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Militärexperte Reisner: „Der Iran hat ein ausgeklügeltes Arsenal an Raketen“

Militärexperte Oberst Markus Reisner über die Ziele Israels im Krieg mit dem Iran, die Kapazitäten Teherans und die Frage, wem zuerst die Raketen ausgehen könnten.

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Die USA haben Israel in der Nacht auf heute Dutzende Flugzeuge zur Luftbetankung geliefert. Werden sie direkt in den Krieg gegen den Iran eintreten?

Markus Reisner

Es gab auch bei den letzten beiden Angriffen des Iran auf Israel eine Involvierung der USA, Frankreichs und Großbritanniens zur Unterstützung Israels. Jetzt geht es vor allem um Hilfe bei der Fliegerabwehr und um Logistik. In der Nacht ist eine ganze Armada von Tankern Richtung Israel gestartet. Die israelischen Kampfflugzeuge müssen rund um die Uhr in der Luft sein, auch über dem iranischen Luftraum.

Die speziellen Bunker, in denen die Atomanlagen des Iran versteckt sind, können wahrscheinlich nur amerikanische GBU-Bomben brechen.

Wieso?

Reisner

Die Israelis versuchen, sofort zu reagieren, sobald ein erkennbarer Raketenstart bevorsteht, und das geht am besten mit Kampfflugzeugen. Wenn sich irgendwo die Rampe eines Untergrundbunkers öffnet und ein Fahrzeug mit einer Rakete herauskommt, will Israel diese kritische Situation des Starts nutzen und zuschlagen, bevor die Rakete abgeschossen wird.

Stimmt es, dass nur die USA über bunkerbrechende Bomben verfügt, mit der Israel die Uran-Anreicherungsanlagen des Iran zerstören kann?

Reisner

Die USA haben hier im Westen ein Alleinstellungsmerkmal. Die sogenannten GBU-Bomben (Guided Bomb Unit, Anm.) können Ziele tief unter der Erde treffen. Sehr eingeschränkt gibt es in Europa auch ähnliche Systeme, etwa den Marschflugkörper Taurus, der könnte mithilfe eines Zünders verzögert nach Eindringen unterirdisch zünden. Doch die speziellen Bunker, in denen die Atomanlagen des Iran versteckt sind, können wahrscheinlich nur amerikanische GBU brechen.

Was kann und will Israel noch zerstören?

Reisner

Israel hat angekündigt, das Potenzial der Iraner zu zerstören, ihrerseits Israel anzugreifen. Es geht um Raketen- und Drohnenabschussbasen, um unterirdische Depots, in denen diese Waffen gelagert werden, und um mobile Raketenwerfer. Israel versucht auch, die militärische Führungsstruktur des Iran zu zerstören. Wenn Iran weiter zivile israelische Ziele trifft, wird man beginnen, die iranische wirtschaftliche Kapazität zu zerstören, wie es jetzt schon beginnt: Raffinerien, Gaslager, Förderstätten. Israel wird versuchen, Druck ausüben, damit das Volk gegen das Regime vorgeht.

Der Krieg wird wohl nicht so schnell vorüber sein. Wer hält länger durch: Israel oder der Iran?

Reisner

Das ist die Frage. Die Iraner können derzeit noch eine Angriffswelle nach der anderen starten. Israel kann mithilfe der USA und anderer Verbündeter Raketen, Marschflugkörper und Drohnen abschießen. Die Israelis haben ein dreistufiges Abwehrsystem: Iron Dome, David‘s Sling und Arrow 3, die von den Amerikanern gelieferten THAAD-Batterien (Terminal High Altitude Area Defence), sowie schiffgestützte SM (Standard Missile)-3/6 Abfangraketen. Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit.

Wem gehen zuerst die Raketen aus?

Reisner

Das kann niemand beantworten, weil sich die Variablen dieser Gleichung stetig verändern. Die Israelis haben versucht, innerhalb der ersten 48 Stunden so schnell wie möglich alle kritischen Ziele zu zerstören, also die Fliegerabwehr, Raketen und Bunkereingänge, um den Zugang des Iran zu seinen Tausenden Raketen zu begraben. Das ist bis zu einem gewissen Grad gelungen, doch der Iran ist immer noch in der Lage, Raketen abzufeuern. Die Frage ist, wie lange noch. Wie viele Raketen der Iran noch zur Verfügung hat, versucht auch der israelische Geheimdienst herauszufinden.

Können Sie einschätzen, wie groß das Arsenal des Iran ist – oder vor dem Angriff Israels war?

Reisner

Der Iran hat in den vergangenen Jahren behauptet, über bis zu 20.000 Raketen zu verfügen. Das ist Propaganda, aber die Kapazitäten sind bestimmt hoch. Niemand weiß, wie viel der Iran noch unter der Erde hat und was davon er noch starten kann. Deshalb auch die israelische Dauerpräsenz am Himmel: Um zu sehen, was am Boden geschieht – und darauf zu reagieren. Sicher ist: Der Iran hat ein ausgeklügeltes Arsenal an Raketen, das haben auch jahrzehntelange Sanktionen nicht verhindert.

Können Israel überhaupt die Raketen ausgehen? Sie werden ja nachgeliefert, allen voran von der Militärmacht USA.

Reisner

Es gibt die sogenannte Saturierung, die Übersättigung: Jedes System hat einen Punkt, ab dem es nicht mehr in der Lage ist, Angriffe abzuwehren. Israel und die USA sind sehr gut vorbereitet, und Amerika zieht in der Nähe Schiffe zusammen, um Israel zu unterstützen. Die USA produzieren weltweit am meisten Abwehrraketen. Schätzungen zufolge werden jährlich zwischen 80 und 100 THAAD-Raketen produziert und etwas weniger SM-3/6 Fliegerabwehrraketen. Sollte der Iran wirklich noch zehntausende Raketen haben und jeden Tag auf Israel feuern, dann ist auch das israelische System mit Unterstützung der USA irgendwann überfordert.

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Über welche militärischen Fähigkeiten verfügt der Iran überhaupt?

Reisner

Der Iran hat drei Fähigkeitsbereiche: Drohnen zur Überlastung der Fliegerabwehr; Marschflugkörper, die sich durch ihre geringe Flughöhe auszeichnen und ballistische Raketen. Einige davon sind von hoher technischer Qualität, das hat man beim Angriff auf Israel gesehen, wo Hyperschall-Raketen die israelische Fliegerabwehr durchbrochen haben. Das Problem: Selbst wenn von zehn iranischen Raketen nur eine trifft, ist dies schmerzhaft.

Israel hat mit einem Schlag ranghohe Kommandanten von Armee und Revolutionsgarde sowie mehrere Atomwissenschaftler getötet. Stand eigentlich der Oberste Führer des Iran Ali Khamenei im Visier?

Reisner

Man hört in US-Medien, Israel hatte einen Enthauptungsschlag im Sinn und die USA hätten ein Veto gegen die Tötung Khameneis eingelegt. Das zeigt, dass die USA sehr wohl Bescheid wussten, alles andere wäre auch seltsam. Die Israelis haben immer gesagt: Sobald der Iran kurz davorsteht, Atomwaffen fertigzustellen, werden sie zuschlagen. Denn der Iran hat stets mit der Auslöschung Israels gedroht. Die gezielten Tötungen sind das Ergebnis massiver Aufklärung der vergangenen Jahre. Die Schläge haben die Anführer teils zu Hause getroffen.

Bei einem Angriff auf einen Bunker wurde fast die ganze Führung der iranischen Luftstreitkräfte getötet. Ist der Iran militärisch ohne die von Israel getöteten Kader langfristig noch handlungsfähig?

Reisner

Das kommt darauf an, ob der Iran seine militärischen Kommandostrukturen für derartige Notfälle redundant vorbereitet hat. Zweitens ist die Frage, ob der Iran einen Plan B hat, wie er auch ohne Raketen Angriffe auf Israel starten kann. Haben sie zusätzliche Fähigkeiten, von denen Israel nichts weiß? Zum Beispiel den Einsatz von Proxys, wie den Huthis im Jemen. Wenn beide Optionen nicht der Fall sind, dann wird der Iran nur begrenzt nachhaltig Widerstand leisten können. Es dürfte zuletzt Signale dafür geben, dass der Iran bereit sein könnte, seine Angriffe für einen Waffenstillstand einzustellen. Das kann aber auch eine Folge dessen sein, dass Entscheidungsträger nicht mehr am Leben sind.

Bemerkenswert ist, dass es in den letzten Stunden bereits Flüge aus China in den Iran gegeben haben soll.

Israel hat auch Atomwissenschaftler gezielt getötet. Ist das Know-How damit zerstört?

Reisner

Das Atomprogramm hat dadurch massiv Schaden erlitten. Material, Ausrüstung und Gerät kann man trotz Sanktionen im Laufe der Zeit wieder besorgen. Doch Wissenschaftler sind schwerer zu ersetzen.

Israel erhält Unterstützung von den USA und anderen Partnern. Gibt es Länder, die dem Iran helfen?

Reisner

Es gibt Berichte, wonach Pakistan sich aufseiten des Iran stellen könnte. Doch es ist schwer zu beurteilen, ob es sich dabei um Propaganda handelt. Noch ist kein Raketentyp aufgetaucht, der für Israel eine Überraschung wäre, wir sehen noch keine großen Player aufseiten des Iran. Interessant werden könnte die Rolle Russlands, das allein wegen der steigenden Ölpreise zu den Gewinnern dieses Konflikts zählt. Ob Moskau den Iran unterstützen wird? Hier müssen wir abwarten, denn das wäre eine weitere Angriffsfläche. Es gibt ein Kooperationsabkommen mit dem Iran, aber es ist unklar, was das bedeutet, denn Russland hat mit seiner Front in der Ukraine genug zu tun.

Russland wird seine Raketen kaum an den Iran abgeben, weil es sie selbst zur Terrorisierung der Ukraine braucht.

Reisner

Richtig. Nur: Wenn die militärischen Kapazitäten des Iran so weit unter Druck geraten, dass die Angelegenheit zur Überlebensfrage wird und sie einen Partner brauchen, dann könnte Russland durchaus ins Spiel kommen – und im Hintergrund auch China. Peking hat den Angriff Israels auf den Iran rasch verurteilt.

Steht China wirklich aufseiten des Iran?

Reisner

Offiziell nicht, und es gibt auch keine Anzeichen für eine militärische Unterstützung Chinas. China könnte wie im Falle Russlands durch die Lieferung von elektronischen Baugruppen unterstützen. Bemerkenswert ist, dass es in den letzten Stunden bereits Flüge aus China in den Iran gegeben haben soll.

Wird der Iran sein Atomprogramm jetzt umso rascher weiterfahren, um so rasch wie möglich eine Bombe zu bauen?

Reisner

Das wird man erst im Nachhinein beurteilen können. Klar ist: Wenn ein Staat die Auslöschung eines anderen Staates als sein Ziel angibt, dann ist das nicht tolerierbar. Das hat Israel immer gesagt. Solange dieses Ziel bleibt, sehe ich nicht, wie Israel darauf verzichten kann, das Bedrohungspotenzial des Iran anzugreifen.

Ist das Thema Abrüstung am Ende? Israel griff den Iran unmittelbar vor geplanten Verhandlungen für einen Atomdeal mit den USA an. Wieso sollten sich Diktaturen und Autokratien mit nuklearen Bestrebungen überhaupt noch auf Verhandlungen einlassen?

Reisner

Wir sind wieder mitten im 19. Jahrhundert, wo es nur um militärische Stärke geht. Das Völkerrecht wird nicht mehr ernst genommen, die Welt gerät aus den Fugen. Wenn die USA nicht mehr als Garant dafür stehen, dass Abkommen eingehalten werden, dann macht jeder, was er will. Pakttreue, Verhandlungen, die Vereinten Nationen werden marginalisiert. Eine Eskalation folgt auf die letzte, und es wird immer schlimmer. Es ist wie im Wilden Westen, und der Sheriff hat die Stadt verlassen. Und jene die sich darüber freuen, denen sei gesagt: niemand weiß, wer die Rolle des Sheriffs in Zukunft übernehmen wird.

Brechen Länder das Völkerrecht, ist auch das neutrale Österreich gefordert, Maßnahmen und Entscheidungen der EU solidarisch zu unterstützen.

Welche Rolle kann Österreich spielen?

Reisner

Wir sind spätestens von dem erwartbaren Anstieg der Rohstoffpreise betroffen, das holt uns auch in Österreich massiv ein. In der österreichischen Sicherheitsstrategie steht unmissverständlich: Brechen Länder das Völkerrecht, ist auch das neutrale Österreich gefordert, Maßnahmen und Entscheidungen der EU solidarisch zu unterstützen.

In dem genannten Absatz geht es im Prinzip darum, dass unsere Neutralität uns nicht dazu berechtigt, uns aus allem herauszuhalten, als würde es uns nichts angehen.

Reisner

Es ist uns als friedliebende Bevölkerung zuwider, mit diesen schrecklichen Dingen konfrontiert zu werden. Wir denken am liebsten nicht darüber nach, was wäre, wenn uns das betreffen würde, denn wir könnten uns nicht gegen Raketen schützen. Man denkt nicht daran, weil es unangenehm ist, und redet sich ein, dass uns so etwas niemals geschehen könnte. Natürlich hoffen wir das, aber wir können es nicht ausschließen. Wenn die Welt unruhiger wird, wenn auf die USA kein Verlass mehr ist, dann müssen wir unser Schicksal in die eigene Hand nehmen. Tun wir das nicht, werden wir leicht zum Opfer.

Sie meinen, wir müssen aufrüsten?

Reisner

Wir sind noch nicht unmittelbar betroffen, doch die Geschehnisse sollten uns ein Warnsignal sein. Es geht um ein Nachrüsten im Sinne der Abschreckung und nicht der Aggression. Es geht um unsere Verteidigung, um den Schutz der Einwohner unseres Landes, ja, von ganz Europa.

Ich höre heraus, Sie sind nicht der Meinung, dass unsere Neutralität uns schützt?

Reisner

Wir müssen unsere Sicherheitspolitische Situation in Europa laufen und sorgfältig beurteilen. Niemand wird je sagen: die Österreicher sind neutral, und deswegen bekommen sie Öl und Gas billiger und sicher geliefert. In schlimmen Zeiten rücken die Leute zusammen, und es irritiert, wenn jemand sagt: das geht mich nichts an. Meine Sorge ist, dass wir übersehen, dass wir uns zunehmend isolieren – und es später heißt: Ihr kommt erst daher, wenn es brenzlig wird, also stellt euch hinten an.

Markus Reisner

Markus Reisner

Jahrgang 1978, ist Leiter der Forschungs- und Entwicklungsabteilung an der Theresianischen Militärakademie in Wiener Neustadt und leitet dort das Institut für Offiziersausbildung. Reisner studierte Rechtswissenschaften und Geschichte in Wien und ist Autor mehrerer Bücher. Zuletzt erschien im Kral Verlag mit „Die Schlacht um Wien 1945“ sein Buch über die „Wiener Operation“ der sowjetischen Streitkräfte im März und April 1945.

Siobhán Geets

Siobhán Geets

ist seit 2020 im Außenpolitik-Ressort.