Ausland

Wahlen in der Türkei: „Von einem fairen Wahlkampf kann man nicht sprechen“

Die SPÖ-Abgeordnete Selma Yildirim ist als Wahlbeobachterin in der Türkei. Im Interview berichtet sie von Repressalien gegen die Opposition und Widerstand gegen die OSZE-Kommissionen.

Drucken

Schriftgröße

Morgen wählt die Türkei einen neuen Präsidenten. Der Sieger steht allerdings schon so gut wie fest, denn: Dass sich der sozialdemokratische Kandidat Kemal Kılıçdaroğlu (CHP) in der Stichwahl gegen Amtsinhaber Erdoğan (AKP) durchsetzt, gilt als unwahrscheinlich. Erdoğan verfehlte die notwendige Mehrheit im ersten Wahldurchgang vor zwei Wochen nur knapp, er kam auf 49,5 Prozent der Stimmen. Kılıçdaroğlu erreichte 44,9 Prozent. 

Mehrere österreichische Nationalratsabgeordnete, darunter Selma Yildirim, sind am Wahlsonntag als OSZE-Wahlbeobachter tätig - sie beobachten den Wahlprozess, um sicher zu stellen, dass das Ergebnis nicht manipuliert wird. 

Frau Yildirim, haben Sie damit gerechnet, dass Sie gleich zwei Mal in die Türkei fliegen müssen, als Sie sich als Wahlbeobachterin der OSZE für die Präsidentschaftswahl gemeldet haben?
Selma Yildirim
Nein, ich habe nicht damit gerechnet, obwohl ich schon davon ausgegangen bin, dass es knapp werden könnte. Als ich am Wahlsonntag gesehen habe, dass es sogar in einer AKP-Hochburg wie Üsküdar dann ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Erdoğan und Kılıçdaroğlu gibt, dachte ich: Hoppala, der Herausforderer könnte tatsächlich sogar gewinnen. 

Selma Yildirim

Als ich vor der Wahl in der Türkei unterwegs war, habe ich viel Hoffnung auf Veränderung gespürt.“

Die Umfragen haben Kılıçdaroğlu zwischendurch ja auch vorne gesehen.
Yildirim
Nicht nur die Umfragen - aber die liegen ja bekannter Weise nicht immer ganz richtig. Als ich vor der Wahl in der Türkei unterwegs war, habe ich viel Hoffnung auf Veränderung gespürt. Gerade unter jungen Menschen herrschte eine Aufbruchsstimmung, die Hoffnung auf einen Wechsel. Auch, weil die CHP so eine positive Kampagne gemacht hat. Der Wahlkampf war generell sehr gemäßigt, in der ersten Phase vor allem aufgrund des Erdbebens. Erst in den letzten Wochen wurde es ziemlich heftig. Zum Glück gab es keine Gewalt, obwohl die Stimmung aufgeheizt war. 
Wenn am Sonntag dann der Wahlsieger final feststeht, wird es wohl nicht mehr so ruhig bleiben. 
Yildirim
Am ersten Wahltag war schon eine extreme Nervosität zu spüren, es gab auch Widerstand gegen uns als Vertreterinnen und Vertreter einer internationalen Organisation. Wortwörtlich hat einer zu mir gesagt: „Wir wollen euch nicht, ihr dreht uns noch unser Ergebnis.“ Das ist eine irrationale Angst.
Was genau ist Ihre Aufgabe als Wahlbeobachterin? 
Yildirim
Ich war in Istanbul unterwegs und war dort in fünf Wahllokalen. Vor Ort schauen wir uns an, ob die Kommission vollständig und korrekt besetzt ist, und ob alle Materialien vorhanden sind, ob die Wahlurne richtig versiegelt und plombiert ist. Wir überprüfen also anhand einer Liste von der OSZE die rein rechtlichen und technischen Bedingungen. 
In den Wahllokalen, in denen Sie unterwegs waren, war alles in Ordnung?
Yildirim
Was den technischen und rechtlichen Ablauf betrifft, ja. Jetzt kann man uns durchaus vorhalten, dass wir maximal eine Stunde vor Ort sind, und man in dieser kurzen Zeit kein wirkliches Urteil abgeben kann. Aber was für mich sehr beruhigend war ist, wie gut die Opposition vorbereitet war. Die größte Oppositionspartei, die CHP, hat ihre Funktionärinnen und Funktionäre drei Jahre lang auf alle Eventualitäten des Wahlabends vorbereitet. Auch die türkische Rechtsanwaltskammer hatte unabhängige Funktionärinnen und Funktionäre vor Ort. 
Sie haben eben aber vom Widerstand gegen die die OSZE-Wahlbeobachter:innen gesprochen. 
Yildirim
Wir haben natürlich auch den Auftrag gehabt, die Situation rund um die Wahllokale zu beobachten - also zu schauen, wer sich dort aufhält, was diese Personen machen, welche Befugnisse haben sie - und da war es unruhig. Da hat es vor fast allen Wahllokalen Widerstände gegeben, vor zwei waren sie sehr heftig. Und das waren in der Regel AKP-ler. 
Was ist da passiert?
Yildirim
Die erste Reaktion war oft, uns den Zutritt zu Wahllokalen zu verweigern. 
Mit welcher Begründung? 
Yildirim
Ich war mit einem schwedischen Kollegen unterwegs, und wir hatten Ausweise, die auch von der türkischen Wahlbehörde akkreditiert waren. Aber teilweise wussten die Leute nicht, was die OSZE überhaupt ist. Und als wir dann versucht haben, uns vorzustellen und zu erklären, was wir machen - ich spreche ja fließend Türkisch - war die Botschaft immer: „Mischt ihr Ausländer euch nicht in unsere Wahlen ein, das machen wir schon selber!“ Als ich einem Mann erklärt habe, welche Befugnisse ich als OSZE-Wahlbeobachterin habe, meinte er: „Aber ich bin der Bezirksvorsteher der AKP in Üsküdar!“ Üsküdar ist eine AKP-Hochburg. Auf einmal waren zehn, fünfzehn Männer um uns herum und haben begonnen, auf uns einzureden, die AKP hat uns mit der Polizei gedroht. Es hat uns fast eine Stunde gekostet, bis wir die Situation geklärt hatten und in das Wahllokal durften.
Man hat immer wieder von einem Auszählstopp in einzelnen Wahllokalen gelesen. Haben Sie auch die Stimmauszählungen beobachtet?
Yildirim
Es wird empfohlen, dass man auch gegen Ende der Wahl ein Lokal aufsucht und diesen Prozess beobachtet. Die Auszählung ist wirklich unglaublich kompliziert und langwierig. Jeder einzelne Stimmzettel - die Zettel waren fast einen Meter lang - ist zunächst im Lokal herumgezeigt und von der Kommission bewertet worden. Nach jedem zehnten Stimmzettel wurde protokolliert, und das mussten alle Anwesenden bestätigten. Ich weiß von den Auszählstoppen, in meinen Wahllokalen war das aber nicht der Fall. Aber es ist berichtet worden, dass in Wahllokalen, in denen die CHP eine Stimmenmehrheit hatte, die Ergebnisse beeinsprucht wurden.
Von der AKP?
Yildirim
Das war in der Regel die AKP, genau. Und wenn die AKP dann fertig war, dann hat ihr Koalitionspartner, die nationalistische türkische Partei, das Spiel noch einmal gestartet. Teilweise waren die Auszählungen dann erst mitten in der Nacht beendet - obwohl meistens pro Wahllokal und Urne nur maximal 300 Stimmen abgegeben werden. 
