Der Unterseevulkan Hunga Tonga spie riesige Mengen Wasserdampf in die Stratosphäre.
Wissenschaft

Klimakrise: 2023 dürfte das heißeste Jahr aller Zeiten werden

Ist es nur ein Ausreißer – oder befinden wir uns bereits an einem Punkt, an dem das Klima kippen könnte?

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Der 15. Jänner 2022 wird die Welt noch Jahre beschäftigen. Damals brach vor dem Inselreich Tonga mitten im Pazifik die Hölle los: Der Untersee-Vulkan Hunga Tonga-Hunga Ha’apai explodierte und spie eine Wolke bis in 57 Kilometer Höhe – es war die höchste jemals gemessene Eruptionssäule. Darauf folgte eine gewaltige Druckwelle. Mit mehr als 1150 Kilometern pro Stunde umrundete sie die Erde mindestens viermal in die eine und dreimal in die andere Richtung. Riesige Tsunamis peitschten über das Archipel Tonga, während sogenannte Eruptionsgewitter den Himmel verdunkelten, den in den drei folgenden Tagen nicht weniger als 590.000 Blitze durchzuckten. Dass bei dem gewaltigen Ausbruch weniger als zehn Menschen starben, grenzt an ein Wunder. Die Tsunami-Warnungen retteten viele, und die meisten Hotels an den Stränden standen wegen der Pandemie leer.

So schrecklich die Katastrophe für die Menschen auf Tonga war, für das Klima hätte sie auch Gutes verheißen können. Die meisten Vulkane katapultieren vor allem Schwefeldioxid in hohe Luftschichten, dessen Aerosol-Partikel das Sonnenlicht streuen und die Erde für einige Zeit abkühlen. Doch in den Monaten nach der Eruption wurde klar, dass hier das Gegenteil der Fall war: Der Hunga Tonga hatte nur 0,42 Megatonnen Schwefeldioxid in die Stratosphäre geschleudert – dafür aber 146 Megatonnen Wasserdampf. Damit dürfte sich der Wasserdampfgehalt der Stratosphäre um mindestens zehn Prozent erhöht haben. Das Problem: Wasserdampf in dieser Höhe reflektiert die aufsteigende Wärme zurück auf die Erde, damit wirkt er wie eine wärmende Hülle. Der Ausbruch des Hunga Tonga ist also mitverantwortlich dafür, dass heuer weltweit Temperaturrekorde gebrochen werden. Und: Der Tonga-Effekt wird noch einige Jahre anhalten.

Die hohen Temperaturen waren auch in Österreich deutlich spürbar: Der September war hierzulande der heißeste der Messgeschichte und übertraf den Höchststand aus dem Jahr 1810 um mehr als drei Grad. Einiges deutet darauf hin, dass auch der Winter ungewöhnlich warm werden wird. Das warme Mittelmeer verursachte im Sommer extreme Niederschläge in Griechenland und eine verheerende Flut in Libyen.

Seit Monaten mehren sich nun die Anzeichen, dass die globale Durchschnittstemperatur die 1,5 Grad–Marke noch heuer – oder spätestens nächstes Jahr – durchbrechen wird. Damit schoss die Temperaturkurve sogar über die Worst-case-Szenarien des Weltklimarats hinaus (siehe Grafik links). Was sind die Gründe neben dem Hunga Tonga-Ausbruch? Welche Rolle spielen natürliche Phänomene wie El Nino, was ist auf den menschlichen Einfluss zurückzuführen? Und befinden wir uns gar auf einem der berüchtigten Kipppunkte, die das Klimasystem völlig verändern könnten?

Fünf Gründe für das Ausnahmejahr 2023

Die Klimakrise ist heuer spürbar wie nie. Tornados in den USA, Fluten in Libyen und Griechenland, Hitzewellen in Europa, China und Südostasien. Südamerika stöhnt aktuell unter einer rekordverdächtigen Dürre: Sowohl dem Amazonas in Brasilien als auch dem Titicacasee in den Anden geht das Wasser aus. Die Klimaforschung hat für diese Extreme bisher fünf Ursachen ausgemacht: Erstens wächst der weltweite Treibhausgas-Ausstoß ungezügelt weiter und treibt damit die vom Menschen verursachte Erderhitzung weiter voran. Zweitens fällt das alle vier bis sieben Jahre auftretende Wetterphänomen El Niño diesmal besonders stark aus. Es sorgt in Teilen Asiens, Afrikas und Amerikas sowohl für Dürren als auch für Fluten; um die Weihnachtszeit wird El Niño seinen Höhepunkt erreichen. Zudem stellte ein Innsbrucker Geologen-Team zuletzt fest, dass der Klimawandel auch El Niño beeinflussen dürfte. Die dritte, natürliche Triebfeder für das Hitzejahr 2023 sind die Folgen des eingangs beschriebenen Vulkanausbruchs.

Viertens sind die Passatwinde heuer ungewöhnlich schwach. Weil sie dadurch weniger Saharastaub in Richtung Atlantik wehen, treffen mehr Sonnenstrahlen auf die Wasseroberfläche, die sich viel zu sehr erwärmt. Der heiße, trockene Herbst und ein voraussichtlich sehr milder Winter in Europa gehören zu den Folgen. Was die Passatwinde schwächeln lässt, gibt der Klimaforschung noch Rätsel auf. Der fünfte Grund für das ungewöhnliche Jahr ist eigentlich ein erfreulicher: Die Internationale Seeschifffahrts-Organisation (IMO) beschloss vor gut zwei Jahren, dass die Luftqualität über den Meeren besser werden müsse. Dafür setzte sie den Grenzwert für Schwefel herab, den Schiffskraftstoffe enthalten dürfen. Das Unterfangen wurde ein Erfolg: Über den Ozeanen befinden sich nun weniger Partikel in der Atmosphäre, die Luft ist deutlich reiner. Das Problem ist ähnlich wie beim fehlenden Sahara-Staub; mehr Sonnenlicht dringt durch die Atmosphäre auf das Wasser, die Meere erwärmen sich.

Weltweit zerbrechen sich Klimawissenschafterinnen den Kopf, ob sie vielleicht noch einen weiteren Grund für die aktuelle Wärmeperiode übersehen haben. Kandidaten dafür wären zum Beispiel bestimmte Meeresströmungen oder die Wolken in den Subtropen – der Einfluss der beider Phänomene auf das Klima ist noch nicht ausreichend entschlüsselt.

Viel zu früh geknackt: die 1,5-Grad-Marke

Seit dem Klimaabkommen von Paris 2015 gibt es eine magische Grenze. Die Durchschnittstemperatur der Erde solle nicht um mehr als 1,5 Grad gegenüber der vorindustriellen Zeit steigen, beschlossen die Regierungen von 195 Staaten und der EU damals. Das Problem: Heuer schoss die Temperaturkurve sogar über die Worst-case-Szenarien des Weltklimarats hinaus. Haben wir damit das Pariser Ziel bereits verfehlt? Nein, beruhigt Klaus Haslinger, Leiter der Abteilung Klimasystem und Klimafolgen der Geosphere Austria (vormals ZAMG). „Die Temperaturkurve flackert einmal nach oben, dann wieder nach unten. In Paris wurde eine 1,5 Grad-Erwärmung als Mittelwert über eine 30-jährige Periode hinweg festgelegt.“

Könnten wir aber am Anfang einer solchen Periode stehen – oder ist 2023 nur ein Ausreißer? Die Antwort darauf muss vertagt werden: „Das wird sich erst in den nächsten Jahren zeigen“, sagt Haslinger. Man dürfe neben den Folgen der menschengemachten Klimakrise die natürlichen Schwankungen nicht vergessen. Sie können die Erderhitzung befeuern – oder auch bremsen. So gab es in den 1940er- und 1950er-Jahren eine natürliche Wärmeperiode, in den 1980er-Jahren folgte eine weitgehende Abkühlung.

Die natürlichen Perioden ändern freilich nichts daran, dass der Mensch die Erderhitzung durch den Ausstoß von Treibhausgasen ungebremst vorantreibt. Dem EU–Klimawandeldienst Copernicus zufolge waren die Jahre seit 2015 die bislang heißesten überhaupt. Und während die Welt nun an der 1,5 Grad-Marke kratzt, sind die Durchschnittstemperaturen in Europa längst über die zwei Grad hinaus. Dies hänge mit der Lage des Kontinents zusammen, erklärt die Copernicus-Vizedirektorin Samantha Burgess. „Die europäische Region besteht vor allem aus Landmassen. Über dem Land geht die Erwärmung weltweit schneller voran als über den Meeren. Außerdem gibt es viele Rückkopplungen zwischen der Arktis, die sich noch schneller erwärmt, und der europäischen Region.“

Kipppunkt Amazonas-Regenwald

Anfang Oktober gingen schockierende Bilder des Amazonas um die Welt. Wo sich früher der breite Fluss durch üppiges Grün wälzte, sah man nur noch bleiche, rissige Erde und im Schlamm verendete Fische. Amazonien wird aktuell von der schlimmsten Dürre der vergangenen 40 Jahre heimgesucht. Besserung ist nicht in Sicht: Die Regenzeit dürfte sich laut Vorhersagen verzögern, die Wasserkrise zumindest bis zum Ende des Jahres andauern.

Der Regenwald des Amazonas gilt als eines der Kippelemente im Klimasystem. Laut Definition des Weltklimarats IPCC ist ein Kipppunkt „eine kritische Grenze, jenseits derer ein System sich umorganisiert, oft abrupt und/oder unumkehrbar“. Wie bei einer Tasse, die man langsam über die Tischkante hinausschiebt. Lange passiert nichts, dann fällt sie. Ist es im Amazonas bereits so weit? Da sich der Niederschlag über dem Amazonas hauptsächlich aus dem Regenwald selbst speist, könnte die Dürre theoretisch der Anfang einer Negativspirale sein, an deren Ende sich die Tropen in eine Savanne verwandeln würden. Aber: „Es ist zu früh, um festzustellen, ob hier ein Kipppunkt erreicht wurde“, sagt der Wiener Klimatologe Klaus Haslinger. Von einem einzelnen Jahr auf eine Tendenz zu schließen, sei voreilig.

Die ursprüngliche Theorie, dass Kipp-Elemente wie der Regenwald im Amazonas schlagartig versteppen und dabei andere Teile der Welt mitreißen, wurde in der Klimaforschung mittlerweile relativiert. „Laut einer aktuellen Studie haben die meisten zurzeit diskutierten Kippelemente nicht das Potenzial, das Klima abrupt, innerhalb nur weniger Jahre, zu ändern. Bei den Kipp-Elementen mit der vermutlich größten Wirkung auf die menschliche Gesellschaft – den schmelzenden Inlandeismassen in Grönland und der Antarktis – dauert das Kippen eher Jahrhunderte oder Jahrtausende“, sagte Martin Claußen vom Max-Planck-Institut für Meteorologie in Hamburg kürzlich. „Manche der vermuteten Kippelemente – wie das arktische Sommer-Meereis – zeigen kein Kippverhalten, sondern folgen direkt der globalen Erwärmung und gehen bei einem Rückgang der Erwärmung wieder in ihren gegenwärtigen Zustand zurück.“

Diese Erkenntnisse sind ein Grund mehr, um jedes Zehntelgrad weniger zu kämpfen.

Franziska   Dzugan

Franziska Dzugan

schreibt für das Wissenschaftsressort und ist Moderatorin von tauwetter, dem profil-Podcast zur Klimakrise.