Nahost-Konflikt

Terror-Angriff auf Israel: Schwerter aus Eisen

Wie die Hamas Israels Streitkräfte überraschte und diese zurückschlugen. Chronik einer Woche, die den Nahen Osten verändert.

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Freitag, 6. Oktober

Die israelischen Streitkräfte (Israel Defense Forces, IDF) wünschen auf ihrem englischsprachigen Kanal beim Kurznachrichtendienst X „Happy Holiday“. Simchat Tora ist das Freudenfest für die Heilige Schrift des Judentums. Kinder erhalten Süßigkeiten, es wird getanzt. Heuer fällt der Beginn des Festes auf den 7. Oktober.

Samstag, 7. Oktober

Der Angriff der Hamas beginnt um 6.30 Uhr Ortszeit mit einem Raketenhagel. In der ersten Welle schießen die Terroristen von Gaza aus 2200 Raketen ab. „Sie haben uns überrascht und sind schnell von vielen Orten gekommen – aus der Luft, auf dem Boden und vom Meer“, wird Major Nir Dinar, Sprecher der IDF, später erklären.

Kurz bevor die Terroristen auf Motorrädern, Pick-up-Trucks und mit Gleitschirmen nach Israel eindringen, registrieren israelische Nachrichtendienste laut „New York Times“ erhöhten Traffic in elektronischen Netzwerken in Gaza. Eine Warnung an die Grenzposten wird abgesetzt. Ob sie ignoriert wurde oder nicht ankam, ist unklar. Drohnen der Hamas werfen Granaten auf Kommunikationseinrichtungen, Kameras, Wachtürme und ferngesteuerte Schussanlagen der Israelis ab. Bulldozer und Sprengladungen schlagen Schneisen in die Grenzmauer und Zäune. Hochmoderne Merkava-Kampfpanzer der israelischen Armee werden zerstört. Die Terroristen nehmen erste Stützpunkte des israelischen Heeres ein, etwa beim Grenzübergang Erez. Soldaten werden noch in ihren Unterkünften erschossen. Auch hochrangige Offiziere der IDF fallen an diesem Tag, wie Oberst Jonathan Steinberg, Kommandant der Nahal Brigade.

Nur langsam formieren sich Truppen zum Gegenangriff. Luftunterstützung durch die israelische Air Force bleibt aus. Und auch in den Zentralen der Streitkräfte in Tel Aviv wird die Tragweite des Angriffs erst spät erfasst.

In den Kibbuzim am Gazastreifen wie Be'eri, Kfar Aza oder Re'im warten die Einwohner auf ihre Soldaten. Sie verschanzen sich in Schutzbunkern. Dutzende werden als Geiseln genommen. Es sind Stunden, in denen einzelne zu Helden werden. Im Kibbuz Nir-Am organisiert die 25-jährige Inbal Lieberman die Verteidigung gegen die Terroristen. Der muslimisch-israelische Sanitäter Awad Darawshe kümmert sich während des Angriffs auf das Rave-Festival in der Negev-Wüste nahe Re’im um Verwundete – und wird erschossen. Im Kampf stirbt auch der bekannte Regionalpolitiker Ofir Liebstein, der sich für den Ausgleich mit den Palästinensern einsetzte.

Zu Mittag wendet sich Premierminister Benjamin Netanjahu in einer TV-Ansprache an die Öffentlichkeit: „Wir sind im Krieg.“ Die israelischen Streitkräfte starten die Operation „Eiserne Schwerter“.

Sonntag, 8. Oktober

In den Siedlungen nahe dem Gazastreifen kämpfen IDF-Einheiten immer noch gegen die Hamas. Das Verteidigungsministerium zieht Zehntausende Soldaten zusammen. Auf dem Gelände des Rave-Festivals finden Helfer 260 Tote. Sie müssen mit Lastwagen abtransportiert werden. Es fehlt an Leichensäcken. Das US-Verteidigungsministerium gibt bekannt, einen Flottenverband um den Flugzeugträger „USS Gerald R. Ford“ ins östliche Mittelmeer zu verlegen. Hamas-Führer Ismail Haniyeh erklärt, der Angriff werde sich auf das Westjordanland und Jerusalem ausweiten. Das Außenministerium in Paris warnt vor einem „Flächenbrand“ in der Region.

Am Abend schießt das israelische Abwehrsystem Iron Dome über Tel Aviv Raketen der Hamas ab. Bei israelischen Luftschlägen auf Ziele in Gaza sterben nach Angaben der palästinensischen Behörden 400 Menschen.

Montag, 9. Oktober

Die Kämpfe der IDF gegen die Hamas auf israelischem Boden sind beendet. Armeesprecher Jonathan Conricus nennt den Hamas-Angriff „einen 11. September und ein Pearl Harbour in einem“. Arnold Schwarzenegger schreibt auf seinem X-Kanal, das Leid in Israel breche ihm das Herz. In den überfallenen Siedlungen beginnt die Suche nach Opfern.

Allein im Kibbuz Be'eri werden 100 Leichen geborgen. Verteidigungsminister Yoav Gallant ordnet die Blockade des Gazastreifens an. 300.000 Reservisten werden mobilisiert.

Israels Präsident Yitzhak Herzog erklärt: „Seit dem Holocaust haben wir nicht mehr erlebt, wie jüdische Frauen und Kinder, Großeltern – sogar Holocaust-Überlebende – in Lastwagen gepfercht und in die Gefangenschaft gebracht wurden.“ In sozialen Medien wird die Geschichte von Angeline, einer philippinischen Altenpflegerin, geteilt. Statt zu fliehen blieb sie bei ihrer Patientin Nira in Kfar Aza. Beide starben. Der israelische Fußball-Vereine Hapoel Tel Aviv teilt mit, sein ehemaliger Spieler Lior Asulin sei unter den Mordopfern des Rave-Festivals.

Der Schekel fällt auf den niedrigsten Stand seit 2016. Um den Kurs zu stützen, will die israelische Zentralbank Devisenreserven verkaufen.

Im Gazastreifen befinden sich mittlerweile 137.000 Menschen in Notunterkünften der Vereinten Nationen. Laut dem UN-Hilfswerk für Palästinensische Flüchtlinge im Nahen Osten seien Einrichtungen der Vereinten Nationen in Gaza bei Luftangriffen getroffen worden.

Dienstag, 10. Oktober

Israelische Behörden haben die Grenzorte beim Gazastreifen fast vollständig evakuiert. Nur einige wenige wollen in den Kibbuzim bleiben. Wo Hamas-Angreifer die Grenzzäune durchbrachen, verlegt das Militär Minen. Ein IDF-Sprecher gibt bekannt, insgesamt wären Leichname von rund 1.500 Hamas-Terroristen gefunden worden.

Zwei hochrangige Hamas-Funktionäre, Jawad Abu Shammala und Zakaria Abu Maamar, werden bei Luftangriffen getötet.

Die ägyptischen Behörden halten den Grenzübergang Rafah zum Gazastreifen geschlossen. Hilfslieferungen stecken fest. Grund dafür seien israelische Luftangriffe in der Nähe. Der Vorsitzende der konservativ-islamischen Raam-Partei in Israel, Mansur Abbas, appelliert an die Hamas, ihre Geiseln freizulassen. Die EU-Kommission erklärt, die humanitäre Hilfe an die palästinensische Bevölkerung doch nicht aussetzen zu wollen.

Das für Donnerstag angesetzte Fußball-EM-Qualifikationsspiel zwischen Israel und der Schweiz in Tel Aviv wird auf den 15. November verschoben.

Mittwoch, 11. Oktober

Der Generaldirektor des Wiener Migrations-Thinktanks Icmpd, der frühere ÖVP-Vizekanzler Michael Spindelegger, rechnet mit einer neuen Flüchtlingswelle in Europa. Schon Ende September seien überraschend viele Palästinenser auf die griechische Insel Samos gekommen.

Der Schekel erholt sich nach dem Kurseinbruch zu Wochenbeginn.

Die Außenminister der 22 Mitgliedsländer der Arabischen Liga fordern bei einem Dringlichkeitstreffen in Kairo einen sofortigen Stopp der israelischen Angriffe auf Gaza. Regierungschef Benjamin Netanjahu erklärt, jedes Hamas-Mitglied sei „ein toter Mann“.

US-Präsident Joe Biden fordert Israel auf, trotz Wut und Verzweiflung das Kriegsvölkerrecht einzuhalten.

Donnerstag, 12. Oktober 23

Israels Oppositionsführer Yair Lapid wirft Premier Netanjahu „unverzeihliches Versagen“ vor. Dessen Notstandsregierung werde er nicht beitreten. Diese wird am Abend von der Knesset bestätigt, die umstrittene Justizreform vorerst gestoppt.

Das Außenministerium in Wien teilt mit, dass zwei weitere österreichisch-israelische Doppelstaatsbürger beim Terroranschlag getötet wurden, insgesamt sind es schon drei. Zwei weitere Austro-Israelis werden vermisst.

In einem Statement in Tel Aviv hält US-Außenminister Antony Blinken fest, ihm seien Bilder vorgelegt worden, die „von Kugeln durchlöcherte Babys, geköpfte Soldaten oder bei lebendigem Leib in Autos oder Schutzräumen verbrannte junge Menschen“ zeigen. Israelische Medien und Politiker bestätigen Berichte über geköpfte Babys.

Israels Präsident Yitzhak Herzog sagt, die Luftangriffe auf den Gazastreifen seien „keine Vergeltung“, sondern ein Kampf gegen die Hamas. Palästinenser-Präsident Mahmoud Abbas verurteilt „die Praxis, Zivilisten zu töten oder sie zu misshandeln, auf beiden Seiten“.

Der britische König Charles III. empfängt den Chefrabbiner im Vereinigten Königreich, Ephraim Mirvis, im Buckingham Palace.

Die Zahl der bei israelischen Luftschlägen auf den Gazastreifen getöteten Palästinenser liege nun bei 1354, teilt das Gesundheitsministerium in Gaza mit. Mehr als 6.000 Menschen seien bisher verletzt worden. Die Vereinten Nationen sprechen von 338.000 Vertriebenen.

Israels Luftstreitkräfte greifen syrischen Staatsmedien zufolge die Flughäfen der Städte Damaskus und Aleppo an.

Der israelische Generalstabschef Herzi Halevi räumt das Versagen der Armee ein: „Die Streitkräfte sind für die Sicherheit des Landes und seiner Bürger verantwortlich. Am Samstagmorgen sind wir dieser Verantwortung nicht gerecht geworden.“ 1300 Menschen wurden bei dem Terror-Angriff getötet, 150 als Geiseln verschleppt.

Freitag, 13. Oktober

Die Hamas hat weltweit zu Gewalt gegen Jüdinnen und Juden aufgerufen. In Irak, Iran, Jordanien, Libanon, Bangladesch und Tunesien finden Massenkundgebungen gegen Israel statt. Nach Angaben der israelischen Armee sind seit dem Massaker mehr als 6000 Raketen aus dem Gazastreifen abgefeuert worden. Israel setzte 6000 Bomben gegen Hamas-Ziele ein.

Das israelische Militär fordert die Palästinenser im nördlichen Gazastreifen auf, das Gebiet Richtung Süden zu verlassen. Laut UN-Sprecher Rolando Gomez würde dies „verheerende humanitäre Folgen“ haben. Die Hamas fordert die Gaza-Bewohner auf zu bleiben: „Wir werden sterben und nicht gehen.“

Die „Jerusalem Post“ berichtet über die gedrückte Stimmung in Tel Aviv. Bars und Restaurants bleiben leer. Super-Sal, die größte Supermarktkette des Landes, hat den Verkauf von Wasser, Brot, Milch und Eiern eingeschränkt, nachdem die Behörden empfahlen, Vorräte anzulegen.

Israelische Soldaten stoßen in kleinen Gruppen erstmals in den Gazastreifen vor. Das Verteidigungsministerium in Tel Aviv hat bei befreundeten Ländern um Blutkonserven angefragt. Der Staat Israel rüstet sich für die Bodenoffensive seiner Armee.

Gernot   Bauer

Gernot Bauer

ist Innenpolitik-Redakteur.