Migration

Flüchtlingslager auf Lesbos: Was niemand sehen soll

Die griechische Regierung schottet das Camp Mavrvouni rigoros ab. Medien sind unerwünscht. profil kam mit einer EU-Parlamentarierin hinein.

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Der Polizist neben dem Eingangstor wechselt jäh den Gesichtsausdruck. Die Kamera, die offen um den Hals der Journalistin hängt, missfällt ihm. Es sei verboten, Bilder von Zelten und Containern zu machen. Und natürlich von Flüchtlingen. Man dürfe nicht mit ihnen sprechen oder gar ihre Behausungen betreten. Kurzum, es sei alles untersagt, was der Campdirektor nicht genehmige. Dieser ist allerdings nirgends zu sehen, und wie sich noch herausstellen wird, platzt ein im Vorfeld lange ausgemachtes Treffen in letzter Minute.

So beginnt der offizielle Besuch, den die EU-Abgeordnete Theresa Bielowski dem „Closed Controlled Access Center“ (CCAC) auf Lesbos Ende August abstattet, fast drei Jahre nachdem Moria, das frühere Flüchtlingslager, bis auf die Grundfesten abgebrannt war. Das aktuelle heißt nun Kara Tepe/Mavrovouni (das ist türkisch und griechisch für „Schwarzer Berg“), liegt fünf Kilometer vom Zentrum der Inselhauptstadt Mytilini entfernt und war als Provisorium gedacht. Das Areal liegt am Meer, schutzlos den rauen Winden ausgesetzt, die hier oft von Norden kommen, und diente dem Militär einst als Schießübungsplatz.

Medienvertreter sind hier – und eigentlich auch außerhalb – unerwünscht. Ein norwegischer Fotograf wurde im Vorjahr festgenommen, als er im Hafen Schiffe der griechischen Marine un,d der Küstenwache ablichtete. Man warf ihm Spionage vor. Flüchtlingshelferinnen leben mit der ständigen Drohung kriminalisiert und als angebliche Menschenhändler vor Gericht gestellt zu werden.

Einer EU-Abgeordneten sind Einblicke ins Flüchtlingscamp jedoch schwer abzuschlagen. Als Bielowski, eine gebürtige Tirolerin, die seit knapp einem Jahr für die SPÖ im EU-Parlament sitzt, nach Lesbos fliegt, um sich zu vergewissern, ob es für Flüchtlinge genug zu essen gibt, sie medizinisch versorgt werden, die Verletzlichen sicher sind und die Kinder in die Schule gehen, ist profil das einzige Medium, das sie begleitet.

Ohne den üblichen Polizeischutz

Vanessa Muehlhausen, eine von der EU im Rahmen der „Task Force Migration Management“ abgestellte „nationale Sachverständige“, empfängt die Delegation. Sie wird sie auch über das Areal lotsen, ohne die sonst üblichen je zwei Polizisten vorne und hinten, die darüber wachen, dass niemand in Seitengassen, Zelte und Container abzweigt. Das Flüchtlingslager sei mit derzeit rund 3.500 Bewohnern „stark ausgelastet“, berichtet Muehlhausen. Bis zu 8000 könnte man unterbringen. Warum man nicht mehr Container platziere, fragt die EU-Abgeordnete. Freie Flächen gäbe es genug. Antwort: Rund um die jüngste Wahl in Griechenland sei monatelang unklar geblieben, wer zuständig sei: „Aber wir machen Druck.“

Neuankommende Migranten warten bis zu zwei Wochen darauf, überhaupt registriert zu werden.

Flüchtlingslager Mavrovouni, Lesbos

Im Norden der Insel plante die Regierung um 76 Millionen Euro ein ziemlich entlegenes „Closed Controlled Access Center“, das neue Hauptcamp. In der Bevölkerung regte sich Widerstand. Ein Höchstgericht stoppte das Vorhaben. Allerdings „nur temporär“, wie Muehlhausen sagt. Fehlende Unterlagen seien nachgereicht worden, zu Ostern 2024 soll das neue Flüchtlingslager aufsperren und Mavrovouni Geschichte sein. Erster Zwischenstopp im Container von IOM (International Organisation for Migration), einer Organisation der UNO: Ein Mitarbeiter schildert, wie man sich sowohl für die Integration als auch die freiwillige Rückkehr von Migranten einsetze. Allerdings: Für das Rückkehr-Programm kommt so gut wie niemand in Frage. Vier von zehn Campbewohnern stammen aus Afghanistan (39 Prozent); es folgen Eritrea (27 Prozent), Sudan (neun Prozent) und Somalia – alles Herkunftsländer, in die man nicht sicher zurückkehren kann.

Die Delegation kommt am Registrierungszelt vorbei. Dutzende stehen hier Schlange. Kinder laufen in der sengenden Hitze herum. Ein Polizist aus Deutschland stellt sich mit festem Handschlag und offenem Lächeln vor: „Hallo! Sven!“ Man postiert sich im Schatten zwischen zwei Zelten. Sven ist seit 2015 für die EU-Grenzschutzagentur Frontex im Einsatz und koordiniert auf Lesbos ein Team, das Flüchtlingen Fingerabdrücke abnimmt, ihre Dokumente auf Echtheit überprüft und ihre Routen protokolliert. Was weiß er von den Pushbacks, dem illegalen Zurückstoßen von Menschen auf hoher See? Seit Wochen gäbe es das nicht mehr, sagt er, um sich auf Nachfrage, was Frontex davor mitbekommen habe, darauf zurückzuziehen, dass für in Seenot geratene Boote die Küstenwache zuständig sei. Das Gefühl, dass man der Besucherin aus Brüssel gerne nahebringt, wie die Dinge sein sollten, aber ungern eingesteht, wie sie tatsächlich sind, lässt sich kaum mehr abschütteln.

Was weiß Frontex über Pushbacks? "Für in Seenot geratene Boote ist die Küstenwache zuständig."

Deutscher Polizist im Einsatz für die Grenzschutz-Agentur Frontex

Alles im Flüchtlingslager – Zelte, Container, selbst der aufwirbelnde Staub, vor dem die Menschen sich zu schützen versuchen, wenn Polizisten und Securities in SUVs an ihnen vorbeifahren – ist von einem gleißenden, für die Augen schwer erträglichen Weiß. Hinter einem Maschendrahtzaun sitzt eine Somalierin mit ihrem zweijährigen Buben im Schatten eines Containers. Das Kind sei überhitzt und schlafe nicht mehr, sie habe die Campleitung um Eiswürfel gebeten, erzählt sie. Vergeblich. Ob die Vorbeigehenden nachfragen könnten? Einige Minuten weiter, eine deutsche Freiwillige, die in der Gluthitze unter einem Stoffdach ausharrt, vor sich eine Kiste mit Büchern, in denen sich neben einem zerfledderten Englisch-Lehrbuch ein paar Werke in Arabisch und Farsi finden. „Die gehen am besten“, sagt die junge Frau. Und drei Ausgaben des Romans von Milan Kundera: „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“. Perplexe Blicke werden gewechselt. Niemand spricht aus, wie zynisch der Titel an diesem Ort wirkt.

Kein fließendes Wasser

Die Iso-Container sind akkurat ausgerichtet, mit schmalen Gängen dazwischen. Wäsche hängt zum Trocknen davor. Auf wackeligen Tischen stehen kleine Wassertanks. Fließendes Wasser gibt es nicht. Eine gebrechliche Afghanin sitzt mit geschlossenen Augen in der Sonne. Ihr Gesicht ist von Falten zerfurcht. Ein Mädchen mit einer Tüte Sonnenblumenkerne drückt sich an seine Mutter. Die Besucher ziehen weiter. Der iranisch-stämmige Fotojournalist Hami Roshan, der es als einer der Wenigen immer wieder ins Camp schafft, spricht die Gruppe auf Farsi an. Seit zweieinhalb Monaten seien sie auf Lesbos, ein Jahr lang waren sie zuvor in der Türkei, beim zweiten Mal hätten sie die Überfahrt geschafft, aber lange nicht begriffen, dass sie in Europa sind, erfährt er. „Wir haben viele Probleme“, sagt eine junge Frau mit Kopftuch. Das größte? „Es gibt für die Kinder keine Schule.“ Ihre Tochter hat schleimige Geschwüre unter den Haaren, ihr eineinhalb Jahre alter Bub ist von der Krätze (Skabies) befallen. Eine Tür zu einem Container geht auf, dahinter ein dunkler, mit Teppichen ausgelegten Raum. An den Stockbetten hängen die in Plastiksackerl verstauten Habseligkeiten einer Familie.

„Wir haben viele Probleme“, sagt eine junge Frau mit Kopftuch. Das größte? „Es gibt für die Kinder keine Schule.“

Afghanisches Mädchen im Flüchtlingscontainer

Als der Fotograf und die Journalistin wieder zur EU-Abgeordneten stoßen, schildern zwei Männer gerade, wie sie im abgeriegelten Lagerkosmos Essen austeilen und auch sonst zu helfen versuchen. Die beiden arbeiten für Eurorelief, eine der wenigen NGOs, die am Campus noch gelitten sind. Kelly, ein aus Colorado stammender Amerikaner mit irischem Pass, befehligt mit seinem Kollegen Nathaniel etwa 70 Freiwillige, viele von ihnen aus den USA, die für einige Wochen hier anpacken. Nur wenige bleiben länger. Der Verein finanziert sich über Spenden und soll eine evangelikale Agenda verfolgen; seiner Homepage ist bloß zu entnehmen, dass man den „Glauben hochhalte“. „Es gäbe viel mehr zu tun, aber andere Organisationen werden nicht registriert“, sagt Kelly. Warum eigentlich? Schulterzucken.

Sein Funkgerät beginnt zu krächzen. Ein Polizeiauto biegt um die Ecke. In der Schlange vor der Essensausgabe sei es zu einer „medical situation“ bekommen, wie Kelly es formuliert. Im Mai strich die griechische Regierung allen, die nicht mehr im Asylverfahren sind, das Essen. Lokale Initiativen und NGOs wie jene der Österreicherin Doro Blancke springen seither Woche für Woche mit Lebensmittelpaketen ein. Die Portionen im Camp sind knapp bemessen, viele bleiben hungrig. Vor der Essenausgabe beziehen Securities Position; stichsichere Westen, Kampfstiefel, verschränkte Arme, ein mit laufendem Motor wartender, gepanzerter Geländewagen. Ein hellblauer Lieferbus prescht um die Ecke. Die „medical situation“ entpuppt sich als Panikattacke, die Betroffene wird zum Campusdoktor gebracht. Kurz darauf taucht eine verstört wirkende, ältere Frau auf, die alle paar Meter stehen bleibt, um Passanten anzusprechen. Am roten Band, das um ihren Hals liegt, hängt keine Lagerkarte mehr. Die EU-Delegierte Muehlhauser vermutet, dass sie ihr von jemandem entrissen wurde, der sich damit um eine zweite Portion Essen anstellt. Die Runde schweigt betreten.

„Es gäbe viel mehr zu tun, aber andere Organisationen werden nicht registriert."

Eurorelief-Vertreter Kelly und Nathaniel

 

Vicky Mastora stößt dazu; sie ist für die norwegische Organisation „A Drop in the Ocean“ tätig, die jede Woche 3000 Kilo Handtücher, T-Shirts, Hosen und Kindergewand im Camp einsammelt, um sie außerhalb waschen zu lassen. 17 Waschmaschinen, 19 Trockner, darunter ein Gastrockner, mit dem die Wäsche bei 150 Grad desinfiziert werden kann, wurden angeschafft. Auf dem Weg zum Campdirektor läutet das Handy der EU-Delegierten. Der Termin sei abgesagt, richtet das Büro aus. Begründung? Keine. Später, beim Abendessen mit der EU-Abgeordneten werden NGO-Vertreter und Flüchtlingshelferinnen seinen unmöglichen Job erörtern: Entweder man erfülle ihn mit der von oben – dem zuständigen Minister – erwarteten Brutalität, bis die Lage eskaliere. Oder man bemühe sich um minimale Standards und riskiere, deshalb entlassen zu werden.

Die norwegische Organisation „A Drop in the Ocean“ sammelt jede Woche 3000 Kilo Handtücher, T-Shirts, Hosen und Kindergewand im Camp ein, um sie außerhalb waschen zu lassen.

Akkurat ausgerichtete Zelte im Flüchtlingscamp

Die Visite neigt sich dem Ende zu. Während die Delegation unterwegs war, brachten zwei Polizeibusse weitere Flüchtlinge. In einem saßen 21 Personen, im zweiten 15. „Die meisten waren ohne Schuhe, niemand hatte einen Rucksack. Alles wurde ihnen weggenommen“, schildert eine NGO-Mitarbeiterin, die ihre Ankunft beobachtete. Bielowski entfernt sich ein paar Schritte, um sich zu sammeln. Die Frauen, die bei 40 Grad mit Kindern für Essen Schlange stehen, gehen ihr nicht aus dem Sinn. Sie wolle nicht „zu jenen gehören, die kurz vorbeischauen und danach nichts mehr tun, damit sich etwas ändert“, sagt sie.

Arbeit am friedlichen Zusammenleben

Es ist früher Nachmittag, noch genug Zeit für einen Abstecher ins Sozialzentrum Paréa (übersetzt: Freundeskreis), das ein paar Kilometer entfernt auf einer Anhöhe liegt. Silvia Lucibello, die Leiterin, führt über ein Gelände, das sich mehrere NGOs teilen. Es gibt Computerkurse, in denen Flüchtlinge lernen, Mails zu schreiben, oft die einzige Möglichkeit, mit Rechtsanwaltskanzleien in Athen Kontakt zu halten; Foto- und Videoworkshops; einen Shop für Hygieneartikel, eine Gaming-Zone, Tischtennis-Tische und eine Nähmaschine, mit der gespendete Kleidung abgeändert werden kann. Paréa soll sich in allem vom Camp abheben. Fassaden, Wände, Mauern und Gartenmöbel sind in Pastelltönen gestrichen. Niemand fragt Flüchtlinge, die man hier konsequent Besucher nennt, nach einem Ausweis oder durchwühlt ihre Taschen.

"Ich möchte nicht zu jenen gehören, die hier nur kurz vorbeischauen und dann nichts mehr tun, damit sich etwas ändert."

EU-Abgeordnete Theresa Bielowski

„Ohne private Spenden, Freiwillige und Orte wie Paréa wäre das soziale Gefüge der Insel längst kollabiert“, befindet Doro Blancke, Gründerin des gleichnamigen Flüchtlingshilfevereins. Im Unhcr-Büro in Mytilini – die nächste Station – fällt wenig später ein ähnlicher Satz. „Wir arbeiten am friedlichen Zusammenleben“, sagt Danilo Valdiviezo, „Associate Protection Officer“, bevor er ein paar Zahlen, Daten und Fakten an die Wand projiziert: 4.749 Menschen kamen zwischen Jänner und Mai über das Mittelmeer nach Griechenland, die Hälfte davon landete auf Lesbos. Mittlerweile zeigt die Kurve steil nach oben, und man zählt auf Lesbos über 400 Ankünfte binnen einer Woche (28. August bis 3. September 2023).

"Es wird jeden Tag schlimmer. Europa darf nicht mehr wegschauen."

Doro Blancke, Flüchtlingshelferin und NGO-Gründerin

Als der Tag in einer Taverne ausklingt und Flüchtlingshelfer und NGO-Vertreterinnen der angereisten EU-Abgeordneten erzählen, was sich hinter den Kulissen alles abspielt, wird klar, was sich beim Rundgang durch das Camp zeigte – die Hitze, die Enge, das grelle Licht, das fehlende Fließwasser, der Stress in der Essensschlange, das untätige Warten –, aber auch, was man alles nicht zu sehen bekommt: hunderte Flüchtlinge, die seit Wochen auf ihre Registrierung warten; die unzureichende medizinische Versorgung, den Mangel an Übersetzern, die Willkür und die Übergriffe, für die nie jemand zur Rechenschaft gezogen wird, die Angst der Frauen in der Nacht.

Von „besorgniserregenden Versorgungslücken“ spricht Nihal Osman, Projektkoordinatorin der Organisation "Ärzte ohne Grenzen" auf Lesbos.

Enge Gassen zwischen Flüchtlingscontainern

Zwei Wochen nach der Lesbos-Reise gerät die italienische Mittelmeerinsel Lampedusa in die internationalen Schlagzeilen. Der Stadtrat ruft den Notstand aus, nachdem innerhalb eines Tages mehr als 5.000 Migranten in Booten angekommen sind. Auch in Lesbos steigt die Zahl der im Camp untergebrachten Menschen. Sie liegt zu Redaktionsschluss bei über 4.000. Kürzlich sollen Steine auf das Registrierungspersonal geflogen sein.

Vor wenigen Tagen schlug die Organisation „Ärzte ohne Grenzen“ Alarm: Von „besorgniserregenden Versorgungslücken“ spricht Nihal Osman, Projektkoordinatorin auf Lesbos. Die EU-Abgeordnete Bielowski richtet eine dringliche Anfrage an die EU-Kommission. Betreff: Dringende Maßnahmen zur Verbesserung der Situation im Flüchtlingscamp auf Lesbos. Und die Flüchtlingshelferin Blancke schreibt: „Es wird jeden Tag schlimmer. Europa darf nicht mehr wegschauen.“

Edith   Meinhart

Edith Meinhart

ist seit 1998 in der profil Innenpolitik. Schreibt über soziale Bewegungen, Migration, Bildung, Menschenrechte und sonst auch noch einiges