Klimawandel, insbesondere jene, die an Wärme angepasst und mobil sind. Das trifft zum Beispiel auf einige Libellen oder Heuschreckenarten zu. Die großen Verlierer sind die Spezialisten, die bestimmte Habitate oder Pflanzen brauchen. Besonders bei den Gebirgsarten erwarten wir weitere Rückgänge, da es für sie nur sehr begrenzte Möglichkeiten gibt, auf den Klimawandel zu reagieren-etwa durch Rückzug in höhere und kühlere Lagen. Insgesamt macht der Klimawandel die Situation für die Insekten nicht besser. Auch wenn sich manche anpassen könnten, indem sie auf andere Habitate ausweichen, liegen diese oft zu weit auseinander. Die Schaffung eines Biotopverbunds mit Wanderkorridoren wäre eine wichtige Schutzmaßnahme.

profil: Gibt es solche Biotopverbunde bereits?
Streitberger: Höchstens im regionalen Bereich. EU-weit gibt es das Fauna-Flora-Habitat-Netzwerk, das zum Erhalt von bedeutenden Lebensräumen beiträgt. Aber diese sind nicht eng genug vernetzt. Außerdem ist das Management der einzelnen Lebensräume oft unzureichend.

profil: Wenn es heißer wird und die Felder unwirtlicher, können sich die Insekten dann in den Wald retten?
Streitberger: Nein. Im Wald kommen andere Pflanzenarten vor als im Offenland. Insektenarten des Offenlandes können daher oft wenig mit dem Wald anfangen. Zudem sind die Wälder heute so dunkel, wie sie es seit Jahrhunderten nicht waren. Der Grund ist die einseitige Förderung von Hochwald zur Holzgewinnung. Früher gab es hauptsächlich Nieder- und Mittelwälder, die in Zyklen von zehn bis 40 Jahren für Brennholz geschlagen wurden. Diese Wälder waren heller und daher wärmer, kleiner strukturiert und boten somit auf kleinstem Raum viele verschiedene Habitate. Dies hat im Wald viele wärmeliebende Insektenarten gefördert, die heute gefährdet sind.

profil: Wer gehört zu den am meisten gefährdeten Insekten in unseren Breiten?
Streitberger: Ein Beispiel ist der Apollofalter, ein sehr markanter Schmetterling, der heute kaum noch zu finden ist. Besonders eindrücklich sind auch die Rückgänge beim ehemals weit verbreiteten Mittleren Perlmutterfalter und beim Goldenen Scheckenfalter. Ebenfalls sehr stark bedroht sind der Kiesbank-Grashüpfer oder die Mohn-Mauerbiene. Insgesamt sind es sehr viele. In Deutschland kommen zum Beispiel etwa 33.000 Insektenarten vor, von denen mehrere Tausend Arten gefährdet oder sogar ausgestorben sind.

profil: Welche Rolle spielen eingeschleppte Pflanzen- und Tierarten?
Streitberger: Deren Bedeutung für den Rückgang der Insekten ist sehr komplex und deshalb noch nicht eindeutig geklärt. Es gibt einzelne Beispiele wie den Asiatischen Marienkäfer, der unter anderem durch Verdrängung und Übertragung neuer Parasiten einheimische Marienkäfer immens dezimiert hat.

profil: Sowohl Landwirte als auch Gartenbesitzerinnen mähen viel zu oft, Erstere mindestens fünf Mal im Jahr, Letztere manchmal wöchentlich. Was wären denn ideale Mähintervalle?
Streitberger: Nur ein- bis zweimal pro Jahr. So haben viele Pflanzenarten die Möglichkeit, Samen zu bilden und sich zu vermehren.

Es wäre schon viel geschafft, wenn alle Gemeinden die Hälfte ihrer Grünflächen seltener mähen."

Merle Streitberger

profil: Damit werden aber die Stallhaltung von Rindern und ein grüner Rasen im Garten obsolet. Wäre das nicht zu viel Opfer für die Insekten?
Streitberger: Man müsste das Mähen ja nicht überall extensivieren. Es wäre schon viel geschafft, wenn alle Gemeinden die Hälfte ihrer Grünflächen seltener mähen. Und wenn die Bauern mehr Blühstreifen und Rotationsbrachen anlegen. Insekten können zudem durch eine mosaikartige Mahd gefördert werden, wenn also nicht alles gleichzeitig, sondern einzelne Parzellen zeitversetzt gemäht werden. Auf diese Weise bleiben Rückzugsräume für Insekten erhalten.

profil: In den letzten Jahren wurden in den Gärten unzählige Insektenhotels aufgehängt, viele Blumenwiesen ausgesät. Wie sehr hilft das?
Streitberger: Das ist ein erster Schritt. Wichtig ist, dass heimische Pflanzenarten für die Anlage von Blumenwiesen und Blühstreifen verwendet werden, nur so können die Insekten auch etwas damit anfangen. Für Wildbienen sind zum Beispiel die Wiesenflockenblume, verschiedene Distel- und Kleearten sowie der Natternkopf eine gute Nahrungsquelle. Viele Zierpflanzen haben hingegen keine Bedeutung für Insekten. Wenn Insektenhotels gut gemacht sind, können sie durchaus für einige Arten nützlich sein. Der Großteil der Wildbienen nistet aber im Boden, Insektenhotels sind für sie also keine Option.

profil: Können die Wildbienen mit dem Humus im Blumenbeet etwas anfangen?
Streitberger: Nein. Bodennistende Wildbienen bevorzugen mineralische Bodensubstrate wie Sand oder Löss. Es gibt mittlerweile viele Ratgeber, wie sich Nistmöglichkeiten im Garten schaffen lassen.

profil: Der französische Gelehrte Jean-Henri Fabre beschrieb den Kampf eines Laufkäfers mit einem Maikäfer einmal so: "Der Riese wird umgeworfen, und der andere zernagt und zerwühlt ihm den Unterleib. Wenn dies in einer höherstehenden Welt geschähe, bekäme man eine Gänsehaut beim Anblick des Laufkäfers, der halb in den dicken Maikäfer eintaucht und ihm die Eingeweide herausreißt." Braucht man als Insektenforscherin einen starken Magen?
Streitberger: In der Natur passieren viele Dinge, die wir Menschen als grausam empfinden. Hier kommt es darauf an, den Blickwinkel zu ändern. Jedes Lebewesen ist daran beteiligt, Ökosysteme im Gleichgewicht zu halten.

profil: Im Burgenland wurde vor Kurzem eine völlig neue Käferart entdeckt. Wie viele unbekannte Insekten werden in Europa noch vermutet- und wie oft hat man als Forscherin das Glück, eine zu finden?
Streitberger: Bei gut untersuchten Artengruppen wie beispielsweise Tagfaltern oder Heuschrecken sind in Mitteleuropa alle Arten bekannt. Anders sieht es bei den hochdiversen Artengruppen wie zum Beispiel den Zweiflüglern aus, die zum Teil schwer unterscheidbar sind. Mithilfe genetischer Analysemethoden werden vor allem bei diesen Gruppen viele neue Arten entdeckt.

Franziska   Dzugan

Franziska Dzugan

schreibt für das Wissenschaftsressort und ist Moderatorin von tauwetter, dem profil-Podcast zur Klimakrise.