Tod in Istanbul: Wie das Giftgas Aluminiumphosphid wirkt
Die Todesfälle sorgten weltweit für Entsetzen: Zwischen 13. und 17. November starben vier Mitglieder einer Hamburger Familie, die in Istanbul Urlaub gemacht hatte. Das Ehepaar und die beiden Kinder im Alter von drei und sechs Jahren hatten in einem Hotel im zentralen Stadtteil Fatih gewohnt.
Plötzlich litten die vier Deutschen an diffusen Symptomen, die zunächst auf eine Lebensmittelvergiftung hindeuteten. Doch als sich der Zustand rapide verschlechterte und die Erkrankten letztlich verstarben, ergab sich eine andere Vermutung, die zwar noch nicht endgültig bestätigt ist, aber als wahrscheinlichste Ursache für die dramatischen Todesfälle gilt: eine Vergiftung mit dem Schädlingsbekämpfungsmittel Aluminiumphosphid.
Eines der tödlichsten Giftgase
Worum es sich bei der Substanz handelt und warum sie extrem gefährlich ist, erklärten nun verschiedene Fachmedien, darunter das Medizinportal Medscape und das Wissenschaftsjournal „Spektrum der Wissenschaft“. Den Darstellungen zufolge zählt Aluminiumphosphid zu den für den Menschen tödlichsten existierenden Giftgasen. Es gibt kein Gegenmittel. Und die ersten Symptome – Übelkeit, Erbrechen, Durchfall, grippeähnliche Beschwerden – sind so unspezifisch, dass das Risiko für Fehldiagnosen hoch ist, wobei wertvolle Zeit verstreicht.
Mittlerweile sind auch andere Fälle bekannt, in denen eine Vergiftung mit der Chemikalie wahrscheinlich erscheint, beispielsweise der Tod einer 21-jährigen Studentin aus Lüneburg vor ziemlich exakt einem Jahr, ebenfalls in Istanbul. Weitere ähnliche Fälle sind unter anderem aus Bali überliefert.
Bettwanzen-Fahndung
Ein Schädlingsbekämpfer untersucht Matratzen auf den Befall mit Bettwanzen.
Aluminiumphosphid ist ein Schädlingsbekämpfungsmittel mit einem speziellen Wirkmechanismus: Es ist zunächst nicht flüssig oder gasförmig, sondern liegt in fester Form vor, meist als eine Art graue, bräunliche oder grünliche Tablette, von der noch keine Gefahr ausgeht. Erst bei Kontakt mit Luftfeuchtigkeit findet eine chemische Reaktion statt: Dabei entsteht als Zersetzungprodukt das Gas Phosphin – und dieses ist hochgiftig, für Insekten ebenso wie für Säugetiere und damit auch den Menschen.
Phosphin greift über Enzyme – speziell das Enzym Cytochrom-C-Oxidase – in den Stoffwechsel der Mitochondrien ein, der Kraftwerke unserer Körperzellen. Gleichzeitig vermindert es die Sauerstoffaufnahme in den Zellen. Und drittens kommt es vermehrt zur Produktion sogenannter Sauerstoffradikale, die ihrerseits die Zellen schädigen. In Summe bricht die Energie- und Sauerstoffversorgung der Körperzellen zusammen, die Folge sind massive Schädigungen von Organen bis hin zum Multiorganversagen. Welcher der verschiedenen Wirkpfade letztlich für die fatalen gesundheitlichen Konsequenzen verantwortlich ist, ist nicht ganz klar.
Die Medizin kann dagegen jedenfalls wenig unternehmen: Sie kann allenfalls, sofern die Vergiftung rechtzeitig erkannt wird, die Körperfunktionen stabilisieren, ein Gegenmittel existiert hingegen nicht.
Strengste Sicherheitsvorkehrungen
Im Logistik- und Agrarbereich ist Aluminiumphosphid ein bewährtes Mittel, um Schädlingsbefall durch Insekten oder auch Ratten unnd Wühlmäuse zu bekämpfen. Mit dem Giftgas behandelte Gebäude – etwa Silos, Frachtcontainer oder Lagerhallen – werden allerdings unter strengsten Sicherheitsvorkehrungen abgeriegelt und isoliert, bevor das Mittel unter Einwirkung der Luftfeuchtigkeit in den Räumlichkeiten seine Wirkung entfaltet.
Zunächst verteilt sich das Gas in der Luft, kriecht dabei in Spalten und Ritzen und tötet Insekten. Weil es schwerer als Luft ist, sinkt es anschließend zu Boden und vernichtet auch Nagetiere. Nach erfolgtem Einsatz müssen die Gebäude gründlich belüftet werden – dann wird die Chemikalie zur Gänze und rückstandsfrei eliminiert, und auch auf Körnern oder anderen Ausgangsstoffen für Lebensmittel bleibt nichts davon zurück.
Eine Maus inmitten von Nahrungsmitteln
Das hochgiftige Gas sinkt zu Boden und bekämpft folglich auch Nagetiere.
Allerdings: In Hotels hat Aluminiumphosphid definitiv nichts verloren. In Ländern wie Österreich und Deutschland wäre ein Einsatz zu diesem Zweck undenkbar, doch in anderen Weltgegenden nimmt man es offenbar nicht immer so genau und verwendet das Zellgift, um vor allem Bettwanzen loszuwerden – die in dicht besiedelten Gegenden zunehmend wieder zum Problem werden. Tagsüber verkriechen sich die Wanzen tief im Inneren von Hohlräumen in Gebäuden, nachts, wenn Menschen schlafen, kommen sie aus ihren Verstecken hervor und saugen Blut. Über die Zeit haben sich die Blutsauger perfekt an den humanen Rhythmus angepasst.
Weil sich die Plage mit herkömmlichen Sprays oder anderen Mitteln oft schwer beherrschen lässt und zudem immer öfter Resistenzen gegenüber Insektiziden auftreten, greift man mancherorts zur Radikalkur mit Aluminiumphosphid: Das Gas erreicht selbst winzige Hohlräume, hat aber leider auch den Nachteil, über Lüftungsschächte oder ähnliche Verbindungen in andere Zimmer eines Gebäudes zu diffundieren und somit auch Räume zu erreichen, die gar nicht damit behandelt wurden.
Eine Herausforderung für Einsatzkräfte
Genau das, so der momentane Verdacht, könnte in Istanbul geschehen sein. Und auch der tragische Vorfall im November des Vorjahres könnte ähnlich verlaufen sein: Die Studentin wohnte im zweiten Stock eines Hotels in Istanbul, das Geschoß darunter soll gegen Bettwanzen behandelt worden sein.
Wie gefährlich die Substanz ist und wie ernst Fachleute Kontaminationen damit nehmen, zeigt auch ein Vorfall vom Dezember 2014: Damals verunfallte ein Sattelzug bei Göttingen, der 80 Fässer mit Aluminiumphosphid geladen hatte. Ein Großaufgebot an Einsatzkräften war mit der Schadensbehebung befasst und deckte den Unfallort mit Planen ab, damit nicht Regen die Giftstoffe durch Feuchtigkeit aktivieren konnte. Die im Umfeld wohnenden Menschen waren strikt angehalten, alle Fenster geschlossen zu halten. Erst nach 44 Stunden Dauereinsatz konnte Entwarnung gegeben werden.