Wikipedia-Eintrag zu Wikipedia

15 Jahre Wikipedia: Eine kritische Liebeserklärung

Die Online-Enzyklopädie Wikipedia ist 15 und in ihrer Pubertät angekommen. Eine kritische Liebeserklärung von Ingrid Brodnig an eine (trotz allem) fantastische Webseite.

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Genau genommen war das Ganze ja eher ein Zufall. Wenn Jimmy Wales heute in Vorträgen rund um den Globus enthusiastisch davon berichtet, wie seine Webseite Wikipedia die Menschheit bereichert, muss er auch zugeben: Geplant hatte er das nicht so. Vielmehr hatte Wales 1996 eines dieser typischen frühen Dotcom-Unternehmen gegründet, ein Portal, das Bomis hieß und unter anderem dazu verwendet wurde, seinen Usern erotische Bilder zu liefern. Weil Wales für Bomis möglichst viele neue Inhalte brauchte, kam er irgendwann auf die Idee, eine Online-Enzyklopädie zu starten. Nach einem Fehlversuch namens Nupedia, deren Einträge noch von einer Gruppe ausgewählter Experten verfasst wurden, startete der heute 49-Jährige Anfang 2001 Wikipedia, bei der schlicht jeder mitarbeiten durfte, der Zeit und Lust dazu hatte. Der Rest ist Geschichte.

Tatsächlich ist die Wikipedia, gewissermaßen das Nebenprodukt einer erotikaffinen Webseite, bis heute eine Seite voller Widersprüche, die die schönsten und auch die nervigsten Facetten des Internets widerspiegelt. Sie zeigt, wie großzügig Menschen im Internet sein können, wenn sie ihre Zeit opfern (und seien es nur ein paar Minuten), um das Wissen der Menschheit zu vermehren. Und sie ist das letzte große gallische Dorf in einem Internet, das zunehmend kommerzialisiert wird. Während das Netz zu großen Teilen von Konzernen wie Google und Facebook dominiert wird, die ihr Geld mit Online-Werbung verdienen, lebt die Enzyklopädie allein von Spenden. Wikipedia belegt den siebten Platz unter den populärsten Webseiten der Welt und ist die einzige Non-Profit-Organisation unter den 30 meistbesuchten Internetadressen, wie die Statistik des Ranking-Dienstes Alexa zeigt.

Kommenden Freitag wird die Online-Enzyklopädie 15 Jahre alt. Der Teenager hat sich gut entwickelt. Eine Welt ohne Wikipedia ist kaum noch denkbar. Wo würden wir schnell nachsehen, wenn wir uns gerade nicht erinnern können, wann der Prager Fenstersturz war? Oder wenn wir wissen wollen, wann Justin Bieber sein letztes Album herausgebracht hat?

Die Wikipedia selbst verrät einem folgende beeindruckende Statistiken: Allein die englische Ausgabe würde mit ihren über fünf Millionen Artikeln ausgedruckt 2234 Bände der Encyclopædia Britannica füllen. Die deutschsprachige Wikipedia umfasst derzeit knapp 1,9 Millionen Beiträge. Und jeden Monat kommen weltweit 20.000 neue Artikel hinzu - also alle zwei Minuten ein neues Schlagwort.

Doch diese Artikel entstehen auch mit enormen Geburtsschmerzen. Für den passiven Konsumenten sind diese kaum erkennbar, aber sobald man sich etwas tiefer in die Diskussionsbereiche einzelner Artikel vorwagt, erlebt man eine beispiellos verbissene i-Tüpferl-Reiterei. Die Wikipedia kann ein unangenehmer Klub sein, in dem Vereinsmeierei und Schrebergartendenken herrschen und über irrelevante Nebensätze mit einer Aggression diskutiert wird, die Außenstehende verblüfft. Derzeit sucht die deutschsprachige Community der Wikipedia nach ihrem Wort des Jahres 2015. Vorgeschlagen wurden auch Begriffe wie "Bürokrapedia“, "Katastrophenadmin“ oder "Löschtroll“. Hier drücken die freiwilligen Helfer ihren Frust über die vielen Regeln und die pingeligen Administratoren aus.

In den letzten Jahren hat sich in der Wiki-Gemeinde eine ungastliche Willkommenskultur etabliert.

