Faktencheck

Experten zu Schallenberg: Vierte Corona-Welle war absehbar

Die Covid-Zahlen explodieren, jetzt folgt ein Lockdown. Die Regierung rechtfertigt ihr spätes Handeln: Fachleute hätten die rasante Ausbreitung des Virus nicht vorhergesagt. Aber stimmt das auch?

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Ein Buch liest sich von hinten immer leichter. Die Experten haben diese dramatische Dynamik, die wir jetzt sehen, in der Form nicht vorhergesehen.“

Alexander Schallenberg

Bundeskanzler (ÖVP), 7. November 2021

Größtenteils falsch

Niemand will dafür verantwortlich sein, dass Österreich derzeit heftig von der vierten Corona-Welle getroffen wird, die Spitalsbetten knapp werden und das Land bei der Sieben-Tage-Inzidenz zu den traurigen Spitzenreitern zählt – nicht nur in Europa, nein, global. Wer hätte das ahnen können? Wer hätte das ahnen müssen? „Ein Buch liest sich von hinten immer leichter“, rechtfertigte sich Bundeskanzler Alexander Schallenberg (ÖVP) vor einer Woche in der „Kronen Zeitung“. Das ist Diplomatensprech und bedeutet übersetzt: Hinterher ist man immer gescheiter. Und Schallenberg sagte: „Die Experten haben diese dramatische Dynamik, die wir jetzt sehen, in der Form nicht vorhergesehen.“

Die Prognose von Komplexitätsforscher Peter Klimek ist düster: Die Spitäler werden zumindest bis Jänner voll ausgelastet oder sogar überlastet sein, ein Abflachen der Neuinfektionen ist frühestens Ende Dezember zu erwarten. Hätte die Regierung eher reagiert, wäre die Welle nicht so stark ausgefallen, argumentiert Klimek. profil hat daher das Buch nochmals von vorne gelesen, beginnend mit Juni 2021. Protokolle der Corona-Kommission, Warnungen der Europäischen Seuchenbehörde ECDC und Prognosen, die der Regierung vorlagen, zeichnen ein eindeutiges Bild: Die vierte Welle war absehbar.

Wien warnt im Juni

Im Juni hatte sich Hoffnung breitgemacht: Die Impfungen nahmen Fahrt auf, die Zahlen sackten – auch saisonal bedingt – stark ab und der damalige Bundeskanzler Kurz (ÖVP) erklärte die Pandemie für beendet. Damals wollte natürlich niemand hören, was die Stadt Wien in der Corona-Kommission, dem Gremium zur Risikoeinschätzung der Covid-19 Situation, bestehend aus Wissenschaftern und Risikomanagern von Bund und Ländern, zu sagen hatte: Bei einer Durchimpfungsrate von 65 Prozent sei mit einer vierten Corona-Welle im Oktober zu rechnen. Diese werde größer als die zweite Welle letzten Herbst werden. Bei einer Impfrate von 80 Prozent werde es hingegen keine nennenswerte Welle, sondern nur kleinere lokale Ausbrüche geben, so die Wiener Experten.

Im Juli schloss sich die Corona-Kommission dieser Einschätzung an, es sei „mit hoher Wahrscheinlichkeit mit einer 4. Epidemiewelle zu rechnen“. Und: Um die Deltavariante im Griff zu behalten, brauche es eine Durchimpfungsrate von 70 Prozent aufwärts. Dieses Ziel wurde klar verfehlt.

Gerry Foitik, Rettungskommandant des Roten Kreuzes, bestätigt im profil-Gespräch, dass die vierte Welle niemanden überraschen konnte: „Wir haben im Sommer schon gewusst, dass es im Herbst und im Winter schlimm wird. Denn 40 Prozent der Übertragbarkeit des Virus hängt von der Saisonalität ab.”

Covid-Prognose-Konsortium schlägt im September Alarm

Maßnahmen der Regierung? Fehlanzeige. Die Impfkampagne machte Sommerpause. Und vor den Landtagswahlen in Oberösterreich wollte offenbar niemand unpopuläre Maßnahmen wie die Maskenpflicht wiedereinführen. Die Berater der Regierung sahen die Bedrohung aber längst kommen. Anfang September, in der 50. Sitzung der Corona-Kommission, warnte das Covid-Prognose-Konsortium: „Zusätzlich zu einer entsprechenden Beschleunigung des Impffortschrittes sind, den Modellrechnungen zufolge, verstärkte Schutzmaßnahmen im Vergleich zum aktuellen Maßnahmenregime notwendig, um eine Überlastung der Intensivstationen (33%-Belagsgrenze) zu verhindern.“ Laut Protokoll könne eine „systemgefährdende vierte Welle“ nur mit einer raschen Erhöhung der Durchimpfungsrate auf zumindest 70 Prozent und verstärkten Schutzmaßnahen verhindert werden, so die Lageeinschätzung. Simulationsforscher Nikolas Popper, Mitglied des Covid-Prognose-Konsortiums, wird deutlich, wenn man ihn mit den Kalmierungsversuchen der Regierungsspitze konfrontiert: „Seit dem 1. September habe ich gesagt, dass wir noch eine Million Erstimpfungen brauchen. Wir sind noch unter 500.000. Ich habe laufend, mehr als wöchentlich gesagt, dass sich das alles nicht ausgehen kann.” Popper:Wenn man sich das Impf-Marketing im Sommer und die Impfquote jetzt ansieht, schaut das schlecht aus. Da hätte man frühzeitig andere Maßnahmen setzen müssen.“

Europäische Seuchenagentur sagt Risiko voraus

Noch Mitte Oktober beharrte Finanzminister Gernot Blümel (ÖVP) in einem ZIB 2 Interview darauf, dass die Pandemie „vorbei“ sei. Öffentlichen Widerspruch vom grünen Koalitionspartner gab es nicht. Tags darauf, am 14. Oktober, präsentiert Komplexitätsforscher Klimek in der 55. Sitzung der Corona-Kommission eine dramatische Einschätzung der Europäischen Seuchenagentur ECDC. Spätestens da hätte die Bundesregierung in den Krisenmodus schalten müssen. An das digitale Sitzungsprotokoll sind die PowerPoint-Folien von Klimek angehängt, sie liegen profil vor. Darauf steht: „Die ECDC weist für Länder mit einer mit Österreich vergleichbaren Impfrate bei gleichbleibendem Kontaktverhalten ein ‚erhöhtes‘ bis ‚hohes‘ Risiko dafür aus, dass bis Ende November 2021 der letztjährige Höchststand auf ICU (Intensivstationen, Anm.) übertroffen wird“ – und zwar dann, wenn die Impfquote nicht merklich über 65 Prozent steige. Zur Einordnung: Zu dieser Zeit war Österreich mit 58,3 Prozent Durchimpfungsrate (Zweitstiche) deutlich von diesem Ziel entfernt, aktuell hält Österreich genau bei den neuralgischen 65 Prozent.

Neue Strategie: Durchseuchung?

Komplexitätsforscher Klimek fühlt sich persönlich angesprochen, wenn die Regierung behauptet, die Experten hätten die vierte Welle nicht vorhergesagt – und repliziert: „Die saisonale Welle ist erwartet worden. Mehr als das entsprechend zu publizieren, als das entsprechend auszuschicken, kann man nicht.“ Er glaubt, dass Kanzler, Vizekanzler und Gesundheitsminister ihre Strategie gewechselt haben: „Meine Beobachtung ist, dass man es auf eine Durchseuchung ankommen lässt. Das Problem: In Ländern, die es mit einer auf Durchseuchung und Herdenimmunität ausgelegten Strategie versucht haben, sind die Wellen zwar eingebrochen, aber immer assoziiert mit enormer Übersterblichkeit und extremen Einschnitten und Verlusten an Lebensqualität, Lebensjahren und Lebenserwartung.“ Auch Mikrobiologe Michael Wagner von der Uni Wien hat schon im Juni vor der Gefahr im Herbst gewarnt. Seine Kritik: „Ein Kardinalfehler war es jedenfalls, sich an der Auslastung der Intensivbetten zu orientieren. Da sind wir immer zu spät, denn die Inzidenz sehe ich sofort, die durch Covid-19 gebundene Kapazität der Intensivstationen steigt erst zwei bis drei Wochen später.“

