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Missbrauch in der katholischen Kirche: Sieben dunkle Jahre

Ein Pfarrer sagt, er sei von Joseph Ratzingers Sekretär sexuell belästigt worden. Das habe er dem damaligen Kardinal gemeldet – und teuer bezahlt. profil las bisher geheime Briefe.

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Er lebe am Stadtrand von Hamburg, wo die Proleten wohnen und die Wohnungen billig sind. Mit dem „schnellen Bus“ sei man vom Bahnhof in 25 Minuten da. Außerdem halte er fast vor dem Haus, einem Wohnblock aus den 1970er-Jahren, hatte Pfarrer Michael Imlau am Telefon gesagt – und dabei mit seinem leicht näselnden Tonfall wie ein Abgesandter aus der versunkenen Welt geistreicher Bonmots, geschliffener Sätze und kostbaren, in Vitrinen ausgestellten Porzellans geklungen. 

Die Mappe sei dick, ein Konvolut von etwa 1000 Seiten. Darunter fünf Briefe. Sie stammen von Joseph Ratzinger, dem ehemaligen Erzbischof von München und Freising, dem späteren Papst Benedikt – und der neuerdings ranghöchsten, unglücklichen Figur in der kirchlichen Geschichte von Missbrauch und Vertuschung. „Wenn Sie zu mir kommen, lasse ich Sie alles lesen“, hatte Michael Imlau beim ersten Telefonat mit profil gesagt. Vergangenen Mittwoch öffnet er im sechsten Stock die Tür. Im Flur steht ein Altar, darauf eine Reliquie, die er zur Primiz bekommen hat, der vergoldete Kelch, den ihm der Probst von Klosterneuburg schenkte. 25 Jahre lang hatte Imlau Pfarreien an der Ostsee betreut. Seit er aus Altersgründen abdanken musste, zelebriere er täglich bei sich zu Hause die Messe. Im September feierte er seinen 70er. 

Im Wohnzimmerschrank stapeln sich in drei Reihen hintereinander Videokassetten mit alten Fernsehkrimis. Sein Vater, ein Verleger und Filmproduzent, hätte ihn gerne als Nachfolger gesehen. Tatsächlich habe er sich eine Weile in der aufgekratzten Branche versucht, letztlich aber habe er sich „immer nur ersehnt, Pfarrer zu werden“, sagt Imlau. Hier beginnt sich seine Geschichte mit jener von Joseph Ratzinger zu verflechten. Imlau erzählt, zitiert, schenkt Ingwertee ein, reicht ein Blatt nach dem anderen zum Lesen. Nur manchmal hält er inne. „Jetzt zittere ich fast so, als ob das alles gestern gewesen wäre“, sagt er einmal.

Die Originale der Ratzinger-Korrespondenz habe er beim Anwalt deponiert. Immer noch fühle er sich zwischen dem Wunsch nach Aufklärung und der Angst, bei der Beleuchtung der Wahrheit könnte die Kirche kaputtgehen, hin- und hergerissen. Und doch: „Jetzt, langsam auch am Ende meines Lebens, frage ich mich: Schweigt man und nimmt man alles mit ins Grab? Oder gilt der Satz der Heiligen Schrift: ‚Die Wahrheit wird euch freimachen?‘“ 

Die Schreiben, die Imlau Anfang der 1980er-Jahre an Ratzinger verfasste, und die Antworten, die er vom damaligen Erzbischof von München und Freising erhielt, fehlen in dem Bericht, der vergangene Woche öffentlich wurde. Sie fügen sich aber ins Bild. Es geht darin um den angehenden Priester Michael Imlau, der von Ratzingers engstem Mitarbeiter sexuell bedrängt wird. „Der Mann glaubte, mich ein bisschen gewaltsam nehmen zu müssen, um in mir Bedürfnisse zu wecken, von denen er glaubte, dass sie geweckt werden könnten“ – so formuliert es Imlau. Auf Drängen seines Beichtvaters habe er den Vorfall beim Kardinal gemeldet. Der zudringliche Sekretär wurde bald darauf Regens im Münchner Priesterseminar. Und mit Ratzinger entspann sich besagter Briefwechsel. Erst 1988 wird Imlau geweiht. Es habe ihn „sieben Jahre, sieben Wochen“ gekostet, nicht den Mund gehalten zu haben, sagt er. 

Die Vorgeschichte: Im April 1977 kommt Imlau ins Priesterseminar in München, wo damals ein fortschrittlicher Regens waltete. Kurz zuvor wird Ratzinger Erzbischof von München und Freising. Seine Ernennung ist spektakulär. Der Dogmatik-Professor aus Regensburg war zuvor nicht einmal Weihbischof. Er gilt als Signal aus Rom, dass die „Modernisten“ nun mit Gegenwind zu rechnen haben. Imlau war als bekennender „Verehrer Ratzingers und seiner Theologie“ zunächst entzückt von der Aussicht, unter seiner Ägide „als kleiner Priester irgendwo meinen Beitrag für das Reich Gottes zu leisten“. 

Im Priesterseminar sei er Ratzinger und seinem „bischöflichen Geheimsekretär“, wie der engste Vertraute genannt wurde, erstmals begegnet. Kurz darauf sei es zu einem Treffen im bischöflichen Palais gekommen, bei dem der Sekretär ihm eröffnet habe, „er würde mich wahnsinnig nett finden und eine Beziehung mit ihm würde mir nützen“. Er, Imlau, habe abgewehrt, er sei der Meinung, „wenn man keine Beziehung mit Frauen haben dürfe, dürfe man erst recht keine mit Männern haben“.

Daraufhin habe ihn der Mann als „nobel“ bezeichnet, ihm aber abgesprochen, als Studienanfänger etwas von Moraltheologie zu verstehen. „Dann schnappte er mich, küsste mich und schob seine Zunge in meinen Mund“, so Imlau. Er sei „so überrumpelt“ gewesen, dass er den Sekretär „in die Ecke geschleudert“ habe. Der Mann habe sich aufgerappelt und mit lispelnder Zunge gesagt: „Hab dich nicht so. Jeder Mensch braucht Zärtlichkeit.“

Bald darauf sei der Ratzinger-Vertraute zum Regens des Priesterseminars bestellt worden und damit zur entscheidenden Instanz für Imlaus beruflichen Weg. „Ich kriegte es mit der Angst zu tun“, sagt er. Als er beim Regens nachfragte, ob er ihn denn noch zur Weihe führen werde, sobald alle Voraussetzungen erfüllt seien, habe dieser gelacht: Er sei doch der „einzige Freund, den er (Imlau) im Priesterseminar“ habe.

Drei Jahre vergingen. Imlau schloss das Theologie-Studium ab. Seine Diplomarbeit wurde mit 1,0 bewertet. Danach habe ihm der Regens eröffnet, dass er „uneingeschränkt auf meiner Seite sei, sich jedoch sämtliche Priester, die mich sonst kennen, gegen meine Weihe ausgesprochen hätten“. Naiv, wie er gewesen sei, habe er, Imlau, das „sogar geglaubt“. 

Als er die Priester aufsuchte, die über ihn ein angeblich abschätziges Testimonium erstellt hatten, seien diese perplex gewesen: „Sie sagten, sie hätten sich eindeutig für mich ausgesprochen. Und sie haben mir Kopien der Gutachten gezeigt.“ Damit habe er den Regens konfrontiert, dieser habe daraufhin die Fürsprecher diskreditiert: Der erste sei in „bedenklich vorgerücktem Alter“, der zweite ein „mieser Intrigant“ und den dritten, Imlaus Heimatpfarrer, kenne man in München nicht. Die Zeugnisse würden daher nicht gelten. „Ich begann zu entdecken, dass der Herr Regens nicht sehr ehrlich war“, sagt Imlau.

In seiner dicken Mappe sucht er nach dem Schreiben von anno 1980, mit dem er den „hochwürdigsten Herrn Kardinal“ um eine Audienz bittet. Dessen Antwort kommt am 26. November 1980 und enthält laut Imlau eine versteckte Warnung: „Ich wundere mich, dass Sie mich um eine Audienz bitten“, schreibt Ratzinger. Und: „Ich muss allerdings darauf hinweisen, dass Vermischungen zwischen Forum internum und Forum externum vermieden werden müssen.“ Für jene, die in der katholischen Hochdiplomatie nicht firm sind, sei das mit „Ich weiß, was Sie mir erzählen werden, aber ich will es nicht hören!“ zu übersetzen. 

Am 3. Dezember 1980 kommt es zu dem Gespräch. Imlau schildert es so bildhaft, als wollte er Produzenten für ein Drehbuch gewinnen. Ratzinger sei „abwechselnd weiß und rot geworden, er nahm seinen Ring ab, drehte ihn, steckte ihn an den Finger, und sagte, druckreif wie immer: ‚Herr Imlau, der Vorwurf der Homosexualität gegen den hochwürdigsten Herrn Regens ist mir selbstverständlich seit langer Zeit bekannt. In der Vergangenheit habe ich den Abstreitungen des Herrn Regens stets Glauben geschenkt. Nun, da erneut jemand mit diesen Vorwürfen zu mir kommt, werde ich diese auf das Sorgfältigste untersuchen. Sie werden verstehen, dass Ihre Eignung zum Priestertum nur gegeben sein kann, wenn sich die Schwere der den moralischen Bereich betreffenden Vorwürfe als stichhaltig erweist.‘“ Er, Imlau, habe gestottert: „Eminenz, das ist doch selbstverständlich. Wer in so einem Fall lügen würde, wäre in keinem Fall für das Priestertum geeignet.“ Kühl habe Ratzinger erwidert: „Danke! Haben Sie noch etwas zu sagen?“ Und als er hoffte, der Kardinal würde ihm nun den Ring zum Kuss reichen, habe dieser die Hände hinter dem Rücken verschränkt. 

Nach dem Treffen herrschte Funkstille, bis Imlau sich ein Herz fasste und bei Ratzinger schriftlich auf eine Entscheidung drängte. Am 23. Jänner 1981 schreibt der Kardinal zurück: Nun sei er zum Ergebnis gekommen, „dass die den Bereich der Moral betreffenden Behauptungen (…) als einwandfrei widerlegt gelten dürfen, sodass ein Grund für ein Eingreifen für mich nicht gegeben ist. Ich bitte Sie, dies zur Kenntnis zu nehmen und die betreffenden Behauptungen daher auch nicht mehr zu wiederholen.“

Ratzinger gibt wie ein Verbrecher vor dem Staatsanwalt immer nur das zu, was man ihm gerade eben nachgewiesen hat.

Michael Imlau

Pfarrer in Hamburg

Was Imlaus Berufung angehe, habe er seine bisherigen Stationen durchgearbeitet und sei zur Auffassung gelangt, „dass das Priestertum nicht Ihr Weg sein kann“. Am 16. Februar 1981 wendet sich Imlau erneut an seine „Eminenz“ und „hochwürdigsten Herrn Kardinal“: Da er alle Voraussetzungen für das Priestertum erfülle, „neige ich der Annahme zu, dass meine Ablehnung ihren eigentlichen Grund in den Informationen über den hwst. (hochwürdigsten, Anm.) Regens hat, die ich glaubte, Ihnen mitteilen zu müssen“. Er habe lange vor diesem Schritt gezögert. Die Gewissensverpflichtung durch den Beichtvater „wog schließlich schwerer als die Sorge, mir selber zu schaden“. 

Danach habe Ratzinger den Beichtvater hinausgeworfen. Der Regens wird beurlaubt. Mitstudenten berichten Imlau aus einer Veranstaltung im Georgianum. Dort habe der Kardinal erklärt, er habe den „hochwürdigsten Herrn Regens“ aufgrund eines einzigen „dunklen, unglaubwürdigen Primärzeugen“, von dem er fürchten müsse, dass er erneut „zuschlage“, abberufen müssen. Darüber beschwert Imlau sich in einem Brief vom 6. März 1981; und er bietet Ratzinger an, vor einem „staatlichen Gericht“ auszusagen, „da ich keine Möglichkeit einer beruflichen Tätigkeit sehe, solange ich ungerechte Behauptungen im Raum stehen sehe, die mich als unglaubwürdig und widersprüchlich hinstellen“.

Seine Verzweiflung sei groß gewesen, so Imlau: „Es stellten sich Depressionen ein und der tiefe Wunsch, dass mir Gott dieses Leben nehmen möge. Ich sehnte mich nach dem Tod. Nur, ihn mir selber zu geben, verbat mein Glaube.“ Er habe sich „überall beworben“ und überall eine Abfuhr bekommen, „nachdem mit Kardinal Ratzinger gesprochen wurde“. Ein Seelsorger habe ihm geraten, es mit der „David-Schleuder“ zu versuchen. Gemeint war der Rosenkranz. Damit öffneten sich Türen, an die der Mensch nicht denke. Es sei kein Jahr vergangen, da habe sich ein ehemaliger Mitstudent gemeldet, der bei den Augustiner Chorherren in Klosterneuburg gelandet war: „Schau dir das an, hier kannst du Priester werden.“ Die Aussicht, „mit über den Kopf gezogener Kutte und Strick um den Bauch mit Blechlöffeln aus einer gemeinsamen Suppenschüssel zu essen“, sei ihm wenig reizvoll erschienen. „Bei uns läuft es anders“, habe der Novize gelockt. 

Imlau geht nach Klosterneuburg. Bei seiner Einkleidung zieht der Prälat mit einer mehrere Meter langen Schleppe zum Pontifikalhochamt ein, die ihm der jüngste Novize in Schnallenschuhen tänzelnd hinterherträgt. „Das ist ja wie im Sissi-Film“, habe seine protestantisch geprägte Mutter ausgerufen. Er arbeitet als Hilfsseelsorger und wird 1988 im Wiener Stephansdom geweiht – „sieben Jahre und sieben Wochen“ nachdem er, wäre in München alles planmäßig verlaufen, geweiht worden wäre. Es seien „sieben dunkle Jahre gewesen“, sagt Imlau. Ein Bekannter ruft an, im Fernsehen laufe gerade wieder etwas über den Ratzinger-Bericht. Kaum ist das Telefonat zu Ende, echauffiert sich Imlau, Ratzinger gebe „wie ein Verbrecher vor dem Staatsanwalt nur zu, was man ihm gerade eben nachgewiesen hat“.  

Auch in Klosterneuburg ruht die Vergangenheit nicht. Rom stellte das Stift, das zu den reichsten in Europa gehört, nach halbherzig aufgearbeiteten Missbrauchsvorwürfen unter Kuratel. Wieder berühren sich die Geschichten. Zum päpstlichen Delegaten wurde der deutsche Bischof Josef Clemens bestellt. Er war lange Ratzingers rechte Hand. Clemens betraute den Justitiar des Bistums Fulda mit Recherchen. Dieser wiederum meldete sich bei Imlau an dessen 70. Geburtstag. Anfang November reiste der Mann nach Hamburg. „Er ließ sich ein Glas Wasser reichen, Kaffee und Kuchen hat er abgelehnt, um nicht den Anschein von Bestechlichkeit zu erwecken“, erzählt Imlau.

Der Untersuchungsrichter habe „sehr nüchtern, ordentlich und geradlinig“ nach all den Themen gefragt, die im Stift lange unter den Teppich gekehrt wurden – von der obskuren Weihe eines pädophil veranlagten Ordensmannes in Rumänien über die Rolle, die der spätere Propst im Hintergrund gespielt haben könnte, bis zu Missbrauchsvorwürfen gegen hochrangige Chorherren. Vieles war erst nach Recherchen der deutschen „Initiative gegen Gewalt und sexuellen Missbrauch an Kindern und Jugendlichen e.V.“ und profil publik geworden. Was die jüngsten Nachforschungen des Justitiars zutage fördern, ist offen. Maximilian Fürnsinn, seit Mitte des Vorjahres Administrator in Klosterneuburg, hofft, „irgendwann einen Schlussstrich“ zu ziehen. Befunden wird darüber allerdings in Rom. Hier ist das letzte Wort ausständig.

Edith   Meinhart

Edith Meinhart

ist seit 1998 in der profil Innenpolitik. Schreibt über soziale Bewegungen, Migration, Bildung, Menschenrechte und sonst auch noch einiges