Auf dem größten Rütteltisch der Welt, „E-Defense“ in Japan, werden Häuser getestet. Als ultimative Belastungsprobe wird das verheerende Beben von Kōbe im Jahr 1995 simuliert .
Wissenschaft

Keine Trümmer mehr: Wie man erdbebensicher baut

Ein Massensterben wie beim Erdbeben in der Türkei wäre vermeidbar. Die Wissenschaft hat viele Rezepte gegen einstürzende Häuser.

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In der Stadt Antakya ist kaum ein Stein auf dem anderen geblieben. Doch das Museum Hotel ragt unversehrt aus den Ruinen seiner Nachbarschaft. Der moderne Bau aus braunem Stahl hat das Beben der Stärke 7,6 schadlos überstanden, berichtet Direktorin Ayşe Ersoy erleichtert. Sie und ihre Mitarbeiter waren nach den Erdstößen als Erstes in den Keller des Luxushotels gerannt, denn dort verbergen sich unermessliche Schätze: das mit 1000 Quadratmetern größte antike Mosaik der Welt, eine Amor-Statue aus Marmor, die Ruinen eines Römerbades. Es sind Artefakte aus der prächtigen Metropole des römischen Imperiums, die Antakya einst war. Beim Ausheben der Baugrube waren sie zum Vorschein gekommen, der Architekt Emre Arolat hatte das Hotel mit großem Aufwand darum herum gebaut. Sorgsam hatten die Arbeiter für jede der 66 Stahlsäulen das Erdreich per Hand ausgegraben, um keines der Kunstwerke zu beschädigen.

Wie durch ein Wunder war nichts passiert: Das Mosaik lag da wie zuvor. „Man sieht noch die Falten, die ein Beben zwischen 500 und 600 nach Christus aufgeworfen hat. In der aktuellen Katastrophe blieb das Mosaik aber beständig“, sagt Direktorin Ersoy der Tageszeitung „Hürryet“. Es war ein seltener Glücksmoment inmitten der totalen Zerstörung.

Das Beben des 6. Februar hat Antakya als Trümmerfeld hinterlassen. Keine andere Stadt wurde durch das Erdbeben derart zerstört. Insgesamt kamen in der Region im Süden der Türkei mehr als 57.000 Menschen ums Leben, mehr als zwei Millionen Menschen wurden obdachlos.

Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat die Katastrophe im Wahlkampf schwer unter Druck gebracht. Das Massensterben hätte zum Großteil verhindert werden können. Seit 2001 gelten strenge Bauvorschriften, die Erdbebensicherheit garantieren sollten. Die Hälfte der eingestürzten Gebäude war nach der Einführung der neuen Regeln entstanden, hätten den Erschütterungen also trotzen sollen. Die Vorwürfe an die Politik wiegen schwer: Pfusch am Bau, schlechte Ausbildung des Personals, Korruption. All das wurde konsequent ignoriert – trotz eindringlicher Warnungen aus der Architektenkammer. Die Baubranche bringe Erdoğans Partei AKP eine Menge Parteispenden ein, weshalb dieser die offensichtlichen Mängel im System nie angepackt habe, so die Kritik.

„In den letzten 20 Jahren wurden die Bauinspektionen in private Hände gelegt. Das sollte die Genehmigungsverfahren vereinfachen, was zu Beginn auch fruchtete. Dann aber wurden die Schlupflöcher immer öfter ausgenutzt“, sagt Ece Ceylan Baba, die Dekanin der Fakultät für Architektur an der Istanbuler Yeditepe-Universität, im Interview mit profil. Es wurden massenhaft Häuser durchgewunken, die den gesetzlichen Standards nicht entsprachen – und die im Februar schließlich kollabierten.

Wie aber baut man erdbebensicher in Hotspots wie Italien, Chile oder Kalifornien? Wie trotzt der Wolkenkratzer Taipei 101 den regelmäßigen Erschütterungen in Taiwan? Wie konnten steirische Holzhäuser das bebengeplagte Japan erobern? Und wie kann der Wiederaufbau in der Türkei gelingen?

Auf die Ecken kommt es an

„Das Wichtigste ist der Grundriss eines Gebäudes“, sagt Konrad Bergmeister vom Institut für konstruktiven Ingenieursbau an der Universität für Bodenkultur (BOKU). Er erklärt das anhand einer Schuhschachtel. Sind deren Wände und die Decke stabil und gut miteinander verbunden, schwingt die Schachtel nach einem Stoß von unten oder von der Seite wieder zurück in ihre Ausgangsposition. Sind die Ecken eingerissen, kann heftiges Rütteln Decke und Wände zum Einsturz bringen. Die sogenannten Knotenpunkte, also die Verbindungen zwischen Wand und Decke, sind essenziell. Darauf wurde in der Türkei wohl zu wenig geachtet, weil es oft schnell und billig gehen muss und zu wenig nachkontrolliert wird. Werden etwa Fertigteildecken aus Beton nicht konstruktiv mit den Wänden verbunden, werden sie bei einem Beben zur tödlichen Gefahr.

„Dabei kostet es gar nicht viel, es richtig zu machen“, sagt Carmen Sandhaas. Sie ist Bauingenieurin am Karlsruher Institut für Technologie und unterrichtet angehende Architektinnen und Ingenieure. Manchmal gehe es um simple Details, etwa einen Stahlwinkel mehr pro Ecke zu montieren. Es scheitere nicht immer nur am Geld, sondern oft auch am Wissen, sagt Sandhaas.

Im Fall des Museum Hotels in Antakya wirkten die vielen Stahlsäulen und ihre Querverbindungen wie ein Korsett, das die dazwischenliegenden Hotelräume zusammenhielt. Ganz ähnlich werden Wolkenkratzer in den USA gebaut. Stahl ist in der richtigen Beschaffenheit flexibel und kann Erdstöße abfedern. Diagonal eingebaute Stahlstreben leiten die Kraft des Erdbebens in alle Richtungen ab, das Haus bleibt stehen. Das Problem: Wer sparen will, nimmt Stahl, der nur zwei Prozent Duktilität besitzt und nicht die vorgeschriebenen fünf oder zehn Prozent. Duktilität heißt, dass ein Material sich bis zu einem gewissen Prozentsatz seiner Länge verformen lässt, ohne zu reißen, und nach der Belastung wieder in den Ausgangszustand zurückfindet.

Ein massiver Betonkern kann ein Gebäude ebenfalls stabilisieren. In Chile zum Beispiel setzen Ingenieur:innen auf Liftschächte oder Treppenhäuser aus dicken, durchgehend betonierten Wänden. Die Strategie ging auf, als die Erde 2010 in der Küstenregion Maule, 180 Kilometer südlich der Hauptstadt Santiago, erzitterte. Trotz der enormen Stärke von 8,8 auf der Richterskala blieben die meisten Gebäude stehen. Knapp 600 Menschen starben, einige davon allerdings durch den folgenden Tsunami.

Mängel im Beton wurden hingegen vielen Menschen in der Türkei zum Verhängnis: Ein Team der Architektenkammer fand nach dem Beben im Februar eiergroße Steine und sogenannte Sandinseln im Beton der kollabierten Häuser. Derart geschwächt, konnte das Material den Stößen unmöglich trotzen.

Steirisches Holzhaus auf dem japanischen Rütteltisch

Im erdbebengeplagten Japan stand 2015 eine für das Land neue Bauart auf dem Prüfstand: die Holzmassivbauweise. Gerhard Schickhofer vom Institut für Holzbau an der TU Graz war damals eingeladen worden, bei der Prüfung eines mehrgeschossigen Holzhauses auf einem der größten Rütteltische der Welt dabei zu sein. Dieser Erdbebenprüfstand kann Gebäude dreidimensional durchschütteln, wie es auch Erdstöße tun. Erstmals wurde ein Gebäude nach der federführend von der TU Graz entwickelten Bauweise getestet – allerdings mit japanischer Zeder anstatt der europäischen Fichte. Die Forscherinnen und Forscher simulierten das Beben von Kōbe 1995, das als eines der stärksten des 20. Jahrhunderts gilt. Weil die heftigen Bewegungen dem Gebäude nichts anhaben konnten, gingen die Wissenschafter einen Schritt weiter. Sie setzten das Haus der 1,4-fachen Stärke des Kōbe-Bebens aus. Ergebnis: „Die Konstruktion hielt stand. Die Überraschung war groß“, erzählt Schickhofer.

Die Folge: Die Holzmassivbauweise wurde danach als erdbebensicher eingestuft, die staatlichen Baunormen angepasst. „Mittlerweile baut man in Japan Schulen, Büros und Wohngebäude mit diesem Material, ebenso wie in Österreich“, sagt der Grazer. Er widmet sich seit 30 Jahren Konstruktionen aus sogenanntem Brettsperrholz, das aus kreuzweise verklebten Brettern besteht. Es eignet sich ideal für den erdbebensicheren Fertigteilbau.

Wie sicher sind eigentlich die Häuser in Österreich? „Das Land verfügt über weltweit führende Richtlinien beim Erdbebenschutz“, sagt Bergmeister. Diese werden auch streng kontrolliert. Ausgelegt sind die Gebäude auf Beben der Stärke sechs auf der Richterskala – mit heftigeren Erschütterungen ist in Österreich nicht zu rechnen. Auch die Gründerzeithäuser in Wien halten solchen Beben stand, sagt der Experte. Im Ernstfall könnten höchstens Risse entstehen. Niemand müsse hierzulande Angst haben, dass ihm die Decke auf den Kopf fällt.

Wolkenkratzer mit Gegenpendel

200 Meter trennen das Fundament des Wolkenkratzers Taipei 101 von der Bruchlinie zweier Kontinentalplatten. Täglich wird die Hauptstadt Taiwans, in deren Mitte der riesige Turm steht, von Beben erschüttert. Damit nicht genug: Über Taipeh fegen regelmäßig Supertaifune mit Windstärken über 240 Kilometer pro Stunde hinweg. „So schwierige Bedingungen findet man nirgends sonst auf der Welt“, sagte der zuständige Statiker Shaw Shieh kurz vor der Fertigstellung 2003. Der Turm sei „der Traum eines jeden Ingenieurs“.

Damit das 508 Meter hohe Gebäude für die Menschen in seinem Inneren nicht eines Tages zum Alptraum wird, hat Shaw Shieh vorgesorgt: Ein goldenes Pendel sorgt für Stabilität. Die an dicken Stahlseilen hängende, vergoldete Stahlkugel wiegt 660 Tonnen und ist mit seinem Durchmesser von fünf Metern der größte Schwingungstilger der Welt. Ihre Aufgabe: Beginnt der Turm zu schwanken, schlägt auch das Pendel aus – allerdings, durch seine Trägheit gebremst, in die entgegengesetzte Richtung. Es befindet sich weit oben im Turm, zwischen dem 88. und dem 92. der insgesamt 101 Stockwerke, denn dort sind auch die Schwingungen am höchsten.

Die riesige Kugel ist eine Touristenattraktion, die man von mehreren Glasbalkonen aus bewundern kann. Der Taipei 101 war gut besucht, als am 18. September 2022 um 14:44 Uhr die Erde stärker bebte als üblich: 6,9 auf der Richterskala. Im zehnthöchsten Turm der Welt entstand aber nicht etwa eine Massenpanik. Die Touristinnen und Touristen liefen stattdessen staunend zum goldenen Pendel und zückten ihre Handys.

Die Aufnahmen sind, verglichen mit anderen Videos von Beben dieser Stärke, geradezu langweilig. Die Stahlkugel schwang gemächlich von einer Seite zur anderen, während quietschende Stoßdämpfer sie abbremsten. Diese sind an der Unterseite befestigt und verhindern, dass das Pendel weiter schwingt als 1,5 Meter. Nach wenigen Sekunden war der Spuk vorbei. Keine wackelnden Wände, keine umstürzenden Regale und keine Menschen, die verzweifelt unter Tische kriechen.

Auf Erdbebenwellen reiten

„The Big One“ ist ein Ereignis, das alle Kalifornierinnen und Kalifornier fürchten. Seit Langem warnen Seismologen vor einem überfälligen Megabeben entlang der San-Andreas-Verwerfung, die sich längs durch den US-Bundesstaat zieht. Eine Strategie, sich darauf vorzubereiten, ist die sogenannte „seismische Isolation“. Das Rathaus von Los Angeles mit seinen 32 Stockwerken ist das größte Gebäude weltweit, das Erdbebenwellen quasi reiten kann. Das Art-déco-Haus aus den 1920er-Jahren wurde nachträglich untergraben und auf 526 Füße aus Stahl und Gummi gestellt. Sie federn vertikale Stöße ab, erlauben aber horizontale Bewegungen. Sie mindern die Wucht von Erdstößen um 30 Prozent, die Los Angeles City Hall ist damit für ein Beben der Stärke 8,1 gerüstet.

Ein Gebäude nachträglich auf Gummifüße zu stellen, können sich nicht alle leisten. Doch alte Gemäuer lassen sich auch billiger nachrüsten: etwa indem man einzelne Ziegelmauern durch Betonmauern ersetzt, die deutlich stabiler sind. Ziegeldecken kann man mit einer dünnen Betonschicht verstärken. Auch Stahlrahmen und -lamellen können Wände nachträglich stützen und alte Häuser sicher machen.

Eine neuere Methode, die sich bereits auf dem Rütteltisch bewährt hat, sind Kunststofffasern. Damit können Bauteile von einem Altbau mit einem flexiblen Netz verstärkt werden, sodass die Mauern im Ernstfall nicht ausbrechen. Jeder Maurer kann das Geflecht aus Fasern – ganzflächig oder diagonal – auf das Tragwerk eines Hauses auftragen.

Etwa fünf Millimeter messen die Verstärkungsfasern und der Zusatzputz. Experte Bergmeister hat sie schon oft verbaut: „Glasfasernetze sind billig und flexibel. Kohlenstofffasern halten noch viel mehr aus, aber sie sind teurer. Damit kann man Stützen und Wände verstärken.“ Umweltfreundlicher seien Fasern aus Basaltgestein. „Diese werden derzeit an der Universität für Bodenkultur erforscht“, sagt Bergmeister.

Antakya soll nicht L’Aquila werden

Zusätzliche Betonwände und Stahlstreben hätten in L’Aquila viele Menschenleben gerettet. Am 6. April 2009 um 3:32 Uhr erzitterte die Erde unter der italienischen Kleinstadt nördlich von Rom – und machte das historische Zentrum dem Erdboden gleich. 308 Menschen starben, 67.000 wurden in der Region Abruzzen obdachlos.

Als sich die deutsche Diplomingenieurin Susanne Reichle und der Bauhistoriker Sebastian Storz wenige Tage später den Weg durch die Trümmer bahnten, sahen sie in den Ruinen noch Geschirr und Essen auf manchen Tischen stehen, die Wäsche an den Leinen hängen. Die beiden leiten in Dresden das Forum für Baukultur e. V. und hatten von einem Münchner Mäzen eine Spende von 80.000 Euro bekommen, um beim Wiederaufbau zu helfen.

Nachdem die italienische Regierung unter Silvio Berlusconi Ausländern aber jede Bautätigkeit untersagt hatte, entwickelten sie mit italienischen Kolleginnen und Kollegen die Idee vom Museum für Architektur und Kunst (MusAA). Die Menschen sollten ein Bewusstsein von der eigenen, jahrhundertealten Bautradition bekommen. „Nur wenn sie wissen, wie sehr die ortstypische Architektur lebendige Nachbarschaft und hohe Lebensqualität fördert, könnten sie sich gegen Spekulanten und fehlgeleitete Politiker wehren“, sagt Sebastian Storz. Wenige Jahre lang lief alles gut, dann sorgte die italienische Präsidentin von MuSAA mit geschickten Manövern für das Ausscheiden der Dresdner Gründungsmitglieder. „Kurz darauf war das ursprüngliche Vorhaben Geschichte“, sagt Susanne Reichle.

Tatsächlich gleicht L’Aquila heute, 14 Jahre nach dem Beben, immer noch einer Großbaustelle. Viele Bewohner:innen sind abgewandert, die meisten anderen leben noch in den eilig hochgezogenen, leblosen Satellitensiedlungen außerhalb des Zentrums.

In Antakya könnte es ähnlich laufen, befürchten viele. Architektin Ece Ceylan Baba will das unbedingt verhindern. Sie leitet eine ehrenamtliche Initiative namens „Ortak Akıl – Antakya“, auf Deutsch „gesunder Menschenverstand“, die einen Masterplan für die zerstörte Stadt entwickeln will. Unter den Mitgliedern sind führende türkische Architekten, Städteplanerinnen, Archäologen, Soziologinnen und nicht zuletzt Einwohnerinnen aus Antakya. Die Kirchen sollen wieder entstehen, eine Synagoge, Plätze und Parks. „Wir können aber ein multikulturelles Zentrum wie Antakya nicht einfach auf dem Reißbrett planen. Wir müssen die Identität der Stadt wiederherstellen, indem wir die Bevölkerung maßgeblich einbinden“, sagt Ece Ceylan Baba. Das Leben müsse zurückkehren nach Antakya. Wenn alles klappt, könne die Stadt ein Vorbild werden für Regionen, die ähnlich verwüstet wurden.

Derzeit erheben Architekturstudenten die Schäden und werten die Pläne Antakyas vor der Katastrophe aus. Dann kann mit der Planung begonnen werden. Eines hat beim Wiederaufbau jedenfalls oberste Priorität: Ausnahmslos alle neuen Bauten müssen erdbebensicher sein.