Auf profil-Anfrage führt eine Sprecherin von Kanzler Schallenberg zwei Entlastungszeugen an. Die Virologin Monika Redlberger-Fritz und den Vizerektor der Med-Uni Wien, Oswald Wagner. Beide erklärten öffentlich, dass eine Herbstwelle zwar zu erwarten war, die Schärfe der Welle aber unterschätzt worden sei. 

Timing der vierten Corona-Welle

Doch selbst Regierungsberater und Behörden, die sich üblicherweise mit öffentlicher Kritik an Politikern zurückhalten, widersprechen dem „nichts gewusst“-Spin. Markus Müller, Präsident des Obersten Sanitätsrates (OSR) und Rektor der Med-Uni Wien, sagt: „Heute sind 30 bis 35 Prozent nicht geimpft. Da ist es völlig logisch, dass es nach wie vor zu starken Anstiegen kommen kann. Das wurde von mir und anderen immer wieder gesagt. Ich denke, das weiß auch jeder damit vertraute oder dafür verantwortliche Politiker.“ Müller relativiert allerdings: „Das Problem ist die zeitliche Komponente, da gab es auch Fehleinschätzungen. Das Timing der vierten Welle wurde in dieser Form nicht genau vorhergesagt.“

Tatsächlich lag das Prognose-Konsortium nicht immer richtig, einen eindeutigen Termin für die Eskalation der Fallzahlen gab es nicht, da hat Schallenberg einen Punkt. Keiner weiß das besser als Statistiker Erich Neuwirth: „Punktgenaue Zahlenprognosen hat es nicht gegeben. Ich habe täglich den Vergleich der Inzidenzen vom Vorjahr mit heuer gemacht und synchronisiert ab dem Tag des Schulbeginns. Und da habe ich schon gesehen, dass es ziemlich gleich verläuft. Dass es steigen wird, war zu erwarten. In dieser Dramatik wurde es vielleicht nicht ganz vorhergesagt, aber meiner Meinung nach waren auch die Maßnahmen für die auf jeden Fall zu erwartende Dramatik nicht unbedingt ausreichend.“

Fazit

Fachleute haben also bereits seit Sommer immer wieder vor einer vierten Welle gewarnt, insbesondere die Europäische Seuchenbehörde ECDC prognostizierte Mitte Oktober relativ konkret – und zutreffend – die Gefahr einer Überlastung der Spitalskapazitäten im November. Die Gesundheit Österreich GmbH (GÖG), die dem Gesundheitsminister unterstellt ist, fasst auf profil-Anfrage den Kenntnisstand der Regierung zusammen: „Das Prognosekonsortium hat in zwei Policy Briefings im Frühsommer und im Frühherbst genau vor einer solchen Entwicklung gewarnt und diese Warnung wöchentlich wiederholt. Natürlich haben auch die Expertinnen und Experten der Corona-Kommission gewarnt.“ Richtig liegt Schallenberg nur insoweit, als eine punktgenaue Prognose nicht vorlag und die Zahlen etwas dramatischer ausfielen als von manchen erwartet. Grundsätzlich musste der Regierung aber jedenfalls bewusst gewesen sein, dass die Spitalsversorgung an ihre Grenzen zu stoßen droht. Die Aussage Schallenbergs ist daher größtenteils falsch.

Katharina Zwins

Katharina Zwins

war Redakteurin bei profil und Mitbegründerin des Faktenchecks faktiv.

Jakob   Winter

Jakob Winter

ist Digitalchef bei profil und leitet den Faktencheck faktiv.