Die große Keilerei

Proteste in Hongkong: Die große Keilerei

Proteste. Welches politische System ist besser? Die Bevölkerung von Hongkong darf diese Frage nicht entscheiden

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Was unter der chinesischen Doktrin „Ein Land, zwei Systeme“ zu verstehen ist, ist schnell erklärt: Das eine System gilt in der Volksrepublik China und ist repressiv, das andere gilt in den Sonderwirtschaftszonen Hongkong und Macao, und ist aus Pekinger Sicht noch nicht ausreichend repressiv, aber auf dem besten Weg dahin. Dagegen wehren sich die Demonstranten, die vergangene Woche in Hongkong für freie, allgemeine Wahlen auf die Straße gingen.

Was soll aus Hongkong, der ehemaligen britischen Kronkolonie, dem Einkaufsparadies ohne Ladenschlusszeiten, dem Mekka der Jackie-Chan-Filme („Die große Keilerei“) werden? Diese Frage bewegt nicht nur zehntausende Protestierer und die chinesische Regierung. Am Beispiel Hongkong kristallisiert sich eine Debatte, die seit Jahren zwischen China und dem Westen geführt wird: Welches System ist nun das bessere? Die westliche Demokratie oder das chinesische Modell?

„Hat China mehr Legitimität als der Westen?“
Selbst in westlichen Medien fällt die Antwort nicht einhellig aus. „Hat China mehr Legitimität als der Westen?“, fragte etwa vor zwei Jahren ein Kommentator der BBC und tendierte zu einem vorsichtigen Ja.

In einem Gastkommentar mit dem Titel „Meritokratie versus Demokratie“ argumentierte der chinesische Professor für Internationale Beziehungen Zhang Weiwei, dass es gute Gründe gebe, das chinesische Modell als siegreich anzusehen.

Demnach unterliegen die Zehntausenden Demonstranten der „Regenschirm“-Bewegung, die das Zentrum von Hongkong blockieren, einem schweren Irrtum: Sie halten es für unzureichend, dass ihnen Peking bei den nächsten Wahlen im Jahr 2017 nur zugestehen will, über vorab selektierte Kandidaten abzustimmen. Aber besser geht’s nicht, so die pro-chinesische Interpretation.

Was spricht für diese These?

Zunächst der wirtschaftliche Erfolg der Volksrepublik. China ist im Begriff, die USA als größte Volkswirtschaft der Welt abzulösen. Die Armut ist in den vergangenen drei Jahrzehnten dramatisch gesunken, die Zahl der Arbeitsplätze gestiegen. Gelenkt wurde dieser Prozess von einer Regierung, die – nach Meinung ihrer Befürworter – meritokratisch zustande kommt, und zwar in einem Selektionsprozess, der ausschließlich erfahrene, kompetente Kandidaten berücksichtigt. Im Gegensatz zu anderen autokratischen Ländern funktioniert in China der Wechsel an der Spitze nach maximal zehn Jahren klaglos.

Bürgerkrieg bei freien Wahlen?
Der wirtschaftliche Aufstieg des Riesenreiches ist unbestritten, auch wenn Wachstumsraten trügerisch sein können – im Ranking des Bruttosozialprodukts pro Kopf liegt China hinter Montenegro. Und: „Größte Volkswirtschaft der Welt“ würde im Fall Chinas lediglich bedeuten, dass 1,3 Milliarden Chinesen mehr produzieren als 300 Millionen US-Amerikaner.
Lässt man den ökonomischen Erfolg als wesentliches Kriterium für ein politisches System gelten – und klammert man Grundrechte damit aus –, bleibt immer noch die Frage, wie stabil und anhaltend dieser ist. Wie vertrauenswürdig ist ein System, das in seinen Grundfesten erschüttert wird, sobald Bürger Forderungen erheben, die der Regierung missfallen? Li Shenming, ein einflussreicher Partei-Ideologe, veröffentlichte in der Staatszeitung „People’s Daily“ einen vielsagenden Essay zur Verteidigung der Regierungslinie: „Im China unserer Tage würden kompetitive Wahlen, bei denen jeder Bürger eine Stimme hat, mit Sicherheit zu Unruhen, Chaos, sogar zu einem Bürgerkrieg führen“, heißt es darin.

Deshalb dürfen Argumente der Demonstranten in chinesischen Medien nicht referiert werden. Das System könnte in Gefahr geraten. Offenbar kann das chinesische Modell nur funktionieren, wenn die angebliche Meritokratie mit Repression gepaart ist. Das aber stellt auch ein Risiko für den wirtschaftlichen Erfolg dar.

Während der Finanzkrise der vergangenen Jahre höhnten Kritiker, die westliche Demokratie erweise sich als unfähig, eine vernünftige Wirtschaftspolitik zu treiben, weil sie permanent populistische Maßnahmen versprechen und umsetzen müsse, die langfristig nicht zu finanzieren seien. Diese Unkenrufe sollten den Spieß umdrehen, der Westen musste sich rechtfertigen. Doch die Krise änderte nichts daran, dass die westlichen Industriestaaten die Liste der nach BIP-pro-Kopf gereihten großen Volkswirtschaften anführen. Der erste nicht-demokratisch regierte Staat (abgesehen von Klein- und Stadtstaaten) ist Saudi-Arabien, dessen politisches System dennoch selten als beispielgebend propagiert wird.
Am Exempel Hongkong zeigt sich, wie unfähig ein nicht-demokratisches System ist, mit seinem Volk zu Rande zu kommen, wenn dieses seine Stimme erhebt. Dass das chinesische System dem westlichen überlegen sei, kann man hingegen in Europa und in den USA gefahrlos in jeder Zeitung, jedem Blog und jedem Vortrag behaupten. Niemand befürchtet deshalb Chaos und Aufruhr.

+++ Lesen Sie hier: Die Forderungen der Demonstranten in Hongkong und die Reaktion chinesischer Politiker im Wortlaut +++

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur