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Atomkraft: Gespaltenes Europa

Atomenergie ist nachhaltig, sagt die EU-Kommission. Und muss sich dafür gedanklich wohl ziemlich verrenken.

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Wir zählen Tag vier des Jahres 2022. Wie steht es mit Ihren guten Vorsätzen zum Jahreswechsel? Alle noch auf Schiene? Oder hat die zu Silvester angezündete „letzte“ Zigarette bereits einen Nachfolger gefunden? Wurde aus der „täglichen“ Laufrunde schon wieder eine etwas längere Runde Schlaf? Und wie schaut es eigentlich mit Ihrem Alkoholkonsum aus? Auch unverändert? Macht ja nichts. Sie können ja Bier und Wein ganz einfach als Softdrinks deklarieren und schon ist die Sache geritzt.

Etwas ganz ähnliches hat die EU-Kommission gemacht. Sie verschickte am Silvesterabend einen 60-seitigen Entwurf, in dem sie sowohl Erdgas als auch Atomkraft als klimafreundlich, nachhaltig und grün einstuft. Die „Süddeutsche Zeitung“ nannte die Aktion einen „Silvesterkracher“, die Umweltorganisation Global 2000 spricht von einem „atomaren Neujahrsbaby“. (Apropos: Dem echten Neujahrsbaby hat profil einen Brief geschrieben, den Sie hier nachlesen und hier nachhören können.)

Europa will bekanntlich bis 2050 klimaneutral werden. Das kostet freilich Geld. Und dieses will man sich von den Finanzmärkten holen. Die sogenannte Taxonomie-Verordnung soll Investoren Orientierung geben, was in der EU als „saubere“ Energie eingestuft wird.

14 der 27 EU-Staaten setzen auf Nuklearenergie, an vorderster Front der Befürworter stehen die Franzosen. Sie haben sich nun durchgesetzt.

Gewessler kündigte rechtliche Schritte an

Geplante Investitionen in neue Atomkraftwerke können dem EU-Entwurf zufolge dann als grün klassifiziert werden, wenn die Anlagen den neusten technischen Standards entsprechen und ein konkreter Plan für den Betrieb einer Entsorgungsanlage für hoch radioaktive Abfälle ab spätestens 2050 vorgelegt wird. Außerdem müssen die Anlagen bis 2045 eine Baugenehmigung erhalten. Bei Gaskraftwerken endet die Frist schon 2030. Zudem müssen sich die Betreiber verpflichten, bis 2035 von Erdgas auf klimafreundlichere Gase wie Wasserstoff umzusteigen – ein höchst ambitioniertes Ansinnen, wie Experten meinen.

Denn eigentlich sollten die Taxonomie-Regeln Vorbild für grüne Finanzen sein und Geldgeber animieren, ihre Milliarden nachhaltig anzulegen – also so, dass künftige Generationen dadurch nicht zu Schaden kommen. Davon kann freilich keine Rede sein: Erdgas emittiert, verglichen mit Erneuerbaren Energien, ein Vielfaches an klimaschädlichem CO2. Und für die Endlagerung von Atommüll, der noch in Tausenden von Jahren gesundheitsschädlich und sogar tödlich sein kann, gibt es auf absehbare Zeit keine befriedigende Lösung. Und auch sonst spricht einiges gegen eine Renaissance der Atomkraft, wie profil erst kürzlich in einer Titelgeschichte darlegte. Wie man da von Nachhaltigkeit sprechen kann, erschließt sich wohl nur nach den ärgsten gedanklichen Verrenkungen.

Doch die Pläne der EU lassen sich kaum noch verhindern. Dazu müssten sich mindestens 20 EU-Staaten zusammenschließen, die wenigstens 65 Prozent der Gesamtbevölkerung der EU vertreten. Klimaschutzministerin Leonore Gewessler kündigte jedoch bereits im Herbst rechtliche Schritte gegen die geplante Verordnung an. Gestützt auf ein Gutachten hält sie fest, „dass die Atomenergie nicht den Anforderungen an eine nachhaltige Investition entspricht“.  

Europa bleibt also auch in Zukunft in der Atomkraftfrage gespalten.

Nichtsdestotrotz einen strahlenden Dienstag wünscht

Christina Hiptmayr

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Christina   Hiptmayr

Christina Hiptmayr

ist Wirtschaftsredakteurin und Moderatorin von "Vorsicht, heiß!", dem profil-Klimapodcast (@profil_Klima).