Mehr als die Hälfte der Bevölkerung betroffen
Wie aber erklären sich diese Zusammenhänge? Wie entsteht überhaupt eine Parodontitis, früher Parodontose genannt? Und wie viele Personen sind davon betroffen? „Im Schnitt leiden mehr als die Hälfte der Bevölkerung an parodontalen Erkrankungen“, sagt Michael Müller, der an der Wiener Universitätszahnklinik auf den Fachbereich Zahnerhaltung und Parodontologie spezialisiert und Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Parodontologie ist. Daten der MedUni Wien zufolge zeigen bereits unter den 18- bis 34-Jährigen mehr als ein Drittel Anzeichen von Parodontitis, bei Personen jenseits der 65 leiden bis zu 80 Prozent darunter, begleitet von Zahnfleischrückgang, Blutungen, gelockerten Zähnen und Zahnverlust.
Am Beginn steht immer eine bakterielle Infektion. Galt früher die Annahme, dass Keime in der Mundhöhle als potenzielle Schädlinge generell unerwünscht sind, hat sich das Bild allerdings gewandelt: Eine reiche Mikrobenwelt, das sogenannte Mikrobiom, wurde als symbiotische Gemeinschaft erkannt, die einträchtig mit dem Menschen koexistiert und seiner Gesundheit nützt – auf der Haut genauso wie im Darm und im Mund. Daher ist es wenig sinnvoll, den Mund und seine winzigen Bewohner regelmäßig mit antibakteriellen Spülungen zu traktieren.
Bakterien aus dem Gleichgewicht
Allerdings: Die Balance des Mikrobioms kann aus dem Tritt geraten, etwa durch Ernährungsgewohnheiten, mangelhafte Zahnpflege oder Faktoren, die noch nicht verstanden sind. Nehmen bestimmte Bakterienarten überhand – etwa ein Dutzend Spezies steht derzeit unter Verdacht, darunter Porphyromonas gingivalis, Treponema denticola und Tannerella forsythia –, kann eine Entzündung die Folge sein. Normalerweise ist unser Immunsystem fit genug, um gegen eine solche in Aktion zu treten. Ein Problem entsteht, wenn eine akute Entzündung chronisch wird. Dafür kann es verschiedenste Gründe geben: Genetische Faktoren spielen ebenso eine Rolle wie die individuelle Immunantwort und die Mikrobenkomposition einer konkreten Person.
Köchelt die Entzündung – oft lange unbemerkt – weiter vor sich hin, werden Zahnbett und Zahnhalteapparat angegriffen: Zahnfleisch, Teile des Kiefers sowie Strukturen wie Wurzelhaut und der sogenannte Wurzelzement nehmen Schaden, es kommt zu Schwellungen und mitunter zu Blutungen des Zahnfleischs, zwischen Zahnfleisch und den Wurzeloberflächen entstehen Vertiefungen. Diese Zahnfleischtaschen sollten nicht mehr als drei bis vier Millimeter messen, erklärt Anton Sculean. Die Sondierungstiefe kann im Rahmen einer parodontalen Grunduntersuchung ermittelt werden.
In Österreich wird dies nicht von den Kassen gedeckt, was ziemlich irritierend ist: Derart ließen sich nicht nur Indizien für Parodontitis und das daraus resultierende Risiko für Zahnverlust ausfindig machen, sondern auch eine mögliche Quelle für zahlreiche Erkrankungen des gesamten Körpers.
Denn sind die Zahnfleischtaschen zu tief, sammeln sich darin Bakterien: besonders gramnegative Spezies, die in sauerstoffarmem Milieu blendend gedeihen. Aus dem Entzündungsherd im Mund, der laut Michael Müller die Dimension einer Handfläche annehmen kann, können die Bakterien in die Blutbahn gelangen und sich im Körper verteilen. „Daher können chronische Entzündungsprozesse im Mund den gesamten Organismus beeinflussen“, sagt Sculean.
Fluten Bakterien die Blutbahn, rufen Stoffe wie Lipopolysaccharide, die die Mikroben produzieren, das Immunsystem auf den Plan. Immunzellen, darunter die Makrophagen, kurbeln die Freisetzung von Botenstoffen wie Zytokinen an – Substanzen, die eine starke Entzündungsreaktion hervorrufen. Gleichzeitig wird das Zahnfleisch, um Immunzellen den Weg zum Ort des Geschehens zu erleichtern, durchlässiger – mit der Folge, dass auch mehr Bakterien in den Körper einwandern können.
Immunsystem im Alarmzustand
Kurz: Eine anhaltende bakterielle Entzündung kann über die Blutbahn starke und dauerhafte negative Auswirkungen im gesamten Körper auslösen – und sogar im Gehirn, wie Studien zeigen: Von Porphyromonas gingivalis weiß man, dass der Keim die Blut-Hirn-Schranke überwindet und dass seine Giftstoffe das Nervensystem schädigen können. Forschende konnten inzwischen nachweisen, dass das Bakterium nicht nur Entzündungen vorantreibt, sondern auch die Bildung von Eiweißstoffen fördert, die bei der Entstehung von Alzheimer zentral sind.
Bei vielen anderen Krankheiten gibt es ebenfalls die Gemeinsamkeit, dass sie von entzündlichen Prozessen beeinflusst werden. Das gilt auch für Herz-Kreislauf-Krankheiten. Ein Zusammenhang zur Parodontitis war Medizinern zunächst deshalb in den Sinn gekommen, weil viele Herzkranke auffallend schlechte Zähne hatten. Studien zeigten später, dass Menschen mit Parodontitis ein signifikant erhöhtes Risiko für Herz- und Gefäßleiden sowie Schlaganfälle hatten.
Heute sind auch plausible Mechanismen bekannt: Ein Grundübel von Herz-Kreislauf-Krankheiten sind Ablagerungen in den Gefäßen, die atherosklerotischen Plaques. In solchen Plaques konnten neben anderen Bakterien mittlerweile auch exakt jene Keime nachgewiesen werden, die für Parodontitis ebenfalls typisch sind. Aus der Mundhöhle gelangten die Bakterien offenbar bis in die Blutgefäße. Der Keim Porphyromonas gingivalis kann sogar Immunzellen kapern, die ihn eigentlich vernichten sollten. Von ihnen lässt er sich bequem bis in die Blutgefäße transportieren.
Immunzellen als Taxi in die Blutgefäße
Weniger eindeutig sind ursächliche Zusammenhänge zwischen Mundgesundheit und rheumatoider Arthritis. Bereits seit Langem belegen Studien, dass beide Krankheiten häufig gleichzeitig auftreten, ein plausibler Wirkmechanismus fehlt aber noch. Vermutlich ist zentral, dass beide Krankheitsbilder durch unkontrolliertes entzündliches Geschehen getrieben sind: ausgehend vom Mund bei Parodontitis, durch ein überschießendes, fehlgeleitetes Immunsystem bei rheumatoider Arthritis, einer Autoimmunerkrankung. Relevant könnte sein, dass das Immunsystem bei rheumatoider Arthritis speziell veränderte Eiweißstoffe in den Gelenken attackiert – und Porphyromonas gingivalis genau solche Modifikationen bei diesen Proteinen begünstigt.
Dennoch: Vorerst handelt es sich um Korrelationen, also das zeitgleiche Auftreten zweier Faktoren, deren ursächliche Verknüpfung nicht hinlänglich erhärtet ist. Ähnlich verhält es sich bei Krebs: Zwei große Studien mit in Summe fast 150.000 Personen, die einen oder mehrere Zähne durch Parodontitis verloren hatten, fanden ein deutlich erhöhtes Risiko für Magen- und Speiseröhrenkrebs. In Tumoren und Krebsvorstufen ließen sich zudem zwei Keime nachweisen, die häufig auch an Entzündungen des Mundraums beteiligt sind.
Ein Turbo für Diabetes
Gut untermauert ist indes, wie einander Parodontitis und Typ-2-Diabetes beeinflussen, und zwar in beide Richtungen: Zum einen ist erwiesen, dass jene Zytokine, die Parodontitis-Patienten massiv ausschütten, die Wirkung von Insulin hemmen – mit der Folge, dass der Blutzuckerspiegel steigen kann. Derart kann ein bestehender Diabetes verstärkt oder sogar eine Neuerkrankung angestoßen werden. Umgekehrt laborieren Diabetiker besonders häufig an Problemen des Zahnhalteapparats – wahrscheinlich deshalb, weil Diabetes die Wundheilung und die Durchblutung der Gefäße erschwert, auch im Mund. „Gelockerte Zähne sind eine bekannte Folge von Diabetes“, berichtet Parodontologe Sculean.
Umfassend studiert sind auch Zusammenhänge zwischen Mundgesundheit und Komplikationen während der Schwangerschaft, darunter Frühgeburten, geringes Geburtsgewicht sowie Präeklampsie, einer Bluthochdruck- und Organerkrankung. Ursächlich sind bakterielle Erreger, die über das Blut in die Gebärmutter gelangen, lokale Entzündungen hervorrufen und mitunter sogar den Fötus infizieren können. Untersuchungen zeigen zugleich, dass eine parodontale Behandlung das Risiko für derlei Komplikationen senken kann.
Was aber tun, damit es erst gar nicht so weit kommt? Wie lassen sich die Gesundheitsgefahren in Grenzen halten? Im Vorteil ist, wer früh mit der Vorsorge beginnt – und willens ist, auf eigene Kosten parodontale Checks zu absolvieren. Dann sind die Chancen gut, beginnende Entzündungsprozesse zeitgerecht zu erkennen und mit geringem Aufwand zu therapieren. Am Anfang steht meist eine Gingivitis, eine leichte und reversible Entzündung des Zahnfleischs, die sich erst später zur Parodontitis auswächst.
Michael Müller
„Man kann immerhin den Ist-Zustand bewahren und vorgeschädigte Zähne in Funktion erhalten“, sagt der Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Parodontologie.
Wer bereits an einer solchen leidet – wie sehr viele Menschen, die das Thema kaum am Radar hatten –, hat zumindest die Möglichkeit, den Schaden zu begrenzen. Zwar sind Zahnfleischrückgang und die Bildung von Zahnfleischtaschen samt begleitendem Knochenabbau nicht mehr umkehrbar. „Aber man kann immerhin den Ist-Zustand bewahren und vorgeschädigte Zähne in Funktion erhalten“, sagt Michael Müller, auch im Team der Leitung der Wiener Zahnklinik Josefstadt. Welche Behandlungen dabei von den Kassen getragen werden, hängt von der Art der Therapie, der Zahl der betroffenen Zähne sowie der jeweiligen Kasse ab. Im Regelfall wird wenigstens ein Teil der Kosten rückvergütet.
Antientzündlich essen
Generell gilt: regelmäßige, sorgfältige Zahnpflege. Müller rät zur Verwendung eher kleiner, weicher bis mittelharter Bürsten. Sinnvoll seien zusätzlich Interdentalbürsten oder -sticks, die helfen, die Zahnzwischenräume von Mikroben zu säubern. Fast alle Experten empfehlen zudem eine Ernährung, die als entzündungshemmend gilt: wenig Zucker, viele Ballaststoffe in Form von Obst und Gemüse, Olivenöl, mehr Fisch als Fleisch.
Disziplin lohnt sich nicht nur im Hinblick auf die Mundgesundheit. „Es gibt einen Zusammenhang zwischen Lebensqualität, Lebenserwartung und der Qualität der Zähne“, sagt Anton Sculean. „Je mehr Zähne man hat, desto höher sind die Chancen, dass man lange lebt.“