2014 fiel während der Auszählung in mehreren Städten der Strom aus - der damalige türkische Energieminister meinte daraufhin, eine Katze hätte den Ausfall ausgelöst. 
Yildirim
Ja, diese Geschichte - die ist natürlich auch symbolisch zu verstehen und ein Grund, warum sich die CHP so gut auf die Wahl vorbereitet hat und auch die Anwaltskammer mehr darauf achtet. Aber ich glaube, man kann ausschließen, dass das passiert. Faktisch ist natürlich viel im Vorfeld passiert. Die OSZE beobachtet auch den Wahlkampf und die Medienlandschaft.
Wie schwierig ist es für oppositionelle Parteien, hier zu reüssieren? 
Yildirim
Es gibt eine Geschichte, die mich sehr berührt hat. In der Türkei ist es im Wahlkampf Usus, dass man im Konvoi mit Lautsprechern durch die Dörfer fährt. Der Konvoi der HDP, einer mehrheitlich kurdischen Partei, ist aber immer wieder von der Polizei gestoppt worden, angeblich wegen Verkehrsübertretungen. Solche Stolpersteine hat die Opposition immer wieder beklagt. Ich kann diese Ereignisse nicht im Detail überprüfen, aber es hat mich wirklich betroffen gemacht, weil ich mir vorstellen kann, wie schwierig es ist, einen Wahlkampf zu führen mit wenigen Ressourcen, und dann noch solche Repressalien zu erfahren. 
Im Vorfeld gab es auch viele Bedenken, ob und wie die Bewohner:innen des Erdbebengebietes abstimmen können.
Yildirim
Das Erdbebengebiet hat mich persönlich sehr interessiert. Faktisch war es so, dass viele Menschen aufgrund dieser Katastrophe nicht von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen konnten, weil sie nicht mehr an dem Ort waren, an dem sie zum Stichtag gemeldet waren. Aber es wurden Busse organisiert, die die Leute zu ihren Wahllokalen gebracht haben. Hier lautet ein Vorwurf der Opposition, dass die AKP natürlich mehr Ressourcen hat, und daher auch diesbezüglich ein Ungleichgewicht herrscht, weil AKP-Anhänger leichter abstimmen konnten.
Von einer fairen Wahl kann man also nicht sprechen.
Yildirim
Von einem fairen Wahlkampf kann man nicht sprechen. Auch die OSZE kommt zu diesem Schluss. Aber die Abläufe und Wahlvorgänge, die ich beobachtet habe, waren korrekt. 
Sollte Erdoğan gewinnen, dann befürchten manche, dass es einen Braindrain aus der Türkei geben wird. 
Yildirim
Ja, den wird es geben. Ich glaube, dass die intellektuelle Schicht und sehr viele junge Menschen auswandern würden. Und das wäre natürlich auch schlecht für das Land. Eine Bekannte von mir, eine junge Frau, hat in der Türkei Verwaltungswissenschaften und Journalismus studiert, aber sie hat gesagt: „Ich ersticke in diesem Land“, und ist ausgewandert. Sie ist eine hochpolitische, moderne, junge Frau, die hätte gerne dort gelebt, sie liebt ihre Stadt.
Abstimmen kann man ja nicht nur in der Türkei, es gibt auch in Österreich Wahllokale. Hier sind etwas mehr als 100.000 türkische Staatsbürger:innen wahlberechtigt, sie stimmen immer mit einer großen Mehrheit für Erdoğan. Wie haben Sie die Wahl und den Wahlkampf hier beobachtet?
Yildirim
Im Ausland sieht die Situation ein bisschen anders aus als in der Türkei. Die AKP hat bereits vor 20 Jahren angefangen, in europäischen Ländern Strukturen aufzubauen. Auch in Österreich. Die anderen Oppositionsparteien, insbesondere die CHP oder die nationalistische MHP, die haben erst vor gut zehn Jahren die Auslandstürken für sich entdeckt. Die AKP profitiert jetzt natürlich von dieser Vorleistung. 
Die FPÖ hat im Vorfeld der Wahl gegen illegale Doppelstaatsbürgerschaften gewettert und zu einer „Aktion scharf“ vor Wahllokalen aufgerufen. 
Yildirim
Doppelstaatsbürgerschaften sind in Österreich verboten, ganz klar. Es wird sehr viel kontrolliert, und das soll auch so sein. Gesetze sind einzuhalten und Kontrolle ist gut, aber ich kann in einer so angespannten Situation nicht alle in Bausch und Bogen unter Generalverdacht stellen, und somit für noch mehr Unsicherheit sorgen. Dass die FPÖ Planquadrate vor Wahllokalen fordert, finde ich eigentlich absurd. Das ist nicht in Ordnung, weil es möglich sein muss, dass Menschen von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen können, egal ob es uns gefällt oder nicht, in welche Richtung sie politisch tendieren.
Lena Leibetseder

Lena Leibetseder

ist seit 2020 im Online-Ressort bei profil und Teil des faktiv-Teams. Schreibt über Popkultur und Politik.