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Todesfalle Krankenhaus: Gefährdet steigender Spardruck die Notfallmedizin?

Titelgeschichte. Todesfalle Krankenhaus: Gefährdet steigender Spardruck die Notfallmedizin?

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Am 3. Jänner wollte der 62-jährige Wiener Harald L. seinen alten Fernseher in den Keller tragen. Er hatte zu Weihnachten ein neues Flachbildgerät bekommen und der klobige Vorgänger sollte endlich entsorgt werden. Plötzlich fühlte er einen stechenden Schmerz in der Brust, und das Atmen fiel ihm schwer. Als die Symptome nicht abklangen, bestand seine Frau darauf, den Notarzt zu rufen. Dieser hatte sofort den Verdacht auf ein sogenanntes rupturiertes Aortenaneurysma – eine lebensbedrohliche Diagnose. Harald L. wurde um 22.15 Uhr an diesem Freitag in die Notfallambulanz des Allgemeinen Krankenhaues Wien gebracht. Klinikleiter Anton Laggner kann sich genau an den Fall erinnern: „Die Gattin des Patienten ist Krankenschwester, die hier arbeitet, und sie wollte, dass ihr Mann zu uns gebracht wird. Alle Mitarbeiter haben ihr Möglichstes gegeben.“

Doch kaum war der Krankenwagen mit Herrn L. eingetroffen, erhielt die Abteilung eine schlimme Nachricht: Der einzige Gefäßchirurg, der die Notoperation hätte durchführen können, war zum Zweck einer Organentnahme in Amstetten. profil liegt ein Gedächtnisprotokoll der diensthabenden Oberärztin vor, das belegt, wie verzweifelt sie nach einem verfügbaren Gefäßchirurgen suchte.

Erstes Telefonat um 22.18 Uhr, der Professor war „nicht erreichbar, keine Nachricht möglich“.

Zweiter Anruf um 22.20 Uhr, Arzt „erreicht, ist aber derzeit in München“.

Dritter Versuch 22.24 Uhr: „Nicht erreicht, Nachricht hinterlassen und SMS.“

Nummer vier, 22.27 Uhr: „Nachricht per SMS geschickt.“

Dann, um 22.29 Uhr: „Erreicht, kann nicht kommen (Kind).“

Schließlich, 22.31 Uhr: „Nicht erreicht, Nachricht hinterlassen.“

Im AKH, Österreichs größtem Spital, einer Klinik von Weltrang, war es nicht möglich, einen einzigen Mediziner aufzutreiben, der die Notoperation hätte durchführen können.

Schließlich rief die diensthabende Oberärztin den Chef der Chirurgie an, Ferdinand Mühlbacher, der zwar kein Gefäßexperte ist, jedoch für diesen Notfall ins AKH gekommen wäre. Allerdings: Er hätte erst anreisen müssen, weshalb beschlossen wurde, den Patienten ins Wiener Wilhelminenspital zu verlegen. Weitere lebenswichtige Minuten verstrichen, bis Harald L. um 23.20 Uhr abgeholt wurde.

Laggner sagt: „Er war leider alles andere als stabil, aber wir sahen keine andere Möglichkeit.“

Dass ein Patient in akuter Lebensgefahr im größten Krankenhaus Österreichs nicht versorgt werden kann, war tagelang Hauptgesprächsthema im AKH.

Ein Anästhesist erklärt: „Die Überlebenschance bei so einem Fall ist ohnehin gering. Es zählt jede Minute. Einen solchen Patienten noch weiter zu transferieren, kommt eigentlich einem Todesurteil gleich.“ Wie durch ein Wunder überlebte Harald L. den Transport, verstarb jedoch einige Tage später.

Noch schockierender ist nur noch die Tatsache, dass es sich nicht um ein tragisches Einzelschicksal handelte. Laut Chefchirurg Mühlbacher kommt es aufgrund der hohen Auslastung „mindestens zwei Mal pro Woche zu solch unglücklichen Konstellationen“. Auch die Akutfälle, die untertags eintreffen, könnten oft erst in der Nacht operiert werden, so Mühlbacher. „Neulich mussten wir sieben Operationen in die Nacht verschieben.“

Von chronischer Überlastung berichtet auch der Chirurg Andreas Salat: „Kürzlich operierte ein Kollege im Tagdienst zehn Stunden durch und war danach völlig am Ende. Zum Glück hatte er keinen Nachtdienst.“ Während früher die Chirurgie in der Nacht zu 80 Prozent ausgelastet war und Ruhepausen eingelegt werden konnten, würden die Kapazitäten nun völlig ausgereizt. Engpässe seien da vorprogrammiert.

profil liegen weitere Fälle und Arztberichte vor, die ein dramatisches Bild der österreichischen Notfallversorgung zeichnen – wobei das Wiener AKH am stärksten betroffen scheint. Eine mögliche Ursache benennt eine Studie des Österreichischen Bundesinstituts für Gesundheit. Demnach wird der Bedarf an Medizinern bis zum Jahr 2030 um 16 Prozent steigen. Die optimistischste Prognose geht davon aus, dass bis dahin bundesweit 3300 Arztstellen unbesetzt bleiben. Die pessimistischere Schätzung geht von 7700 fehlenden Ärzten bereits nach einer großen Pensionierungswelle im Jahr 2020 aus. Für junge Ärzte sei ein Arbeitsplatz in Österreich nicht mehr attraktiv genug, viele würden bereits ihren Turnus im Ausland machen. Vor allem auf den Westen Österreichs treffe dies zu, wie Ärztekammerpräsident Artur Wechselberger erklärt: „Viele wandern in die Schweiz oder nach Deutschland ab, da sie dort mehr verdienen.“ Doch bereits jetzt zeichnet sich in manchen medizinischen Bereichen ein eklatanter Ressourcenmangel ab. Die Wiener Berufsrettung sucht seit Längerem 20 Notärzte, das Landeskrankenhaus Feldkirch nach Unfallchirurgen. Die Kinder- und Jugendpsychiatrie wurde ohnehin bereits zum Mangelfach erklärt.

Was das Wiener AKH betrifft, führte eine Verkettung von strukturellen Änderungen zu der prekären aktuellen Situation ...

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Bild: Philipp Horak für profil