Kilian Kleinschmidt: „Dann werden sich Leichenberge auftürmen“

Kilian Kleinschmidt: „Dann werden sich Leichenberge auftürmen“

Kilian Kleinschmidt: „Dann werden sich Leichenberge auftürmen“

Drucken

Schriftgröße

profil: Versagt der Staat in der Flüchtlingskrise? Kilian Kleinschmidt: Das fragen sich im Moment viele. Ich sehe es anders. Es war doch immer die Zivilgesellschaft, die in Flüchtlingskrisen angepackt hat, lange, bevor es die Flüchtlingskonvention gab.

profil: Der Einzelne kann keine Wohncontainer aufstellen. Kleinschmidt: Nein, aber wir haben uns zu sehr daran gewöhnt, dass wir den Müll auf die Straße schmeißen und der Staat ihn für uns einsammelt. Dass wir auch etwas machen müssen, haben wir in den Jahrzehnten der Fülle vergessen.

profil: Sie haben in Pakistan oder Mogadischu in kurzer Zeit Zehntausende untergebracht. Braucht Österreich größere Lösungen? Kleinschmidt: Daran arbeiten wir. Das Welterenährungsprogramm der Vereinten Nationen managt die Logistik für Katastrophen. Europa hat noch nicht kapiert, dass es darauf zurückgreifen kann. Wenn man diese Profis ranlässt, kann man innerhalb von einer Woche Notunterkünfte stemmen.

profil: Aber nur, wenn die Bürokratie mitspielt. Stichwort: Baugenehmigungen, Brandschutz. Das ist in Jordanien vielleicht anders. Kleinschmidt: Das ist die Arroganz des Westens, zu glauben, dass es das in diesen Ländern nicht gibt. Nur hat man dort begriffen, dass man sich nicht an alle Auflagen halten kann, wenn zwei Millionen Menschen vor einem stehen. In Europa ist man sich zu gut, die Systeme für humanitäre Krisen anzuwerfen. Gibt es einen Katastrophenplan? Das kann mir keiner sagen. In ganz Europa können nur ein paar Hundert Container pro Monat geliefert werden. Dass wir es nicht schaffen, 2000 Menschen unterzubringen, die pro Woche kommen, macht Angst.

In dieser Hinsicht gibt es eine Desillusionierung, die den Rechten in die Hände spielt, weil sie die Einzigen sind, die zu Flüchtlingen eine sehr klare Meinung haben.

profil: Europa ist in der Flüchtlingskrise eine herbe Enttäuschung. Kleinschmidt: Wir erwarten Leadership für etwas, was neu ist, und sie kommt nicht. In dieser Hinsicht gibt es eine Desillusionierung, die den Rechten in die Hände spielt, weil sie die Einzigen sind, die zu Flüchtlingen eine sehr klare Meinung haben.

profil: Sie wollen Zäune und eine Festung Europa. Kleinschmidt: Es ist eine Illusion, dass man darin leben kann. Die Burgen des Mittelalters haben nur funktioniert, solange die Zugbrücken unten waren. Kaum wurden die Festungen umzingelt, waren sie verloren, weil auch Dinge, die zum Überleben notwendig waren, nicht mehr hereinkamen.

profil: Droht Europa an der Flüchtlingskrise zu zerbrechen? Kleinschmidt: Das glaube ich nicht. Aber wir haben schon während der Griechenlandkrise gemerkt, dass wir nicht so stark sind wie gedacht. Angela Merkel hätte einen Gesamtplan vorlegen und die globale Führung übernehmen können. Diese Chance hat sie vergeben und stattdessen – wie alle – angefangen, aus der Hüfte zu schießen.

profil: Für die Flüchtlinge ist Deutschland das gelobte Land. Hat sich die Kanzlerin das zuzuschreiben? Kleinschmidt: Die meisten suchen Perspektiven und ein würdiges Leben. In Jordanien oder der Türkei wird niemand erschossen, trotzdem ist das mehr als eine einfache Arbeitsmigration.

profil: Die rechte Seite sieht das anders. Kleinschmitd: Diese scharfe Trennung zwischen Kriegs- und Wirtschaftsflüchtlingen bringt uns nicht weiter. Entweder muss man einen Krieg anfangen, oder man muss reich sein, um kommen zu dürfen. Das erste Ziel, in Sicherheit zu sein, haben die Flüchtlinge auch in Jordanien oder im Libanon schon erreicht. Nur wurde die internationale Finanzierung der humanitären Hilfe vor einem Jahr reduziert. 80 Prozent der Flüchtlinge, die sich in der Region niedergelassen haben, leben außerhalb der Lager, oft in Abbruchhäusern oder Garagen. Bei ihnen wurde zuerst gespart, weil keiner hört und sieht, wenn es ihnen schlecht geht. Als ich in Jordanien neben meinen Aufgaben im Lager Zaatari für die 200.000 Flüchtlinge in der Stadt Mafraq zuständig war, hat man ihnen immer den einen Dollar pro Tag, mit dem sie überlebt haben, weggenommen. Es ist verständlich, dass ihnen dann der Kragen platzt und sie aufbrechen.

profil: In Europa erfüllen sich ihre Träume oft nicht. Viele bekommen weniger schnell Asyl, Wohnung und Arbeit als erhofft. Kleinschmidt: Erwartungen entwickeln sich in Wellen. Am Anfang haben die Syrer sich in der Region installiert, weil sie dachten, dass der syrische Machthaber Assad schnell verschwinden würde. Irgendwann setzten sich die Menschen wie die Lemminge in Marsch. Merkel hat das angefeuert, klar, aber auch Schlepper zeichnen ein Bild von Europa, das nicht stimmt. Ein paar Beispiele von erfolgreichen Flüchtlingen gibt es immer. Daran klammert man sich, wenn man in einer verzweifelten Lage ist.

Bei allen kurzfristigen Problemen: Deutschland hat 600.000 Arbeits- und Lehrstellen zu besetzen. Wenn eine Million Menschen kommen, werden neue Jobs geschaffen.

profil: Europa wirkt überfordert, aber der Migrationsforscher Rainer Bauböck sagt, in zehn Jahren werde man der deutschen Kanzlerin dankbar sein, dass sie die Grenzen geöffnet hat. Kleinschmidt: Bei allen kurzfristigen Problemen: Deutschland hat 600.000 Arbeits- und Lehrstellen zu besetzen. Wenn eine Million Menschen kommen, werden neue Jobs geschaffen. 300.000 Wohnungen müssen pro Jahr gebaut werden, um den Mangel an erschwinglichem Wohnraum auszugleichen. Das bringt einen Boom für die Bauindustrie, aber auch andere Wirtschaftszweige profitieren.

profil: Gleichzeitig verdrängen die Flüchtlinge andere Arbeitskräfte. Kleinschmidt: Diese Aufregung gibt es im Nahen Osten auch. Nicht die Jordanier haben ihre Jobs verloren, sondern die ägyptischen Gastarbeiter. Der Arbeitsmarkt wird sich verschieben, aber letztlich werden alle profitieren.

profil: Es zeigt sich, dass sich unter den Flüchtlingen nicht nur hochgebildete und aufgeschlossene Menschen befinden. Kleinschmidt: Das stimmt, war aber um keinen Deut anders, als unter vielen, sehr gebildeten Menschen viele stinkige, dreckige Europäer seinerzeit nach Amerika ausgewandert sind. Die ganz Armen schaffen es derzeit nicht nach Europa, deshalb brauchen wir dringend eine gezielte Umsiedelung von wirklich Schutzbedürftigen. Die dafür vorgesehenen Unhcr-Quoten sind viel zu gering.

profil: Höhere Quoten sind politisch schwer durchzusetzen. Warum gelingt es den Rechten so gut, die anderen Parteien vor sich herzutreiben? Kleinschmidt: Das Perverse ist, dass diese Leute teilweise recht haben, dabei natürlich wesentliche Teile weglassen. Jimmie Åkesson [Chef der rechtsextremen Schwedendemokraten, Anm.] war der Erste, der sagte, dass die Menschen im Nahen Osten mehr Hilfe brauchen. Damit entspricht er einer alten Forderung, mit der die Hilfsorganisationen nie durchgekommen sind. Die Flüchtlinge hören nicht auf zu kommen, nur weil ich in einem jordanischen Lager eine Toilette finanziere.

profil: Europa hat sich lange in der Sicherheit gewiegt, es könne die Probleme der Welt abhalten. Kleinschmidt: Absolut, es geht nicht nur um den Nahen Osten, sondern auch um Afghanistan, Eritrea. Die Welt ist in Bewegung geraten. Dafür braucht es eine neue, globale Ordnung. Kriegsflüchtlinge, Arbeitsflüchtlinge, Armutsflüchtlinge und Klimaflüchtlinge sind überall unterwegs. Bisher war das ein Randthema. Wir sind zu den Armen gefahren und haben sie im Urlaub angeschaut. Jetzt schauen sie sich an, wie es bei uns ist. Das heißt, es geht um das bessere Verteilen von Ressourcen. Der Prozess kann schwierig werden.

profil: Der Nahe Osten und Saudi-Arabien nehmen keine Flüchtlinge auf … Kleinschmidt: … weil sie die Flüchtlingskonvention nicht unterschrieben haben. Aber es gibt Hunderttausende Syrer, Somalis oder Pakistani, die in diesen Ländern arbeiten und studieren. Fragt man einen jungen Syrer oder Iraker, ob er Student oder Flüchtling in Saudi-Arabien sein möchte, pfeift er auf den Flüchtlingsstatus. Ein Programm für Arbeitsmigration würde viel Druck wegnehmen.

profil: Was passiert, wenn in Europa stattdessen mehr Grenzzäune gebaut werden? Kleinschmidt: Wenn es keine legalen Möglichkeiten der Migration gibt, werden sich davor bald die Leichenberge auftürmen, und wir werden schreckliche Bilder zu sehen bekommen.

Zur Person Kilian Kleinschmidt, 53. Vor zwei Jahren bekam der deutsche Entwicklungshelfer vom Flüchtlings-Hochkommissariat der Vereinten Nationen (Unhcr) den Auftrag, Zaatari in Jordanien zu leiten. In dem Camp mit über 100.000 Flüchtlingen regierten Chaos, Gewalt und mafiose Banden. Heute sitzt Kleinschmidt in einem von UN-Generalsekretär Ban Ki Moon einberufenen hochrangigen Gremium, das sich mit den 16 größten globalen Herausforderungen beschäftigen soll (eine davon ist Migration und Flucht), und berät die österreichische Regierung bei der Unterbringung von Flüchtlingen.

Edith   Meinhart

Edith Meinhart

ist seit 1998 in der profil Innenpolitik. Schreibt über soziale Bewegungen, Migration, Bildung, Menschenrechte und sonst auch noch einiges