Tatsächlich hat die Wikipedia ein ernstzunehmendes Problem: Die Zankerei und die komplexen Regeln verschrecken viele Neulinge. Der Online-Teenager leidet an Überalterung. Und die Zahlen der Wikipedianer, also der freiwilligen Helfer der Seite, sind in den letzten Jahren gesunken. Werkten im November 2007 noch 7866 aktive Benutzer bei der deutschsprachigen Version, waren es im vergangenen November nur noch 5662. Akut existenzgefährdend ist dieser Rückgang noch nicht, wohl aber auf lange Sicht eine Gefahr. Der Wissenschafter Leonhard Dobusch, der an der Freien Universität Berlin zu Wikipedia forscht, meint: "Nach einer langen Wachstumsphase ist die Wikipedia nun in der Pubertät angelangt. Und das ist keine einfache Zeit.“

In den letzten Jahren hat sich in der Wiki-Gemeinde eine ungastliche Willkommenskultur etabliert. Alteingesessene Benutzer erklären Einsteigern mitunter als Erstes, wie wenig Ahnung sie haben. In der Zeitschrift "Skeptical Inquirer“ schrieb eine langgediente Wikipedianerin unlängst: "Kontroverse Einträge zu Themen wie Astronomie, Scientology, Evolution oder Homöopathie sind keine Seiten für Anfänger-Mithelfer. Diese sollten zuerst die Regeln lernen, weniger kontroverse Seiten bearbeiten und den anderen Helfern zeigen, dass sie die Wikipedia insgesamt verbessern wollen - nicht bloß eine spezielle Seite.“

Man stelle sich vor, Jimmy Wales hätte seinen Usern vor 15 Jahren mitgeteilt, sie dürften zwar mitarbeiten, aber bloß keine relevanten Themen behandeln. Die Seite wäre gefloppt. Heute agiert ein Teil der alteingesessenen Wikipedianer, als würde ihnen die Seite gehören. Das ist einer der Gründe, warum die Enzyklopädie recht statisch geworden ist: Die Qualität der existierenden Beiträge steigt nicht so rasch wie gewünscht. Und nach einem Jahr sind nur noch 11,7 Prozent der Neulinge auf der Seite aktiv - das fanden Forscher dreier US-Universitäten im Jahr 2012 heraus. In ihrer beeindruckenden Studie "The Rise and Decline of an Open Collaboration System“ warnten sie schon damals vor einer "Verkalkung“ der Online-Enzyklopädie. Aktuell werden rund 3700 Beiträge der deutschsprachigen Wikipedia als "lesenswert“ eingeschätzt - das sind gerade einmal zwei Prozent der Artikel.

Jemanden zu lieben, schließt nicht aus, mit ihm zu streiten (wie man sicher aus eigener Erfahrung bestätigen kann). Die Liebe zu Wikipedia liefert aber die Motivation, sie zu verbessern und zu verteidigen.

Damit betrifft das Problem freilich nicht nur die Wikipedia-Community, sondern uns alle, die wir in den vergangenen eineinhalb Jahrzehnten gelernt haben, nicht mehr ohne Wikipedia leben zu können - und miteinander diskutieren schon gar nicht (weil: wer sonst soll die nötigen Fakten klären?). Dafür lieben wir Wikipedia. Wikipedianer lieben sie aber noch ein bisschen mehr. Der berühmte Medienwissenschafter und Internetexperte Clay Shirky schreibt: "Wikipedia funktioniert, weil sie genug Menschen lieben und, das ist noch wichtiger, sich auch gegenseitig in diesem Kontext lieben. Das bedeutet nicht, dass sich die Menschen, die daran mitarbeiten, immer einig sind. Jemanden zu lieben, schließt nicht aus, mit ihm zu streiten (wie man sicher aus eigener Erfahrung bestätigen kann). Die Liebe zu Wikipedia liefert aber die Motivation, sie zu verbessern und zu verteidigen.“

Die größte Gefahr für die Wikipedia, wie wir sie kennen, ist wohl, dass aus Liebe eine Hassliebe wird. Bisher hat die Wikimedia Foundation es nicht geschafft, dieser Entwicklung vorzubeugen - das ist die Stiftung, die das Überleben der Online-Enzyklopädie sichern soll. Sie beschäftigt mittlerweile 280 Menschen, sammelt Spenden, stellt die technische Infrastruktur zur Verfügung, entwickelt neue Software und bietet eine Reihe weiterer Webseiten an - von der Zitatesammlung Wikiquote bis zum Wörterbuch Wiktionary. "Die Wikimedia will so etwas wie das Rote Kreuz für das Sammeln des Weltwissens werden“, sagt der Medienwissenschafter Leonhard Dobusch.

Wie bei vielen Non-Profit-Organisationen gibt es bei Wikipedia Eifersüchteleien zwischen Angestellten und ehrenamtlichen Helfern. Erst neulich herrschte Aufregung, warum Wikimedia weiterhin um Spenden bettelt, wenn man doch über Reserven von 77 Millionen Dollar verfüge. Die Stiftung entgegnete: Es sei gut, einen Puffer zu haben, falls die Spendenbereitschaft in Zukunft zurückgeht. Im Kern geht es den Kritikern aus der Community wohl darum, dass sie sich von der Foundation nicht genug wertgeschätzt fühlen, dass sie sich von der Stiftung nichts reinreden lassen wollen und auch deswegen neue Ideen oder Software-Tools blockieren - ein weiterer Grund für die Stagnation der Seite, die sich seit zehn Jahren kaum verändert hat.

So wie ein guter Lexikon-Eintrag immer wieder neu geschrieben und aktualisiert werden muss, muss auch die Wikipedia weiter an sich arbeiten - und nachbessern.

Angesichts all dieser Konflikte funktioniert die Enzyklopädie sogar noch überraschend gut. Kollaborative Projekte ähneln gewissermaßen einer Wurstfabrik: Das Endergebnis gefällt vielen Menschen - nur den Entstehungsprozess wollen die meisten lieber nicht so genau sehen. Dabei gäbe es durchaus Lösungsansätze. Der Wissenschafter Leonhard Dobusch schlägt etwa vor, dass die Wikimedia-Stiftung professionelle Moderatoren anheuert, die bei Streitigkeiten in der Community einschreiten. Bisher gibt es das nicht, weil die Stiftung die inhaltlichen Fragen ganz den ehrenamtlichen Helfern überlässt - selbst wenn das bisweilen in Kleinkriegen endet.

Eine professionelle Moderation könnte außerdem helfen, mehr Frauen anzulocken: 2011 fand eine interne Umfrage heraus, das neun von zehn Wikipedianern Männer sind. Das harsche Klima und die teils sogar frauenfeindlichen Aktionen der Community scheinen Benutzerinnen zu verschrecken. Ein besonders krasses Beispiel: Im Jahr 2013 fand die "New York Times“ heraus, dass Autorinnen schrittweise von der Wikipedia-Liste "amerikanischer Schriftsteller“ gelöscht worden waren. Der Hintergrund: Einer Handvoll Wikipedianern war die Gesamtliste zu lang erschienen, weshalb sie kurzerhand die Frauen hinausgestrichen und in eine Subkategorie namens "weibliche amerikanische Schriftsteller“ verbannt hatten. Der Bericht der "New York Times“ löste Empörung in der Literaturbranche aus - und das Ende dieser umstrittenen Praxis.

Im Grunde könnte die Wikipedia von sich selbst lernen: So wie ein guter Lexikon-Eintrag immer wieder neu geschrieben und aktualisiert werden muss, muss auch die Wikipedia weiter an sich arbeiten - und nachbessern. Wird es diese herausragende Enzyklopädie, die eines der beeindruckendsten Projekte der Digitalisierung ist, in 15 Jahren noch geben? Andrew Lih, amerikanischer Medienforscher und Autor des Buchs "The Wikipedia Revolution“, wirft ein, dass - rein historisch betrachtet - wenige Online-Gemeinschaften länger als 15 Jahre überlebten: "Insofern betreten wir hier ohnehin bereits Neuland. Aber wenn es jemals eine Community gab, die so lange überleben kann, dann wäre es die Wikipedia.“

Ingrid   Brodnig

Ingrid Brodnig

ist Kolumnistin des Nachrichtenmagazin profil. Ihr Schwerpunkt ist die Digitalisierung und wie sich diese auf uns alle auswirkt.