Ausland

Finnlands Liebe zum Atomstrom

Hilft Nuklearenergie im Kampf gegen den Klimawandel? Ist das Problem der Atommüll-Endlagerung gelöst? Können Grüne pro Atomkraft sein? Finnland sagt dreimal Ja.

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Olkiluoto ist ein winziges Eiland im Bottnischen Meerbusen, nur durch einen schmalen Sund vom finnischen Festland getrennt. Ist es ein Idyll? Eine Trauminsel? Nun, das hängt stark davon ab, wovon man träumt und was man als idyllisch empfindet. In Österreich würde Olkiluoto vermutlich eher den Beinamen "Horrorinsel" abbekommen, denn auf seiner Fläche von gerade einmal zehn Quadratkilometern befinden sich nicht weniger als drei Atomreaktoren und das erste Atommüll-Endlager der Welt.

Wie konnte das passieren? Wo sind die Anti-Atom-Bürgerinitiativen? Wann werden die Verantwortlichen in der Regierung abgewählt?

Finnland ist anders. Die 10.000-Einwohner-Gemeinde Eurajoki, zu der auch die Insel Olkiluoto gehört, sieht keinerlei Anlass dafür, gegen die Atomanlagen zu protestieren. Im Gegenteil. Im Jahr 1974 wurde auf der Insel mit dem Bau des ersten Meilers begonnen, ein Jahr später mit dem zweiten, und seither fließen satte Steuereinnahmen in die Gemeindekasse, aktuell 20 Millionen Euro pro Jahr. "So können wir langfristig unsere Investitionen planen", sagte Bürgermeister Vesa Lakaniemi in einem Interview mit der "Deutschen Welle". Die Schule wurde eben renoviert, eine Acht-Millionen-Euro-Sportanlage ist in Arbeit.

Atominsel Olkiluoto

Im Vordergrund das Gelände des Atommüllendlagers Onkalo, das im kommenden Jahr in Betrieb genommen werden soll; im Hintergrund die Reaktoren Olkiluoto 1,2 und 3. Nummer 3 wird laut Plan im April ans Netz gehen.

Abgesehen vom Geldsegen trägt auch der seit Jahrzehnten problemlose Betrieb der Atomkraftwerke zur Gelassenheit der Anrainer bei. Der bisher schlimmste Zwischenfall ereignete sich im Dezember 2020 und wurde der "Kategorie 0" zugeordnet; er stellte kein Sicherheitsrisiko dar, kein Arbeiter war erhöhter Strahlung ausgesetzt, keine Radioaktivität entwich in die Umgebung.

Nicht nur in Eurajoki erfreut sich Atomenergie großer Beliebtheit. Bei einer repräsentativen Umfrage in der finnischen Bevölkerung im vergangenen Jahr gaben 60 Prozent der Befragten an, sie hätten eine "gänzlich positive" oder "überwiegend positive" Haltung gegenüber der Atomkraft. Bloß elf Prozent äußerten sich negativ. Nach dem schweren Reaktorunfall im japanischen Fukushima im Jahr 2011 wurden die Atomkraftwerksprojekte in Finnland vorübergehend gestoppt-um 2014 wieder gestartet zu werden.

Als wäre das-vor allem aus österreichischer Perspektive-nicht erstaunlich genug, wechselte im vergangenen Jahr sogar die finnische Grün-Partei "Vihreät de Gröna" die Seiten-von Anti-Atom zu Pro-Atom. Beim Parteitag im Mai 2022 wurde das Bekenntnis zur Atomenergieerzeugung als "nachhaltige Energie" im Parteiprogramm festgeschrieben. Mit dieser neu gewonnenen Überzeugung stehen die finnischen Grünen innerhalb ihrer Parteienfamilie europaweit allein da.

Endlager Onkalo

Der radioaktive Müll wird in Kupferbehältern 400 Meter tief ins Gestein versenkt.

Kein Wunder, dass sie sich sogar dem Verdacht ausgesetzt sahen, für ihre 180-Grad-Wende von der mächtigen Atom-Lobby gekauft worden zu sein. In Wahrheit sind sie einen langen Weg gegangen. Bereits 2008 hatte sich innerhalb der Partei eine Gruppe namens "Grüne für Wissenschaft und Technologie" formiert. Sie propagierte zwei Grundsätze: Politik sollte auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse formuliert werden, und der Kampf gegen den Klimawandel sollte "auf technologie-neutrale Weise" geführt werden. Anders formuliert: Alles, was den CO2-Ausstoß senkt, ist willkommen. Diese Argumentation setzte sich schließlich durch.

Das neue Bekenntnis der Grünen ist nicht bloß theoretischer Natur. Sie sind Teil der Regierungskoalition unter der Führung der Sozialdemokratin Sanna Marin und stellen zwei Ministerinnen und einen Minister. Noch 2014 hatte die Partei aus Protest gegen den Plan, ein weiteres Atomkraftwerk zu bauen, die Regierung verlassen. Jetzt bekennt sie sich sowohl zur Kernkraftnutzung wie auch zum Betrieb eines Atommüll-Endlagers.

Letzteres ist so gut wie fertig, und das ist keine nebensächliche Nachricht. Im Dezember des vergangenen Jahres brach eine elfköpfige Delegation der Internationalen Atomenergieorganisation (IAEA) nach Olkiluoto auf, um das erste Atommüll-Endlager der Welt zu bestaunen-und dessen Sicherheit zu überprüfen. In der Anlage namens Onkalo werden hochradioaktive Abfälle in Kupferbehältern in einer Tiefe von mehr als 400 Metern in besonders gut geeignetes kristallines Gestein versenkt. Voraussichtliche Betriebsdauer: 100.000 Jahre. Eine grenzüberschreitende, also internationale Umweltverträglichkeitsprüfung wurde durchgeführt. Der Schlüsselsatz des 52-seitigen IAEA-Berichts: "Finnland managt radioaktiven Abfall und abgebrannte Brennelemente auf sichere und verantwortungsvolle Weise."

Damit entwickelt sich Finnland unter einer rot-links-grün-liberalen Regierung langsam zu einem Atomenergiestaat, ähnlich wie Frankreich. Während jedoch die französischen Kraftwerke zuletzt wegen technischer Probleme gehörig schwächelten, laufen die finnischen deutlich besser. Bisher liegt der Anteil des Atomstroms in Finnland bei 34 Prozent, doch demnächst wird dieser Wert steigen, denn auf Olkiluoto wird im April ein dritter Meiler in Betrieb genommen, der leistungsstärkste in Europa. "Olkiluoto 3" bereitete der Regierung jahrelang Kopfschmerzen, denn anstatt der geplanten vier Jahre Bauzeit und drei Milliarden Euro Baukosten dauerte es nicht weniger als 18 Jahre, bis das Kraftwerk nun den Betrieb aufnehmen kann-und die Kosten explodierten auf neun Milliarden Euro.

Doch nicht einmal das scheint die Finnen nachhaltig zu bekümmern. Die Regierung hat ein großes Ziel vor Augen: Sie will Finnland bereits 2035 zum ersten CO2 neutralen Industriestaat der Welt machen, und die Atomkraftnutzung ist erklärter Teil ihrer Klimapolitik. Olkiluoto 3 wird 14 Prozent des Jahresbedarfs an Strom liefern. Aber auch andere Formen der Energieproduktion werden forciert: Im Jahr 2022 lag Finnland bei der Inbetriebnahme neuer Windkraftanlagen in der EU an dritter Stelle hinter Deutschland und Schweden.

"Wind-, Solar-, Wasser- und Nuklear-Energie können zusammen die Basis für ein CO2-freies Energiesystem darstellen", sagte der grüne Abgeordnete Atte Harjanne schon im Jahr 2019 in einem Interview mit einem Internetportal für Atomenergie, und er widerspricht all seinen grünen Mitstreitern im Ausland: "Im Kampf gegen den Klimawandel die Nuklearenergie aus dem Werkzeugkoffer zu verbannen, ist albern."

Die größte anzunehmende Überraschung in diesem Zusammenhang: Sogar die finnische Version der Klimaaktivismus-Gruppierung Fridays For Future reiht sich in den Pro-Atom-Mainstream ein: "Wenn wir die globale Erwärmung unter 1,5 Grad halten wollen, brauchen wir jedes verfügbare Mittel, um dieses Ziel zu erreichen, auch Atomenergie." Was soll der Rest Europas von dem finnischen Weg halten? In Österreich wird er wohl als unerfreuliches Kuriosum abgetan. Sollte es Finnland jedoch tatsächlich schaffen, 2035 als erstes Land klimaneutral zu sein, wird der finnische Standpunkt in der Atom-Debatte retrospektiv etwas heller strahlen.

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur