A man stands in front of a damaged shop in Tel Aviv, after it was hit by a rocket fired by Palestinian militants from the Gaza Strip on October 7, 2023. Palestinian militant group Hamas launched a surprise large-scale attack against Israel on October 7, firing thousands of rockets from Gaza and sending fighters to kill or abduct people as Israel retaliated with devastating air strikes. JACK GUEZ / AFP
Nahost-Konflikt

Protokolle des Terrors

Opfer des Hamas-Terrors und deren Angehörige berichten, was sie am 7. Oktober erlebten. Vier Protokolle des Grauens.

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„Mama, sie schießen auf mich!“

Am Samstag um halb neun Uhr früh schickt Rimon Kirsht eine Sprachnachricht an ihre Eltern. Seither wird sie vermisst.

Rimon Kirsht wohnt mit ihrem Ehemann in Nirim, einem Kibbutz direkt an der Grenze zu Gaza. Sie ist 36 Jahre alt und hat ihr ganzes Leben in dieser Gegend, im Süden Israels, verbracht. Knapp über 400 Leute leben in Nirim. Jeder kennt jeden, die meisten sind zusammen aufgewachsen.

Rimon Kirsht

wurde am 7. Oktober um 6.30 Uhr von Sirenen geweckt. Eine halbe Stunde später standen Terroristen der Hamas vor ihrem Haus.

Am Samstag, den 7. Oktober um 6.30 Uhr wird Rimon Kirsht von Sirenen geweckt. Das ist hier, wenige Kilometer von der Grenze zu Gaza entfernt, nichts Ungewöhnliches. Immer wieder feuert die Hamas Raketen auf Israel ab, die meist abgefangen werden. Kirsht sucht wie immer in solchen Fällen Zuflucht im so genannten Safe Room ihres Hauses, dem Raum, der bei Raketenangriffen den besten Schutz gewährt.

Plötzlich, gegen sieben Uhr, hört Kirsht Schüsse. Erst denkt sie, es seien israelische Soldaten, dann folgt der Schock: Sie erkennt arabische Wortfetzen, und auf ihrem Handy empfängt sie alarmierende Nachrichten von ihren Nachbarn: Terroristen seien in den Kibbutz eingedrungen.

Ich liebe euch! Es tut mir leid, dass ich nicht bei euch sein kann!

Rimon Kirsht

Um 7.10 Uhr schreibt Kirsht an ihre Mutter, die in einem anderen Kibbutz ebenfalls in einem Safe Room Schutz gesucht hat, dass zwei Terroristen vor ihrem Haus seien.

7.31 Uhr: Vor Kirshts Haus liefern sich Terroristen und Security-Männer des Kibbutz ein Gefecht.

8.00 Uhr: Ein Feuer ist ausgebrochen.

8.04 Uhr: Kirsht meint, Panzer auszumachen. Sie täuscht sich, die israelische Armee wird erst viel später auftauchen.

8.26 Uhr: „Mama, sie schießen auf mich, die Fenster sind zerbrochen“. Die Mutter schreibt an Kirsht, sie solle sich ruhig verhalten. Kirsht antwortet, sie liege auf dem Boden und versuche sich zu verstecken.

8.30 Uhr: Kirsht schickt eine Sprachnachricht an ihre Eltern: „Ich liebe euch! Es tut mir leid, dass ich nicht bei euch sein kann!“

Das ist der letzte Kontakt. Von diesem Zeitpunkt an schreibt Kirsht nicht mehr und geht nicht ans Telefon.

Stunden später hält jemand aus dem Kibbutz in Kirshts Haus Nachschau. Die Räume sind mit Patronenhülsen übersät, überall Einschusslöcher. Und Blut. Kirsht ist verschwunden.

Ihre Cousine sagt, Kirsht liebe Tiere, Pflanzen und Musik. Ein Foto zeigt sie mit zwei Katzen und vier Hunden in ihrer Wohnung. Sie habe ein beschauliches Leben geführt, keine aufregende Karriere angestrebt und die einfachen Dinge des Lebens genossen. „Sie hat niemandem etwas getan“, sagt die Cousine. Die Familie hat den israelischen Behörden alle notwendigen Informationen über Kirsht übermittelt. Jetzt können sie nur warten, sagt die Cousine und spricht aus, was sie vermuten: dass Kirsht entführt und nach Gaza verschleppt wurde.

Sind noch weitere Bewohner des Kibbutz abgängig? „Viele“, sagt die Cousine.

„Mein Sohn musste sehen, wie seine Freunde abgeschlachtet werden“

Raz Shmilovich wischte das Blut seiner Nachbarn auf. Jetzt zieht er als Soldat in den Krieg gegen die Hamas.

Am 7. Oktober kniet Raz Shmilovich, 47, spätabends am Boden und versucht bei schwachem Licht vergeblich, das Blut seiner Nachbarn aufzuwischen. Shmilovich ist mit dem Sohn des getöteten Ehepaars seit vielen Jahren befreundet, und er will ihm den schrecklichen Anblick ersparen. Die beiden sind durch mehrere Kopfschüsse zur Unkenntlichkeit entstellt. Shmilovich ist in die Wohnung gekommen, um eine Haarbürste oder eine Zahnbürste zu holen, damit seine Nachbarn mittels DNA-Analyse zweifelsfrei identifiziert werden können. 

Samstag früh ging der Alarm los, „und ich wusste, es ist keine Übung, es hat überall geknallt“, erzählt Shmilovich, der gerade mit drei seiner vier Söhne ein wenig außerhalb des 1000-Seelen-Grenzortes Netiv Ha‘asara zum Camping war. Er rannte auf einen Hügel, um besseren Handyempfang zu haben – und seine Whatsapp-Gruppen waren schon voll mit grauenhaften Bildern aus seiner Gemeinde. Den 17-jährigen Sohn hatte er dort zurückgelassen. Shmilovich, im Brotjob Touristenführer, ist Reservist des Militärs und Teil einer schnellen Verteidigungseinheit, die sich in seinem Ort aufgrund der Grenznähe zu Gaza gegründet hatte. Er schnappte seine Waffen und rannte zurück, um die Terroristen zu neutralisieren.

Am Ende waren in der Gemeinde 19 tote Israelis zu beklagen – einige Bewohner sind noch immer abgängig. Am Abend holte Shmilovich seinen Sohn aus dem Luftschutzbunker. Er hatte dort 10 Stunden lang verharrt, die Raketen und Schüsse gehört. „Mein Sohn ist da alleine gesessen und musste zusehen, wie seine Freunde abgeschlachtet werden. Die Hamas hatte viele der Taten mit Bodycams gefilmt und auf Telegram verbreitet.“

Was die Hamas am 7. Oktober getan hat, ist in unserer Geschichte beispiellos.

Raz Shmilovich

In Shmilovich’ Dorf liegen am Dienstag der abgelaufenen Woche noch die Leichen in den Straßen. Sie konnten nicht beerdigt werden, weil das Militär den Ort evakuierte. Seine Familie ist in Sicherheit – und Shmilovich auf dem Weg in den Krieg. Als er mit profil telefoniert, fährt er gerade mit dem Auto zu seinem zugewiesenen Einsatzort, auf dem Beifahrersitz liegt ein Sturmgewehr. „Ich muss einrücken. Ich habe meine Uniform nicht holen können, sie ist zu Hause. Aber jetzt ist Krieg.“ Er werde Teil der Gegenoffensive sein, erzählt er. „Was die Hamas am 7. Oktober getan hat, ist in unserer Geschichte beispiellos. Sie haben Menschen in ihrem Zuhause überfallen und abgeschlachtet. Viele wurden gekidnapped. Alte, Frauen, Kinder und Kranke wurden getötet. Frauen wurden vergewaltigt.  Wenn wir jetzt keine eindeutige Antwort darauf geben, werden wir die Wurzeln des Bösen nie abschneiden. Es tut mir weh, zu wissen, dass es noch mehr Menschenleben kosten wird. Aber es ist alternativlos.“

„Die Hamas stiehlt die Zukunft eurer und unserer Kinder“

Alon Alsheichs paradiesischer Kibbuz wurde innerhalb weniger Stunden zur Hölle.

Alon Alsheich sagt, sein Zuhause sei normalerweise ein kleines Paradies. Schöne Natur und liebenswerte Nachbarn. Doch normal ist im Kibbuz Nir Am, drei Kilometer entfernt von Gaza, seit vergangenen Samstag gar nichts mehr.

Um 6.30 Uhr morgens ging der Alarm los. „Wir haben dann 15 Sekunden, um in den Safe Room zu rennen“, sagt der 47-jährige Tech-Unternehmer. Soweit nichts Ungewöhnliches im Grenzgebiet zu Gaza. Wer in dieser Gegend lebt, für den gehören Bombenalarme zum Alltag, bisher ist jedoch nur sehr selten auch tatsächlich etwas passiert. „Aber wir merkten schnell, es ist nicht die übliche Belästigung. Es ist etwas Größeres.“ Hunderte Raketen prasselten auf diesen Landstrich herunter. 

Auf Whatsapp sah Alsheich, was in den Nachbargemeinden los war. Abschlachtungen. Exekutionen. Terroristen. Lastwagen und Panzer. „Dann fiel der Strom aus, und wir waren quasi blind.“ Zwei Mal wagte er sich in diesen Stunden voller Angst noch aus dem Schutzraum. Einmal, um Essen für seine beiden Söhne (13 und 15) zu holen. Ein weiteres Mal, um einen Hammer und ein Messer zu besorgen. „Damit wir uns irgendwie verteidigen können. Wir sahen sie von Haus zu Haus gehen.“ Irgendwann kam der Strom zurück und Alsheich traute sich aus dem Haus. Sein Kibbuz war „wie durch ein Wunder“ verschont geblieben. Der Stromausfall hatte dafür gesorgt, dass die Tore nicht aufgingen. Dutzende Terroristen waren an den Pforten von Sicherheitskräften erschossen worden. „Überall lagen ausgebrannte Autos mit Leichen.“

Mein Sohn will von mir eine Waffe. Kein 15-Jähriger sollte eine Waffe haben. So haben wir ihn nicht erzogen

Alon Alsheich

Mittlerweile werden die Meldungen, dass Freunde und Bekannte getötet oder verschleppt wurden, ständig mehr. „Mein Sohn hat auf TikTok gesehen, wie sein Freund aus dem Basketball-Team brutal ermordet wurde. Ich kann nichts tun, außer ihn zu umarmen. Er will von mir eine Waffe. Kein 15-Jähriger sollte eine Waffe haben. So haben wir ihn nicht erzogen“, sagt Alsheich.

Trotz allem glaubt er, dass es eine Lösung gibt: „Ich will den Menschen in Palästina etwas sagen: Wir haben die Hand ausgestreckt. Wir wollen Frieden. Aber die Hamas stiehlt euch die Zukunft, die Zukunft eurer Kinder und die unserer Kinder. Wenn ihr nichts tut, werdet ihr durch israelische Raketen sterben und der Schmerz wird noch größer. Das ist die Zeit, um sich zu wehren. Und wenn das palästinensische, unterdrückte Volk die Courage aufbringen kann, sich zu wehren, wird es eines Tages auch funktionieren und mein einstiges Zuhause wird wieder mein Paradies sein.“

„Wir wussten nicht, woher die Kugeln kommen“

Yonathan Diller und Nadav Morag wollten am Nature Party Festival tanzen. Dann kamen die Terroristen der Hamas.

Das Nature Party Festival auf dem Gelände des Kibbuz Re’im war eines der ersten Ziele, als Kämpfer der Hamas Israel angriffen. Die Terroristen ermordeten mehr als 260 junge Menschen und entführten zahlreiche weitere. Yonathan Diller und Nadav Morag aus Tel Aviv konnten den Mördern entkommen. „Wir wollten nur zusammen lachen, neue Leute kennenlernen und tanzen. Doch was als friedliches Musikfestival begann, endete als Horrorfilm“, sagt Morag.

Noch in der Dunkelheit machen sich Yonathan Diller und Nadav Morag am Samstag, 7. Oktober, auf den Weg zur Hauptbühne des Nature Party Festivals in Israel. Den Sonnenaufgang gegen 6.30 Uhr können sie nur kurz bewundern: „Wir waren beim Rave, als wir die Raketen gehört haben“, erzählt Diller. Die Musik verstummt, die Polizei weist die Festivalbesucher an, ihre Sachen zu packen und abzureisen. „Wir haben versucht, hinauszukommen, aber es waren Tausende Personen auf dem Festival“, sagt Diller. Die beiden stecken bei ihrer Flucht vor der Hamas im Stau fest.

Um 7.20 Uhr kommt ihnen auf der engen Straße, die vom Festival wegführt, ein Wagen mit einer Verletzten entgegen. Der jungen Frau wurde ins Knie geschossen. Diller, Morag und ein paar andere Festivalbesucher versuchen, die Blutung zu stoppen. Dann hören sie Gewehrschüsse. Die Terroristen verhindern mit Waffengewalt, dass ihre Opfer mit dem Auto fliehen. Diller und Morag lassen ihr Fahrzeug stehen und folgen zwei Securities zu einem nahegelegenen Fluss. Über ihren Köpfen fliegen die Raketen der Hamas. Immer wieder fallen Schüsse: „Wir wussten nicht, woher die Kugeln kommen. Wir waren nicht einmal sicher, ob Israelis oder Terroristen schießen.“

Wir wurden gerettet, während die Terroristen der Hamas mehr als 260 Menschen am Festivalgelände abschlachteten.

Yonathan Diller

Eine Stunde lang dauert der Kugelhagel an. Die beiden jungen Männer verstecken sich, legen sich bei Schüssen auf den Boden und laufen in Feuerpausen von einer Deckung zur nächsten. Gegen 9.30 Uhr hören sie keine Kugeln mehr, nur noch den Knall abgefangener Hamas-Raketen über ihren Köpfen. Sie gehen weiter. Ohne Wasser, Essen oder klarem Ziel, Hauptsache weg von Gaza. Gegen 11.30 Uhr erreichen Diller und Morag das nächstgelegene Dorf. Freiwillige helfen den beiden rasch. „Wir hatten viel Glück“, sagt Diller und schluckt: „Wir wurden gerettet, während sie mehr als 260 Menschen am Festivalgelände abschlachteten. Von den Leuten, mit denen wir gezeltet haben, haben wir immer noch nichts gehört. Manche von ihnen gelten als vermisst. Sie wurden wahrscheinlich entführt.“

Diller ist amerikanischer, italienischer und israelischer Staatsbürger. Der 28-Jährige müsste nicht für Israel an die Front, wird seiner Einberufung aber folgen: „Ich will meinem Land dienen und es verteidigen.“ Die Hamas habe gezeigt, dass sie nicht anders als die Terroristen des Islamischen Staates (IS) sei, sagt Diller: „Sie haben alle Grenzen überschritten. Aber wir werden gewinnen. Wir müssen stark bleiben, unsere Köpfe hochhalten und unsere Leute zurück nach Hause bringen.“

Anna  Thalhammer

Anna Thalhammer

ist seit März 2023 Chefredakteurin des profil. Davor war sie Chefreporterin bei der Tageszeitung „Die Presse“.

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur

Max Miller

Max Miller

ist seit Mai 2023 Innenpolitik-Redakteur bei profil. Hat ein Faible für visuelle Kommunikation, schaut aufs große Ganze und kritzelt gerne. Zuvor war er bei der "Kleinen Zeitung".