Israel: Anleitung zum Alleinsein

Von Robert Treichler
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Die ganze westliche Welt stand geeint an Israels Seite, nachdem die Hamas am 7. Oktober 2023 das größte Massaker an Jüdinnen und Juden seit dem Zweiten Weltkrieg verübt hatte. Alle Regierungen waren sich in ihrer Solidarität mit Israel einig, trotz aller Vorbehalte gegenüber der Politik von Premierminister Benjamin Netanjahu. Israel bekam diplomatische und politische Unterstützung – und Waffen. Wieder einmal zeigte sich eine der größten Stärken des jungen, 1948 gegründeten Staates: seine Verbündeten. Die israelischen Streitkräfte (IDF) zogen in den Krieg gegen die Hamas, und Israel wusste den gesamten Westen – die USA, die EU, Kanada, Australien und viele mehr – hinter sich.
Das war vor 19 Monaten.
Jetzt ist Israels Image in der internationalen Gemeinschaft nicht wiederzuerkennen.
Was sich seit Monaten abgezeichnet hat, eskalierte in den vergangenen Tagen. Angesichts der dramatischen Versorgungslage in Gaza durch die Blockade aller humanitärer Lieferungen durch Israel seit Anfang März und wegen der beginnenden neuerlichen Offensive der IDF legten Israels Verbündete ihre Zurückhaltung ab.
Die Staats- und Regierungschefs von Frankreich, Großbritannien und Kanada, Emmanuel Macron, Keir Starmer und Mark Carney, bezeichneten Israels Vorgehen in Gaza in einem gemeinsamen Statement als „völlig unverhältnismäßig“ und drohten unverblümt: „Sollte Israel die erneute Militäroffensive nicht einstellen und die Beschränkungen der humanitären Hilfe nicht aufheben, werden wir mit weiteren konkreten Maßnahmen reagieren.“
Protest gegen Kriegsführung
22 westliche Staaten, darunter 17 Mitgliedstaaten der EU – auch Deutschland und Österreich – veröffentlichten am Montag eine gemeinsame Erklärung, in der sie „zwei unmissverständliche Botschaften“ an die israelische Regierung richteten: „Genehmigen Sie unverzüglich die vollständige Wiederaufnahme von Hilfslieferungen in den Gazastreifen und ermöglichen Sie es den VN und den humanitären Organisationen, unabhängig und unparteiisch ihre Arbeit zu verrichten, um Leben zu retten, das Leid zu lindern und die Würde der Menschen zu wahren.“ Auch die Außenbeauftragte der EU, Kaja Kallas, unterzeichnete dieses Schreiben.
Innerhalb der EU sammelt sich eine wachsende Zahl von Mitgliedstaaten, die Israels Kriegsführung nicht länger tatenlos zusehen wollen. 17 Staaten sprachen sich für eine rechtliche Überprüfung des Assoziierungsabkommens zwischen der EU und Israel aus – gemeint ist damit eine Beurteilung, ob Israel die in Artikel 2 verlangte Einhaltung des Völkerrechts respektiert. Österreichs Außenministerin Beate Meinl-Reisinger befürwortete nach Auskunft ihres Kabinetts die Überprüfung, spricht sich jedoch nicht für eine Kündigung des Abkommens aus.
„Genehmigen Sie unverzüglich die vollständige Wiederaufnahme von Hilfslieferungen in den Gazastreifen …“
Aus einer gemeinsamen Erklärung 22 westlicher Staaten
Einzelne Staaten wollen noch weiter gehen. Schwedens Außenministerin Maria Malmer Stenergard sprach sich für Sanktionen gegen einzelne israelische Minister aus, und die britische Regierung suspendierte Gespräche über ein Freihandelsabkommen mit Israel. Frankreich und Saudi-Arabien wiederum planen im Juni eine Konferenz in New York, bei der sie und weitere Staaten Palästina als Staat anerkennen wollen.
„Ein diplomatischer Tsunami“
All das zusammengenommen ist ein politisch-diplomatisches Desaster für Israel. Die Regierung in Jerusalem sei damit „noch stärker isoliert, wie ein Paria-Staat, der einige seiner engsten Freunde in Europa verliert“, kommentierte Maya Sion-Tzidkiyahu, Direktorin des Programms für israelisch-europäische Beziehungen am Mitvim Institut, gegenüber der Tageszeitung „Haaretz“. Ein „diplomatischer Tsunami“ komme auf Israel zu, so die Politologin.
Der Regierung ist das schmerzlich bewusst, und sie versucht gegenzusteuern. Die Blockade der humanitären Hilfslieferungen ist offiziell aufgehoben, allerdings werde nur eine „Basis-Menge an Lebensmitteln“ zugelassen. Bisher sei das nach Ansicht der internationalen Gemeinschaft jedenfalls deutlich zu wenig.
Der Grund für seinen Sinneswandel sei laut Netanjahu auch nicht etwa die sich anbahnende Hungersnot, sondern die Gefahr, dass die Versorgungslage die aktuelle Militäroffensive gefährden könne. Zudem plant Israel gemeinsam mit den USA eine neue Art der Lebensmittelverteilung. Anstelle der bisher rund 400 Verteilungsstellen von NGOs und Vereinten Nationen solle es nur noch vier bis fünf – für zwei Millionen Menschen – geben. Diese Zentren sollten dezidiert nicht von den bisher bekannten humanitären Organisationen betrieben werden, sondern von der neu gegründeten und von Israel und den USA unterstützten „Gaza Humanitarian Foundation“ (GHF). Der Plan sei, nicht etwa alle Gebiete in Gaza zu versorgen, sondern lediglich einen eingeschränkten Bereich im Süden.
Unter anderem dagegen richtet sich die erwähnte gemeinsame Erklärung der 22 westlichen Staaten.
Wann immer jemand Kritik an der israelischen Vorgangsweise äußert, bringt die Regierung Netanjahu eine erprobte Abwehrwaffe in Stellung: den Antisemitismus-Vorwurf. Den bekamen in den vergangenen Monaten so ziemlich alle UN-Organisationen ab, dazu die Regierungen von Südafrika, Irland, Spanien, Frankreich, Großbritannien und viele mehr, weiters der Internationale Gerichtshof (IGH) und der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) sowie zahllose Einzelpersonen. Doch diese Taktik stößt neuerdings an ihre Grenzen.
War es bisher schon wenig überzeugend, allen Genannten antisemitische Motive oder auch „antiisraelische Besessenheit“ (Netanjahu über die Regierung Starmer) zu unterstellen, so wird dies angesichts der immer lauter werdenden Kritik von allen Seiten nahezu aussichtslos. Vorvergangenen Sonntag veröffentlichten 45 Intellektuelle – zum Teil jüdischer Herkunft – in der französischen Wochenzeitung „La Tribune Dimanche“ einen offenen Brief, um dagegen zu protestieren, was den Palästinensern angetan werde, und sie fügten hinzu, weshalb sie dies taten: „aus Sorge um die Seele Israels“.
In Österreich protestierte die Jüdische Hochschülerschaft in einem Posting auf der Plattform Instagram gegen die von Netanjahu angekündigte militärische Offensive, da „diese Eskalation die palästinensische Zivilbevölkerung massiv gefährdet“, und sie verurteilte die Drohung, „den Gazastreifen ethnisch zu säubern“.
Trump rückt von Netanjahu ab
Von profil um eine Stellungnahme zu diesem Posting gebeten, schrieb der in Israel geborene österreichische Schriftsteller Doron Rabinovici, er sei „immer froh über diese jüdische Jugend. Das sind die jungen Leute, die mutig ihre Meinung sagen und klar zur Existenz Israels stehen, doch zugleich weiterhin auf Frieden und Verständigung setzen“. Antisemiten sehen anders aus.
Aber wenn alle ringsum Netanjahus Kriegsführung verurteilen, bleibt Israel immer noch die bedingungslose Unterstützung der USA. Oder vielleicht doch nicht?
Sich auf Donald Trump zu verlassen, ist eine riskante Strategie, denn der US-Präsident agiert bekanntlich sprunghaft. Im März dieses Jahres schlug er vor, die USA könnten „Gaza übernehmen“, die palästinensische Bevölkerung absiedeln und den Küstenstreifen in eine lukrative „Riviera“ verwandeln. Umgehend ließ Netanjahu eine Abteilung im Verteidigungsministerium einrichten, die sich seither um die „freiwillige Ausreise“ von Palästinensern kümmert.
Doch zuletzt rückte Trump von Netanjahu ab. Auf seiner Nahost-Reise vergangene Woche ließ er Israel aus und beklagte stattdessen öffentlich, dass die Bewohner von Gaza „hungern“. Der Präsident habe „sehr klar gemacht, dass er will, dass der Konflikt in dieser Region ende“, sagte Karoline Leavitt, die Sprecherin des Weißen Hauses, am Montag dieser Woche.
Benjamin Netanjahu hat sein Land aus der Sphäre grenzenloser Solidarität heraus und hinein in die bittere Isolation geführt. Die immer neuen militärischen Offensiven haben keine Geiseln befreit – diese kamen in der überwältigenden Mehrheit nach Verhandlungen und im Austausch gegen palästinensische Gefangene frei. Die Lebensmittelblockade brachte gar nichts, außer Gaza an den Rand einer Hungerkatastrophe und Israel auf dramatische Weise in Verruf.
Plan zur völkerrechtswidrigen Vertreibung
Bisher deutet nichts darauf hin, dass Netanjahu einen neuen Weg beschreiten könnte. Die Offensive ist im Gange, die Hilfslieferungen sind unzureichend, und die Absicht, Gaza dauerhaft zu besetzen, hat der Regierungschef bekräftigt. Schließlich braucht er weiterhin die Unterstützung ultranationalistischer Regierungsmitglieder.
Die verfolgen einen Plan zur völkerrechtswidrigen Vertreibung, den sie nicht verheimlichen: Gaza werde „innerhalb von ein paar Monaten völlig zerstört sein“, kündigte Finanzminister Bezalel Smotrich laut einem Bericht der Zeitung „Haaretz“ bei einer Siedlerkonferenz Anfang Mai an. Die palästinensische Bevölkerung werde auf einem schmalen Streifen im Süden, nahe der Grenze zu Ägypten, „konzentriert“, der Rest des Landes werde „leer“ sein. Die Bevölkerung von Gaza werde „total verzweifeln und einsehen, dass es in Gaza keine Hoffnung mehr gibt, und Ausschau halten nach einer Umsiedlung, um anderswo ein neues Leben zu beginnen“.
Im Westjordanland wiederum führte Smotrich in dieser Woche mittels Regierungsbeschluss eine Möglichkeit zur Registrierung von Landbesitz ein, die helfen soll, (jüdische) „Siedlungen auszubauen“. Laut Smotrich übernehme der Staat Israel damit „Verantwortung als permanenter Souverän“. Eine stille Annexion also.
Die israelische Regierung folgt unbeirrbar einer Anleitung, die in die diplomatische Einsamkeit führt.

Robert Treichler
Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur