Ausland

Aufstand von Wagner-Chef Prigoschin: Fünf Fragen und Antworten zur explosiven Situation in Russland

Der Chef der paramilitärischen Gruppe Wagner stellt sich gegen Präsident Putin. Warum der Präsident den Söldner-Boss unterschätzt hat. Und welche Auswirkungen das auf den Krieg in der Ukraine haben kann.

Drucken

Schriftgröße

Wie dramatisch ist die Lage?
Mitten im Krieg Russlands gegen die Ukraine ist ein offener Konflikt zwischen Jewgeni Prigoschin, dem Kopf der russischen Söldnertruppe Wagner, und der Führung der russischen Streitkräfte eskaliert. Prigoschin hat mit bewaffneten Kämpfern das Hauptquartier der südrussischen Stadt Rostow am Don besetzt und kontrolliert neuralgische Punkte der Millionenstadt. Präsident Wladimir Putin hat Prigoschin – ohne ihn namentlich zu nennen – in einer kurzen TV-Rede am Samstagvormittag „Landesverrat“ vorgeworfen und „entscheidende Reaktionen“ angekündigt: „Wir werden siegen und stärker werden.“ Es droht eine militärische Auseinandersetzung zwischen der Armee und der Gruppe Wagner.
Was war der Auslöser der Eskalation?
Prigoschin hat auf seinem Account beim Instant-Messaging-Dienst Telegram die russische Militärführung beschuldigt, Raketenangriffe auf Feldlager der Wagner-Truppen angeordnet zu haben. Die russische Militärführung dementiert. Prigoschin ruft unverblümt zum Putsch gegen die Militärführung in Moskau ­ zunächst aber nicht gegen Putin – auf. Seit Monaten tobt ein Streit zwischen Prigoschin auf der einen Seite und Russlands Verteidigungsminister Sergej Shoigu und Generalstabschef Waleri Gerassimov auf der anderen. Prigoschin wirft der Militärführung vor, seine Gruppe Wagner nicht ausreichend mit Munition und Waffen zu versorgen und ihr nicht die nötige Unterstützung durch die Luftstreitkräfte zu bieten.
Wie konnte Prigoschin so mächtig werden?
Zu Zeiten der Sowjetunion war der heute 62-Jährige ein unbekannter Krimineller. Er saß wegen Diebstahls und Raubüberfällen neun Jahre im Gefängnis. Reich wurde er danach im Glückspiel- und später im Restaurant-Business. Weil er Staatsbankette ausrichtete und Putin nahestand, wurde er als „Putins Koch“ bezeichnet. Tatsächlich machte er mit dem Verteidigungsministerium korrupte Geschäfte in dreistelliger Millionenhöhe. Gemeinsam mit dem Neonazi Dmitri Utkin baute Prigoschin ab 2012 die Gruppe Wagner auf, eine private Söldner-Armee, die überall dort eingesetzt wurde, wohin Russland aus politischen Gründen keine offiziellen Streitkräfte entsenden konnte – in der Ostukraine und auf der Halbinsel Krim, in Syrien, Libyen, der Zentralafrikanischen Republik, im Sudan. Mit der zahlenmäßig wachsenden Söldnertruppe leistete Prigoschin Putin gute Dienste. Er wusste um seine Bedeutung und begann bald, sich mit der offiziellen Militärführung anzulegen.
Warum hat Putin Prigoschin unterschätzt?
Es ist in der Tat frappierend, dass unter Putins Herrschaft jegliche oppositionelle Gruppierung aus dem Verkehr gezogen wird und beispielsweise Alexej Nawalny erst Opfer eines Giftanschlags wurde und dann de facto auf unbestimmte Zeit eingesperrt wurde, ein Mann wie Prigoschin hingegen als Anführer einer Privatarmee die höchsten Repräsentanten der Armee ungestraft öffentlich attackieren konnte. Die Russland-Expertin Tatiana Stanovaya vom Carnegie Center erklärte diese merkwürdige Diskrepanz in einem Interview mit dem Magazin „The New Yorker“ Anfang Mai: „Putin sieht Nawalny als Verräter an, Prigoschin hingegen als Patrioten.“ Während Nawalny in Putins Augen Russland zerstören wolle, und dabei ein Werkzeug des Westens sei, verfolge Prigoschin pro-russische Ziele, die sich mit denen Putins deckten, so Stanovaya. Innerhalb der russischen Elite galt Prigoschin vielen längst als Gefahr, doch der Präsident wollte das nicht sehen. Dabei dürfte auch eine Rolle spielen, dass Putin Prigoschins Popularität falsch einschätzte. Weil der Wagner-Chef in den traditionellen Medien kaum auftaucht, hielt Putin ihn für ungefährlich. Tatsächlich erreicht Prigoschin auf Telegram ein Massenpublikum.
Welche Auswirkungen hat der Konflikt auf Russlands Krieg in der Ukraine?
Das hängt klarerweise davon ab, ob die Auseinandersetzung weiter eskaliert. Der russische Inlandsgeheimdienst FSB hat aufgerufen, Prigoschin festzusetzen. Dieser wird seine Söldner um sich scharen, die damit im Kampf gegen die Ukraine fehlen. Nach seinen Angaben handelt es sich um 25.000 Kämpfer. Prigoschin sagte, seine Leute würden „beenden, was wir begonnen haben, und danach an die Front zurückkehren, um unser Vaterland zu verteidigen.“ Werden die Söldner der Gruppe Wagner loyal zu ihrem Chef stehen? Werden umgekehrt die russischen Soldaten loyal zu ihrer Führung stehen? Davon wird der weitere Verlauf der Ereignisse abhängen. Im – aus russischer Sicht – schlimmsten Fall entbrennen Gefechte zwischen Prigoschins Söldnern und der russischen Armee, was die Schlagkraft im Krieg gegen die Ukraine schwächen würde. In jedem Fall gilt die Aufmerksamkeit der Militärführung derzeit nicht mehr ungeteilt der Ukraine. Das ukrainische Verteidigungsministerium twitterte lapidar: „Wir sehen zu.“
Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur